Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 45 im Original

9 Warhol * Long * Kiefer

Drei Wege, drei Mysterien, drei Entscheidungen

Ein Partycrack. Ein Reklamefachmann. Ein Führer. Ein Menschenkenner. Ein Aufklärer.

Warhol liefert drei seiner neuesten Pisspaintings, Boutiquenschönheiten, deren Oberflächenstruktur den flüssigen Ausscheidungen des Künstlers zu verdanken ist. Wo der Urin auf der Bildfolie stehenblieb, kam es zu Oxydation, die als patinafarbige Schlierwolken das Auge des Betrachters veranlassen, sich nach den passenden Möbeln umzusehen.
Eine schöne Geste: "Ich liefere, was ihr schluckt, ihr schluckt, wonach ihr süchtig seid, nämlich die erlauchten, interessanten Äußerungen eines großen Künstlers."
Das ist durchaus eine aufklärerische Position; sie radikalisiert die Erwartungen des Konsumentenpublikums, um es zu zwingen, endlich die eigenen Erwartungen unverklärt und frei von Ideologien des Künstlertums und seiner Heilssendungen zu sehen. "Das Schönste an Moskau ist McDonald's; das Schönste an San Franzisko ist McDonald's; das Schönste an Paris ist McDonald's. In Peking gibt es noch nichts Schönes." Das Interessanteste an der Kunst sind die Künstler, gell? Ja, das ist richtig. Denn schließlich geht es doch immer nur darum, daß Menschen ihr Leben bestehen. Ohne Menschen ist alles tot in der Welt, die Kunstwerke eingeschlossen. Also seht ihn an; denn der Künstler ist ein Mensch, der es mit seinen Arbeiten und seinem Verhalten fertiggebracht hat, ansehnlich zu werden. Bei ihm lohnt es sich, alles das wahrzunehmen, was man an sich selbst für bedeutungslos durchschnittlich, für banal und selbstverständlich hält. Die Banalität des alltäglichen menschlichen Lebens ist das Interessanteste. Kunst ist die ernstgenommene Banalität. Weil das Banale die stärkste Macht ist, muß man es ernstnehmen: als einziges fragloses, unangefochtenes Mysterium.


Ein Waldläufer. Ein Verschweiger. Ein Poet. Ein Naturkenner.

Ein Besucher verrückte einen Stein. Von offizieller SeIte wurde das als Störung gegeißelt. Der Besucher rechtfertigte sich mit folgenden Worten: "Long stellt Fragen an mich als Betrachter. Wenn er einen Dialog will, muß er mir auch erlauben, Fragen zu stellen; indem ich einen Stein aus der vorgesehenen Lage verschob, stellte ich an das Werk eine Frage. Jede Unregelmäßigkeit ist eine Frage nach der Regel."

