Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 26 im Original

6 Beuys

Paradebeispiel angewandter Kunst

"Ja, als Plastiker und Zeichner ist der Beuys tatsächlich ein Jahrhundertkünstler. Aber mit seinen andauernden ökologischen Tiraden und gesellschaftspolitischen Pamphleten macht er doch viel von dem zunichte, was wir ihm als Künstler gern zugestehen!" Das hört man übrigens von denselben Leuten, die jene Fettecken und Zeichnungen noch vor 10 Jahren als kindische Schmierereien und Bluff verhöhnten. Jetzt spazieren sie um das Dreieck aufgeschichteter Basaltsteine auf dem Friedrichsplatz. Sie scheinen zu vergessen, daß Beuys gerade als Künstler und erst als Künstler in der Lage war, wirksam in ökologische und gesellschaftspolitische Diskussionen einzugreifen, weil er in diese Diskussion seine spezifisch künstlerischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten einbrachte. Das scheinen auch jene mißzuverstehen, die als engagierte Ökologen vermuten, Beuys habe sich womöglich in ihre Debatten eingemischt, um sich als Künstler zu profilieren.
Nur als profilierter Künstler konnte Beuys durchsetzen, daß auf dem Kasseler Friedrichsplatz Tausende seiner Pflanzsteine gestapelt werden dürfen. Dieser Steinhaufen (gelegt in Dreiecksform, mit dem kleinsten Winkel auf die erste gepflanzte Eiche verweisend) ist nur wieder zu beseitigen, wenn Bürger dem Appell folgen, der von diesen Steinen ausgehen soll, nämlich mit jedem Stein einen Baum zu pflanzen.
Damit gelingt es Beuys, den zeitgemäßen Wirkungsanspruch eines künstlerischen Konzepts zu demonstrieren; denn die Plastik ökologischer Appelle verschwindet als ein Beuyswerk von dem Friedrichsplatz nur und insofern, als diesen Appellen tatsächlich von kunstinteressierten wie ökologisch interessierten Bürgern Wirkung zugestanden wird. Wer den Steinhaufen als Beuyssches Kunstwerk bewahrt wissen will, verhindert seine Wirkung. Wer das Beuyswerk aber wirksam werden läßt, hebt es zugleich auf, bringt die Beuysplastik in ihrer gegenwärtigen Gestalt zum Verschwinden. Ja, das ist wieder beispielhaft, wie Beuys einen zeitgemäßen Begriff von angewandter Kunst demonstriert.
Als der Begriff "angewandte Kunst" vor etwa 100 Jahren so weit entwickelt war, daß man mit ihm sogar neue kulturelle Institutionen, die Museen für angewandte Kunst, rechtfertigte, hing diesem Begriff bereits ein Hauch von Restaurierung vorindustrieller Gestaltungspraktiken an. Angewandte Kunst im Sinne von Semper und Morris schien der Rettung von schon nicht mehr zeitgemäßen Vorstellungen des Künstlers als Handwerker verpflichtet. Um diesen ideologischen Ballast abzuwerfen, ersetzte man den Begriff "angewandte Kunst" um 1920 durch den Begriff "Design", um so zu dokumentieren, daß von individuellen Künstlern entwickelte Gestaltungsvorstellungen auch unter Bedingungen der Massenproduktion verwertbar seien. Inzwischen ist Design weitgehend ein Synonym für Gestaltungsverzicht; Design wurde zur Technik der Eliminierung von Auffälligkeit, Charakteristik, Hierarchie. Deshalb besteht gegenwärtig die Tendenz, diesen Designbegriff aufzugeben und statt dessen den Gedanken der Anwendung von Kunst neu zu formulieren.
Ist ein Fußballspiel die Anwendung von Spielregeln?
Hausbau sei angewandte Architektur, hört man. Dennoch wird nicht nur von der Neuen Heimat die Anwendung von Architektur beim Hausbau geflissentlich vermieden.
Herkömmlich wird unter Anwendung die Überführung von Theorie in Praxis, von Wissen in Macht, von Gedanken in Tat verstanden. Bei den jetzt aktuellen Überlegungen zur angewandten Kunst scheint es um ein anderes Verständnis von Anwendung zu gehen. Nicht die Theorie soll in Praxis umgesetzt werden, sondern Theorie soll Praxis überall dort kritisierbar werden lassen, wo sie sich als uneingeschränkt und beherrschend durchsetzt.
Wissen soll nicht in Macht umgesetzt werden, sondern Wissen soll Macht zügeln, wo sie sich mit dem Anspruch auf Wahrheit absolut setzt.
Gedanken sollen nicht in Taten angewandt werden, sondern Gedanken sollen die Taten durch Entwicklung von Alternativen einschränken und relativieren.
Ein Fußballspiel ist nicht die Anwendung von Spielregeln, sondern die Spielregeln beschränken die Willkür des Fußballspielens, wodurch es erst ein Spiel wird.
Hausbau ist nicht Anwendung von Architektur, sondern Architekturgedanken kritisieren jeden Hausbau, soweit mit ihm behauptet würde, die perfekte Umsetzung von Bauplänen in einen materialen Bau sei das Kriterium für leistungsfähige Architektur.
Viele Künstler meinen, wenn sie mal richtig dürften, dann würde die Welt anders aussehen. Ihre Interventionen in Lebensräume verstehen sie als eine Umgestaltung der Lebensräume nach ihren eigenen Plänen. Nun denn: Als der große Künstler Scamozzi daran ging, nach seinen Plänen eine ganze Stadt zu bauen, entstand das Gefängnis für Architektur Palmanova. Das war 1593 so, und das war immer so, wenn Künstler glaubten, bloß ihre eigenen Pläne an die Stelle bisheriger setzen zu müssen. Künstler, die auf diese Weise ihre noch so guten Entwürfe anwenden wollen, leiden an Palmanoia; das ist eine gefährliche Krankheit, weil sie die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Plänen und Realisierungen zerstört und damit auf einen naiven Begriff von angewandter Kunst zurückfällt.
Künstlerische Vorstellungen und Konzepte dürfen nicht als Handlungs-Anleitungen gelesen werden, die es umstandslos in Realität zu übersetzen gelte. Sinnvollen Gebrauch macht man von solchen Entwürfen, wenn man sie benutzt, um jedweden Anspruch zu kritisieren, der darauf ausgerichtet ist, endgültige und unwiderrufbare Tatbestände zu schaffen und auch noch zu rechtfertigen.
Das haben jene Künstler und allen voran Beuys verstanden, die eine documenta urbana als zeitgemäße Form der Anwendung von Künsten parallel zur documenta ausrichten wollen.
Aufgeklärte Künstler wie Beuys beschränken ihren Wirkungsanspruch auf kritische Interventionen mit so minimalen Mitteln als irgend möglich. Anstatt ihre Konzepte in Zeit überdauerndem Material auf den Katalog ewiger Größen auszurichten, trainieren sie unsere intellektuelle Beweglichkeit, leiten uns zur Entwicklung von Ideen an, die unsere Vorstellungen vom erfüllten Leben verändern.
Übrigens: die Eingeweihten munkeln, daß Beuys seine Steine in Dreiecksform habe aufschichten müssen, weil Heiner Friedrich, der Finanzier von de Marias vertikalem Erdkilometer, nur so die Aura des Werks von de Maria wahren zu können glaubte. Schließlich finanziert Friedrichs Dia Art Foundation auch das neue Beuyswerk. Friedrich hat eine gute Entscheidung getroffen.