Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 24 im Original

5 Immendorff

Das Brandenburger Tor steht quer; der Zugang zum Vorplatz des Fridericianums durch diese Triumphpforte wird als Einstieg in die Geschichte bewußt gemacht. Jede Tür, jede Pforte, jeder Bogen verweist auf den Januskopf der Zeit: rückwärts und vorwärts, in die Vergangenheit und in die Zukunft, diesseits und jenseits der Grenze, die jedes Tor als Abschluß ohne Endgültigkeit markiert. Die Grenze ist die Gegenwart des gerade durchlaufenen Augenblicks.
Das Bronzemonument auf brutalem, zweistufigem Betonsockel ist 4 Meter lang und 2,50 Meter hoch. Die 4 Pfeiler des Triumphtores zeigen, rundum durchgearbeitet, folgende Bildmotive:
Am ersten Pfeiler: Reichsadler in Seitenlage mit ausgebreiteten Flügeln und beutegierig ausgestreckten Krallen; um den Hals des Adlers windet sich eine Pinselpython. Eine Schwingenspitze des Adlers stößt an einen Trümmerbrocken, auf dem ein Penck-Männchen in Fluchtbewegung zu sehen ist.
Am zweiten Pfeiler: Das leicht seitlich zum ersten Pfeiler geneigte Pinselfragezeichen, vor dem ein Stirnfäustling kniet. Sodann drei Pferde des vierspännigen Triumphwagens, der üblicherweise auf Triumphbögen, wie dem Brandenburger Tor, zu sehen ist. Die Pferde in den Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold werden im Sturz, wie die Rosse des Helios, gezeigt; das Innere des Sturzwirbels bildet ein dynosauriergroßer, kalkweißer Knochen mit Ritzzeichnungen. Die Pferde stürzen auf ein Bildnis Rosa Luxemburgs zu.
Am dritten Pfeiler: Ein hölzerner Wachtturm, dessen Sockel mit Trümmerschutt und Knochen aufgefüllt ist; ein Pfeiler des Turms wird durch einen uniformierten Volksarmeesoldaten gebildet. Auf dem Turm zwei nackte Gestalten, rechtwinklig zueinander; die ausgestreckten Beine der einen legen sich über die ausgestreckten Beine der anderen Gestalt. Anhand eines Vergleichs dieses Bildmotivs mit ähnlichen in anderen Immendorff-Werken lassen sich die beiden nackten Gestalten als Penck und Immendorff identifizieren.
Am vierten Pfeiler: Die Systemzwinge, eine Mischung aus Schmiedeamboß und hölzernem Schraubstock. Die Enden der Schraubwinden in den Schenkeln des Schraubstocks sind animistisch verlebendigt zu Organen protzender Männlichkeit.
Die Plattform des Brandenburger Tors bildet eine gezackte Eisscholle, aus der nach oben eine Korbtrommel und zwei Schlagzeugteller hervorragen. Zwischen den Tellern der zerquetschte Reichsadler und eine plattgedrückte Systemzwinge.
Die Appelle, die Immendorff mit seinen Arbeiten auf den Betrachter losläßt, kommen unzweifelbar rüber: "Die totale Weltfrage" ist, wie reagieren wir auf die Schlünde und Wunden, die in den Leib der Erde und in die Leiber der Menschen gebrannt und gesprengt werden. Um davon zu sprechen, bedarf es der Veranlasser und der Identifikationsobjekte. Die politischen/sozialen Probleme sollen sinnfällig demonstriert werden, nicht ihre beliebigen Erklärungen. Bekenntnis zur Betroffenheit ist zu erreichen. Auch Kunstwerke sind Bekenntnisse.

Entschuldigungen dafür, daß im Kunstbereich kaum auf die Zumutungen politischer Rechtfertigungen reagiert wird, läßt I. nicht gelten. Wenn es denn tatsächlich keine hinreichend leistungsfähige Sprache der Gegenwartskunst gibt, um derartige Probleme zu bearbeiten, dann muß sie eben geschaffen werden. Daß diese Anstrengung in den Arbeiten zu spüren bleibt, dürfte kein Einwand gegen ihr künstlerisches Niveau sein. Vor allem Zwerge sind niveaubewußt.

Auch Immendorff ein Allegoriker? Ist das nicht ein wenig platt, z. B. das Pinselfragezeichen als S lesen zu sollen, S wie Sieg?
Aber: Immendorff hat tatsächlich eine ganz eigene Ikonographie als Bilderschrift entwickelt, die auch seinem künstlerischen Zugriff und seinen Darstellungsformen entspricht.
Wo der Zugriff unmittelbar sein kann – wie in den Holzplastiken – strahlen die Arbeiten Bildkraft und Künstlermut aus. Die Umsetzung in Bronze allerdings wirkt abschwächend, da die Oberflächen nicht im Licht arbeiten, und die Farbigkeit an Härte verliert.