Long wandert durch fernab liegende Natur und formt sie zur Landschaft um: mit minimalen Eingriffen - ein paar Steine werden in ihren Positionen verändert, aus ihrem bloßen zufälligen Nebeneinander macht Long ein zielausgerichtetes Nacheinander, bildet Reihen, die als Zeichen von Menschen für Menschen gelesen werden können. Was sagen sie? Dies ist eine Welt, in der Menschen nur am Rande vorkommen. Hier hat einer von ihnen seine Vorstellungen und Gefühle auf die Natur projiziert wie einen Film auf die Leinwand; denn mehr als ein flüchtiges Bild vermag der Mensch in der Natur nicht zu sein. Ein Stein ist uneinholbar in seiner angstlosen Dauer. Mit den Überlebensstrategien von Bakterien können wir es nicht aufnehmen; die Ameisen bildeten schon Staaten, als vom Menschen noch keine Rede war. Der Mensch ein Hai? Das wäre eine Herabwürdigung des Haies. Wir sind wie Gras, nur nicht so regenerationsfähig. Was wir vorn aufbauen, reißen wir mit dem Hintern wieder ein. Und Fortschritt als nicht umkehrbare Entfernung vom Ausgangspunkt? Im Vergleich mit Stonehenge ist das Observatorium von Alma Ata auch nur eine Variante! Wie schnell wir wieder hinter allen Anfang der Kultur zurückfallen könnten, weiß heute jeder. Und die Kunst?
Kein Gemälde übersteht einen kräftigen Dauerregen. Heroisch versuchten Munch, Segantini, Immendorff oder Kiefer, ihre Malwerke den Elementen zu zeigen: im Schnee des hohen Nordens, im Eis der Alpen, in Bleckede an der Elbe oder an der Fassade der Stuttgarter Staatsgalerie zur Herbstzeit. Die Leinwand schützt nicht einmal vor der Hitze, die auf ihr mit prächtigen Schneefeldern niedergehalten werden soll. Als Gauguin ins Paradies Haiti entkommen war, malte er die Winter in der Normandie. Auf die Menschen ist eben kein Verlaß. Natur ist die einzige Konstante, was sich gerade dann zeigt, wenn sie zugrunde geht. Und doch bleibt es ein Mysterium, daß die Erde auch diese Nacht wieder beständig war, daß die Sonne wie erwartet aufging und daß der Erwachte sich jeden Morgen wiedererkennt. Er sagt "ich" zu sich selbst und weiß, daß alle anderen auch "ich" zu sich sagen. Es bleibt ein Mysterium, daß sie bloß viele nebeneinander sind und doch eine Kette bilden über Tausende von Jahren zurück bis zu den Steinen, dem Licht und der Leere.


Ein Lehrer. Ein Erzähler. Ein Intellektueller. Ein Geschichtskenner.

