Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 98 im Original

2 Paolini

Das Ensemble sieht aus, als stünde es in einem Schaufenster eines Herrenausstatters. Auch Schaufenster sind Ausstellungsräume, sind Bühnen für den Auftritt dessen, was gesehen werden soll. Die Formen der Präsentation im Schaufenster wurden den Bühnenbildnern abgeguckt beziehungsweise den Museen, soweit es um die demonstrative Hervorhebung der Kostbarkeit von Objekten geht. Im Schaufenster soll das Objekt identifizierbar werden durch die Hervorhebung der Entscheidung, warum dieses bestimmte Objekt unter vielen anderen ausgewählt wurde. Zur Identifizierung gehören Hinweise auf den möglichen Gebrauch des Objekts durch den Käufer, auf die bestimmte soziale Situation, den Grad der vom Nutzer erwarteten Bereitschaft, seiner Rolle gemäße soziale Normen zur Geltung zu bringen.
Auf dieser Ebene erkennen wir in den Einzelheiten von Paolinis Ensemble: Stühle, die nach Stil und Material aus einem herrschaftlichen Salon des 19. Jahrhunderts stammen könnten sowie die zerstreuten Teile eines Gesellschaftsanzugs, der als Frack den höchsten Grad an normiertem und ritualisiertem Gesellschaftsverhalten signalisiert. Das Ensemble macht den Eindruck, als habe jemand in dem Salon eine sehr turbulente Szene gemacht. Stühle sind umgestürzt, die Gemälde von den Wänden gerissen beziehungsweise aus ihrer vorgegebenen Hängung mutwillig verschoben. Schließlich hat sich dieser Jemand seines Ritualgewandes entledigt und die Einzelteile (Handschuhe, Hemd, Fliege, Kragen, Hose etc.) wild um sich her geworfen.
Durch den Titel des Werkes werden wir zu der Annahme genötigt, daß Ikarus hier seinen Auftritt hatte; der Vorgang im Salon wird als Sturz beschrieben. Der Sturz des Ikarus erweckt in uns als Bildtopos bestimmte Assoziationen: die jugendliche Vermessenheit, die ihrer Kraft und ihrem Willen mehr traut als den objektiven Gegebenheiten dieser Welt. Der Sturz des Ikarus assoziiert den unbedingten Willen, das Unmögliche dennoch erreichen zu wollen, und das schließliche Scheitern solchen Verhaltens.
Aber wie kommt Ikarus in einen Salon des 19. Jahrhunderts? Er ist ganz offensichtlich jemand, der sich einerseits auf die gesellschaftlichen Rituale (vor allem die der Oberschichten) einläßt, ihnen dann aber nicht gewachsen ist, oder sie in Wut und Scham über seine eigene Anpassungsbereitschaft zu zerstören versucht. Dieser Sachverhalt ist uns aus der Erörterung der Beziehungen des Künstlers zur Gesellschaft beziehungsweise den Spitzen der Gesellschaft, die zugleich seine Auftraggeber und Kunden sind, vertraut. Um Kontakt zu Auftraggebern und Kunden herzustellen beziehungsweise zu erhalten, muß der Künstler Anpassungsbereitschaft zeigen. Um die sich selbst gestellte Aufgabe als Künstler zu erfüllen, muß er aber gleichzeitig jeder Vereinnahmung durch die Gesellschaft Widerstand entgegensetzen.
Wenn man nicht gerade ein Goethe ist und Verdächtigungen aller Art gelassen hinnehmen kann, dann wird dem normalen Künstler die Vermittlung beider Ansprüche schwerfallen. Er wird in Konflikte geraten, die sich nur in solchen Szenen entladen können, die Paolini als Sturz des Ikarus kennzeichnet. Das Ensemble bietet uns also Anlaß, die Tasso-Problematik, vielleicht in der Form wie Goethe sie bearbeitet hat, zu entwickeln. Eine der ansonsten leeren, aber aufgezogenen und grundierten Leinwände zeigt im linken Bildvordergrund eine aus dem Frackärmel hervorragende Hand, die zwischen Daumen und Zeigefinger ein Blatt Papier, nicht viel größer als eine Visitenkarte, hält: in der Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Rituale gelingen dem Künstler nur leere Phrasen. Der Versuch, seine eigenen Vorstellungen in diesem Rahmen tatsächlich zur Sprache zu bringen, wird sogleich abgebrochen. Seine Auftraggeber und Kunden sind an ihm nur insoweit interessiert, als er wie sie sich als Rollenspieler aufführt. Daß auch das Toben Tassos, auch der radikalste Ausbruchversuch des Künstlers noch als von ihm erwartetes Rollenspiel gewertet wird, läßt den Konflikt für den Künstler so aussichtslos erscheinen, daß ihm nur Tod oder Wahnsinn als angemessene Reaktionen übrigbleiben. Sind künstlerische Höhenflüge bewußt unternommene Akte der Selbstzerstörung? Höhenflüge zu den Sternen, der Sphäre der Götter? Die Leinwände sind mit Zeichen für Planeten und Götter, Farbwerte und Charaktereigenschaften gekennzeichnet. Acht Bürger saßen als die neuen Herren der Welt auf den Stühlen; sie haben die Götter auf Gemälde gebannt; bloß noch leere Größen. Daß der Künstler ihnen dabei half, macht seine Schuld aus.