Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 41 im Original

8 UM DIE ECKE

Andre * Charlton * Lüpertz (und Barry)

Ich streike - aber das braucht Sie ja nicht zu berühren. Den Andreschen Block von 6 x 16 quadratischen Zedernholzbalken präsentiert man uns im hinteren Raumteil wie abgestellt und nicht wie vorgezeigt. Um nämlich den Block als Plastik minimaler Wirkungsfaktoren tatsächlich mit Bezug auf den Raum wahrnehmen zu können, hätte die Decke des Raumes ebenso geschlossen sein müssen wie die Oberfläche des Blocks. Jetzt, hier, entsteht keine Parallelität von Innen und Außen, von Block und Raum; Körperlichkeit des Raumvolumens und Räumlichkeit des festen Blocks können kaum in Beziehung treten. Die Zementdecke mit Balken und Leitungen zerfetzt Raum und Block. Nicht einmal simple gedankliche Operationen werden möglich: wie verändert sich das Raum-Körper-Verhältnis, wenn man den Block in der hinteren Raumecke vertikal geschichtet vorstellt? Relativ spannend bleibt nur die Beobachtung, daß wir das vom Raum provozierte Bedürfnis, ihn horizontal ganz nahtlos mit weiteren Blöcken der gleichen Größe zu füllen (die rechts bestehende Lücke zwischen Block und Wand zu schließen), nicht befriedigen können. Vielleicht ist aber auch das nur ein zufälliges Angebot, weil man die Abweichung der amerikanischen Maße des Blocks von den europäischen Maßen des Raums nicht bedacht hat, als man den Block auswählte?