Kiefers Position wurde kritisch, das heißt wirksam, als man ihn wegen seiner Bildthemen nicht mehr nur als Mystagogen oder Zyniker abtun konnte. Seine Themen bezog er offensichtlich aus dem germanischen Sagenkreis: die Nifflungen der Tidreksagga, das Wölund Lied, Wieland der Schmied, Edda, Parzival und andere. Das alles war ja aber Kleinod der deutschen Seele gewesen, die sich so widerstandslos den Reichsheinis ergeben hatte. Das alles war verkehrt, zerschlagen, lächerlich und gemein gemacht worden, wie Latrinenparolen der Politpolizei. Wie war das möglich? Es ging an der deutschen Krankheit zugrunde, die darin besteht, zwischen Literatur und Leben, zwischen Utopie und Realität, zwischen dem Wolkenkuckucksheim und dem deutschen Nationalstaat nicht unterscheiden zu können, nicht unterscheiden zu wollen.
Hatte nicht ein Deutscher, Heinrich Schliemann, endgültig bewiesen, daß man sogar Homers Erzählungen als direkte Handlungsanleitung für Archäologen lesen kann: mit Homer in der Hand, ihn wortwörtlich nehmend, entdeckte Schliemann tatsächlich Troja und Mykene.
Vom radikalen Wörtlichnehmen der literarischen, philosophischen und politischen Systementwürfe versprachen sich die Deutschen ein ganz einmaliges Instrument schöpferischer Weltgestaltung; und das war es denn auch, ganz einmalig, als Hitler daran ging, die bis dahin für bloße Literatur gehaltenen Rassenlehren, Natur- und Gesellschaftslehren als politische Programme Wort für Wort zu erfüllen. Wort-, begriffs- und programmgläubig waren die Deutschen wie kein anderes Volk, hatten sie doch nichts anderes gemeinsam als große Worte; die anderen, vor allem die Franzosen und Engländer, ergriffen ganz unprogrammatisch jede Gelegenheit und jedes Stückchen Kolonialwelt, das sich ihnen bot. Sie hatten etwas in Händen, wir bestenfalls etwas im Kopf, nämlich große Worte. Die konnten wir dann für eine Realität halten, wenn wir mit Fiktionen und Spekulationen so umgehen würden, wie andere Völker mit Land und Meer.
Also lasen wir jede Literatur und Kunst daraufhin, wie wir sie leben könnten. Himmler sah sich ganz ernsthaft als Reinkarnation von Heinrich dem Löwen; jeder wahrhaft deutsche Deutschlehrer hielt sich für den Gralskönig und jeder Gruppenführer für König Artus; die Schwangeren fühlten sich als heldengebärende Urmutter, und der stempelschwingende Bürokrat schmiedete Verbote wie Siegfried das Schwert.
Von diesem Mißverständnis befreiten uns 1945 nicht die Sieger. Wenn wir überhaupt ein wenig davon befreit wurden, zwischen Fiktion und Realität nicht nur eine Beziehung wie zwischen Bauplänen und Bauausführung zu sehen; wenn wir etwas weniger programm- und begriffsgläubig geworden sein sollten, dann verdanken wir das der Radikalität der Nazis. Die realisierten ihre literarischen Fiktionen so 150%ig, daß selbst weniger Wachen ein kleiner leuchtender Zweifel aufgehen mußte.
Kiefer (wie Syberberg oder Immendorff und einige der jungen Wilden) bemüht sich, die verständliche Tabuisierung solcher Literatur und Künste unserer Geschichte aufzubrechen, zumal die Auswirkungen der Herrschaft von Literatur als Leben in der NS-Zeit als Teilung Deutschlands, ja die der Welt noch spürbar sind.
Klingen nicht schon Namen von Orten in der Mark Brandenburg, obwohl nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, wie die Namen altdeutscher Erzählungen? Kossenblatt, Freienwalde, Oranienburg, Löwenburg; geschichtliche Ferne in räumlicher Nähe.
Fremd ist alles und kann nur als Erzählung, als Geschichte vergegenwärtigt werden: auf immer vorbei und verloren, gerade deshalb aber unvergeßlich. Aufklärung heißt nicht, eine Falschheit durch eine vermeintliche Wahrheit zu ersetzen, die sich allzu schnell auch als Falschheit erweisen kann. Aufklärung heißt, der Vielwertigkeit und Vieldeutigkeit aller menschlichen Äußerungen eingedenk zu sein. Allein der akzeptierte Zwiespalt von Größe und Niedertracht, von Heldenmut und Hosenscheißerei, von Ergriffenheit und Eiseskälte, von Mitleid und Totschlägermentalität schützt vor unwiderrufbaren Entschlüssen.
Auch Künstler sind Tätertypen, aber es macht den Unterschied ums Ganze, ob einer eine literarische, künstlerische Fiktion im Atelier mit Formen, Farben und totem Material realisiert oder ob er Lebensrealität mit Menschen als Material formt.
Die künstlerische Bedeutung der einzelnen Werke Kiefers bemißt sich danach, ob in ihnen diese Zwiespältigkeit der Appelle, die Vieldeutigkeit und Vielwertigkeit der Formulierungen sich spürbar auf den Betrachter übertragen oder nicht. Nach Fontane (mit seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg vor 100 Jahren) vermochte kein Künstler, die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als geschichtlichen Raum wieder so spürbar werden zu lassen wie Kiefer, meine ich.
Das auffällige Material, Sand, Erde, Stroh, verkohltes Holz, Blei, rostiges Eisen, und die Wahl des Farbklimas vermitteln ähnliche Kraft, wie sie Beuys aus seinen Materialien zieht: güldenes Haar und gelbes Stroh, verkohltes Holz und Namenlosigkeit, Namenslitaneien und Erstarrung der Seele, Ackerfurchen und fruchtlose Weite, Bewußtheit und Schleier des Traums und immer ein ferner Horizont; nur, was für immer verloren ist, bleibt ganz Besitz. Das ist das Mysterium der Geschichte als Gegenwart.