Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 64 im Original

17 M. Merz, Rainer

Im unverkrampften Zugriff der Alltagserfahrung auf die Kunst nimmt man den Spiraltisch von Merz als ein ausgefallenes Möbel an, mit dem man sich doch gern einrichten würde. Das aparte Zusammenspiel der Materialien (Glas, Stahl, Sandstein und Holz) signalisiert seit 50 Jahren modernes Gestalterbewußtsein. Die Ungewöhnlichkeit der Form sollte im modernen Design Leistungen des Dekorativen ersetzen. Dekor ist tabu in der Moderne, und doch ist es das eigentlich Interessante. Denn Dekor bringt die Grenzlinien zur Sprache, die zwischen unterschiedlichen Gestaltungsansprüchen bestehen.
Seit die Einheit des Stils aufgehoben wurde und der hohe Abstraktionsgrad des Design alles mit allem vereinbar werden läßt, gibt es diese spannungsvollen Grenzen zwischen verschiedenen Ausdrucksformen nicht mehr, entsprechend langweilig sind "modern" eingerichtete Wohnungen. Da ist ein Möbel wie der Tisch von Merz schon ein stimulierter Eingriff ins intellektuelle Pathos der Nacktheit zwischen weißen Wänden, wie es alles "Moderne" ausstrahlt. Postmoderne in Architektur und Design bringt die Ereignishaftigkeit dekorativer Gestaltung zurück.
Daß das Dekorative nicht bloßes Oberflächenfinish als Zugabe ist, sondern tatsächliche Vermittlung zwischen dem Widersprüchlichen, zeigt sich an den Verfahren, mit denen Merz sein heterogenes Ausgangsmaterial zur Werkeinheit zusammenschließt. Er sichert die Verknüpfung durch das Ordnungsgefüge, das man erhält, wenn man in folgender Weise Einheiten in Beziehung setzt: 1 + 1 = 2, 1 + 2 = 3, 2 + 3 = 5, 3 + 5 = 8, 5 + 8 = 13 usw.; das ist die Fibonacci-Reihung, die Merz für eine Konstante der Natur hält, sichtbar in der Windung des Schneckenhauses wie im Spiralnebel und in den eigenen Werken.

Sogar der Tourist ist in der Lage, die für jedes Urteil notwendigen Vorurteile zu aktivieren, sobald er auf den Namen oder die Arbeiten von Rainer stößt. Die Feuilletons ließen ihn gern sprechen, wenn er seine Wiener Kaltschnäuzigkeit und Autoaggression vom Stapel ließ, um sich als "suhlendes Malschwein" der sensationsgesättigten Erinnerung einzuprägen. Die Wiener Dekadenz der inszenierten Selbstentseelung schien unberührt das Jahrhundert der Massentötungen als aparte Variante von Künstleregoismus überstanden zu haben.
Dabei läßt sich doch Rainers Schöpfungsrausch als ziemlich konsequente Haltung eines Künstlers seinem Werk gegenüber verstehen. Er hatte wie viele Schwierigkeiten, sich mit einem Thema von anderen abzugrenzen; er fand dieses Thema in den Übermalungen. Der Protest gegen den Anspruch des akademisch Überlieferten wie der Protest gegen die menschlich verständliche, aber doch bequeme Zufriedenheit des Künstlers, bei aller Selbstkritik ein fertiges Werk geschaffen zu haben, veranlaßte Rainer zunächst, die Werke anderer Künstler zu übermalen, so daß von ihnen kaum noch etwas übrig blieb. Dann bedeckten die Schwarzübermalungen nicht mehr das gesamte Fremdmaterial, sondern traten mit ihm in kämpferische Auseinandersetzung.
In der 3. Phase benutzte Rainer sein eigenes Portrait (zumeist als Foto), um mit den Übermalungen die Furie des Verschwindens (als Zerfall und Tod) zugleich herauszufordern und zu bannen. Mit den hier gezeigten neuesten Arbeiten, die den Gestus der Übermalungen beibehalten, setzt Rainer offensichtlich zu einer erneuten Wendung an; der zeichnerische und malerische Gestus ruft im Betrachter die ihm vertraute Vorstellung der Übermalung wach, ohne daß tatsächlich Übermalungen vorlägen. Was bisher vom übermalten Ausgangsmaterial an Widerstand, Widerspruch und als Spannung den Bildern zugute kam, wird jetzt durch rein malerische Mittel (vor allem Farbcharaktere) ersetzt. Rainer auf akademischen Umwegen?