Ich streike wieder: mit den "grau" buchstabierenden Tafeln von Charlton kann ich nichts anfangen. Das "Gefühl, die Stimmung, die Idee", denen Charlton vom 16. Lebensjahr an in allen seinen Arbeiten gefolgt sein will, teilt sich mir nicht mit. Es kann ja sein, daß wir alle immer nur den gleichen Stimmungen, Ideen und Gefühlen unterliegen, aber versuchen sollten wir doch, auch etwas zu lernen und ein wenig mehr zu verstehen als mit 16 Jahren. Außerdem würden sich ja Charltons Stimmungen und Gedanken nur insoweit mitteilen, als sie auch meine Gedanken zu werden vermögen. Ich aber nehme an mir durchaus die unterschiedlichsten Stimmungen, Ideen und Gedanken wahr. Wenn laut Charlton das Entscheidende ist, daß er immer den gleichen Stimmungen, Ideen und Gedanken gefolgt sei, so bleibt dies Entscheidende prinzipiell unvermittelbar, denn das Ununterscheidbare ist bedeutungslos.
Aber als Haltung eines Künstlers respektiere ich, was Charlton als unvermittelbar hinstellt: die fast unmenschliche Anstrengung, sich ausschließlich auf das eigene Tun zu konzentrieren mit dem Risiko, immer weniger von der Welt zu begreifen. Wo das schiere Durchhalten des eigenen Ansatzes zum zentralen Antrieb eines Künstlers wird, ist er erst dann ein Beispiel für andere, wenn er durchgehalten hat. Charlton ist erst knapp über 30 Jahre alt.
Bei dieser Gelegenheit eine generelle Bemerkung: Wir sehen auf der d 7 und ähnlichen Ausstellungen ja immer nur Momentaufnahmen aus der Arbeit von Künstlern. Konventionsgemäß verlangt man von Kunstwerken, daß sie auch völlig abgelöst von der Entwicklungsgeschichte des Künstlers und der seiner Kollegen betrachtet und genutzt werden können sollen.
Gerade deswegen fragen wir uns aber, wie solche Autonomie des Einzelwerks möglich werden kann; und sind somit doch wieder auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Künstler verwiesen.
Wieso scheinen wir hier weitgehend ohne Bezug auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Künstler auskommen zu können? Weil wir die Werke als Hinweis auf Haltungen und Einstellungen, auf Positionen verstehen, die gegenwärtig überhaupt von Künstlern eingenommen werden können; und dabei ist es weniger wichtig, welcher bestimmte Künstler gerade welche Position einnimmt. Natürlich werden wir damit den einzelnen Künstlern nicht gerecht; aber auch die d 7 wird ihnen nicht gerecht, denn dazu wären umfangreiche und geschlossene Präsentationen der Œuvres von Künstlern nötig.
Wenn es um die Dokumentation der heute überhaupt von Künstlern eingenommenen Positionen geht, könnte man Rudis Hängekonzept als Versuch werten, die verschiedenen Positionen durch wechselnde Konfrontationen sichtbar und erfahrbar werden zu lassen. Nicht Chamberlain und Penck führen einen Dialog, sondern in einigen Arbeiten beider werden ähnliche Positionen sichtbar. Nicht Charlton und Lüpertz arbeiten sich aneinander ab, sondern in der Konfrontation ihrer Arbeiten werden völlig unterschiedliche Positionen sichtbar, die auch ganz andere Künstler betreffen.
Also das Frageraster: liegen ähnliche oder unterschiedliche Positionen vor? Aber: Unterschiedlichkeit stellt man anhand dessen fest, was den verglichenen Positionen gemeinsam ist! Ähnlichkeit stellt man anhand dessen fest, was den Positionen nicht gleichermaßen zukommt. Über welche Gemeinsamkeiten läßt sich die Unterschiedlichkeit der Positionen von Charlton und Lüpertz feststellen? Ganz allgemein: beide sind Maler! Weniger allgemein, beide folgen rücksichtslos, ja brutal, ihren Stimmungen, Ideen und Gedanken.
Lüpertz macht jedoch deutlich, daß seine Stimmungen etc. Reaktionen auf Probleme sind, die von außen, aus der Gesellschaft, der Politik und Kultur herausfordernd an ihn herantreten. Im Unterschied zu Charlton reagiert Lüpertz und zwar jeweils anders in seinen Malereien. Man erkennt ihn in "Triumph" von 1980 kaum wieder (in den drei weiteren Bildern auf der d 7 fast auch nicht). Das ist schon ein Triumph, sich von leicht identifizierbaren Reaktionsschemata abgelöst zu haben. Wer in seinen Arbeiten nicht mehr oder weniger einfach als Maler identifizierbar ist, kommt in unserem Kulturbetrieb leicht in Verdacht, keine Position zu halten. Wer sie aber durchhält, wird der Einfallslosigkeit und Unfähigkeit zur Entwicklung bezichtigt. Beides kann für den Künstler gleich gefährlich sein.
Der "Triumph" ist offensichtlich auf dem Fußboden und nicht auf der Wand gemalt worden: Schuhsohlenabdrücke sind links seitlich und im unteren Teil des Bildfeldes erkennbar. Von oben, etwa von einer sehr hohen Leiter herab, das entstehende Bild zu kontrollieren, hat andere Eigentümlichkeiten, als sie beim Zurücktreten von einer Wand zur Geltung kommen. Das optische Gewicht von Farbkörpern und Farbflächen wird von oben her anders wahrgenommen als in Augenhöhe an einer Wand (erinnern Sie sich an einen Blick durch einen Glasfußboden, oder vergleichen Sie den Blick aus einem Flugzeug nach unten mit der Betrachtung einer Luftaufnahme an einer Wand).
Der Titel "Triumph" wird von Lüpertz angeboten (links unten auf dem Teil der Leinwand, der nicht durchgearbeitet wurde, aber als Bodentuch nun zum Gemälde gehört). Wir können mit dem Titel auch dann arbeiten, wenn er mit dem hier angesprochenen Problem gar nichts zu tun haben sollte. So, von außen gesehen, besteht der Triumph darin, aus (zumal auf dem Boden) unentschiedenen, gleichgewichtigen Gestaltungseinheiten des Bildes jene im Zentrum, in weiß überhöhtem Feld stehende Figur herausgearbeitet zu haben. Das als Triumph zu erkennen, ist für einen Laien und Nichtmaler fast unmöglich, weil er nicht einmal ahnt, welche Entscheidungen gegenüber dem eigenen malerischen Tun notwendig sind, um eine derartige Festlegung des dominierenden Zentrums zu erreichen. Zudem: Es ist auch ein Triumph in anderer Hinsicht, nämlich selber einen Bildgedanken durchdacht zu haben, der von Malern der 50er Jahre so gründlich bearbeitet worden ist, daß jeder heutige Maler fürchten muß, als Plagiator oder Variantenabstauber abgetan zu werden, wenn er sich diesen historischen Vorbildern stellt.
Am begreiflichsten wäre der "Triumph" in einem von der Hängung nahegelegten Verständnis! Die "Moderne" rebellierte gegen die seit dem 15. Jahrhundert vorherrschende Auffassung des Bildes/Gemäldes als "Fenster" und gegen den Malduktus als Ausdruck. Wie hat man sich abgemüht, endlich nur noch auf der planen Fläche zu malen! Charltons Tafeln sind auch die am radikalsten verschlossenen Flächen, die nicht einmal über die kleinsten Unregelmäßigkeiten des Farbauftrags dem Auge Veranlassung bieten, Ausdruck oder Raumvorstellungen zu assoziieren. Nichts als die Demonstration von Flächigkeit. Ironisch macht Lüpertz klar, daß diese Auffassung ein schöner Irrtum war, den die jungen Wilden weidlich auskosten. Der Urwald verschlingt die Abstrakten (bei Lüpertz als 50er-Jahre-Repräsentanten). Die afrikanische Skulptur im Zentrum feiert den Triumph über die Verleugner des Bildes. Außerdem: Ein Triumph wäre es, ein derart riesiges Format bewältigt zu haben, ohne bloß gezielt einen Ausstellungsschinken abzuliefern. Viele d 7-Künstler sind dieser Versuchung erlegen. Je größer das Format, desto wachsamer sollte der Betrachter sein!

zu Barry:

Hinweis: Gute Gelegenheit, sich nach der Lüpertzschen Überdosis wieder auf Normalpegel der Wahrnehmungsfähigkeit zu bringen, bietet der kleine Raum hinter der Lüpertz-Wand. Robert Barry zeigt dort vier Bildfelder: auf einem Fenster, auf der Wand und an der Wand sowie ein "Geräuschstück" per Lautsprecher. Die in Worten ausgeschriebenen Appelle "Stell Dir vor" oder "Fahre fort" oder "Hör zu", gelten vor allem einem Sachverhalt: der Verästelung und Verwurzelung aller unserer Vorstellungs- und Gedankentätigkeit. Die Wahrnehmungen über die verschiedenen Sinneskanäle arbeiten immer gleichzeitig nach antrainierten Mustern. Befreien Sie sich (wie im Traum) von diesen Automatismen durch Isolation und Abkoppeln des Sehens vom Hören, der Vorstellung von den Gedanken. Erfrischt werden Sie Ihre Sinne wieder betätigen können.