Vortrag / Rede Tagung „Moderne und Historizität“

Kolleg Friedrich Nietzsche

Moderne und Historizität, Bild: Plakat. Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar, 11./12.02.2009. Gestaltung: Goldwiege.
Moderne und Historizität, Bild: Plakat. Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar, 11./12.02.2009. Gestaltung: Goldwiege.

Termin
11.02.2009, 20:00 Uhr

Veranstaltungsort
Weimar, Deutschland

Veranstalter
Klassik Stiftung Weimar

Autor
Brock, Bazon

Gefährliche Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch:

Wie das Bauhaus Nietzsches Urteile zur Geltung brachte – Der Wille zum System und ein neuer Weg zum Ja

Ja, mit dem Stichwort der Vermittlung kann man eigentlich auch gleich das Thema skizzieren: Es geht ja da nicht darum, dass man eine elegante Reformulierung des Nürnberger Trichters unters Volk bringt, sondern [es ist] ganz einfach eine Nietzscheanische Überlegung gewesen, die das Vermittlungsgeschehen begründete. Nicht etwa, dass jemand etwas besser weiß etc., also vorbildlich ist, sondern eine bestimmte Form der Beispielgabe reicht, weil er bestimmte Voraussetzungen erfüllt, nämlich, das, was gezeigt wird als etwas in bestimmter Absicht zu Zeigendes begründet, indem er auch das zeigt, was nicht gezeigt werden soll. In anderen Worten, die Nietzscheanische Aporie der Moderne hier im Problem der Ausstellung heißt: Wenn du etwas kuratorisch in irgendeiner Hinsicht durch Auswählen zustande bringst, dass du Ausstellung nennst, mit einer bestimmten Art von Relationsbildung als Zuordnung der Dinge – Hängeordnung oder wie auch immer – dann ist diese Leistung nur zu beurteilen, das heißt, du kannst damit überhaupt nur etwas anfangen, wenn du weißt, woraus ausgewählt worden ist. Wenn man aber, um zu erkennen, in welchem Sinne jemand etwas ausgewählt hat als das zu Zeigende, wissen muss, woraus er ausgewählt hat, wenn man also das nicht zu Zeigende, zeigen muss, damit das Gezeigte tatsächlich mit Grund als Ausgewähltes verstanden werden kann, kommt man in die Aporie, dass zwischen den Auszuwählenden und Ausgewählten kein Unterschied mehr besteht. Die Aporie heißt, das Prinzip der demonstrativen Erzeugung von Evidenz hebt sich selber auf. Es gibt keine Ausstellung. Dann waren die Besucherschulen, die Vermittlungsformen […] eben Verweise anlässlich dessen, was gezeigt wurde, auf das, was nicht gezeigt wird. Damit das Gezeigte aber mit Grund in einer bestimmten Absicht gezeigt werden kann, muss man das repräsentieren, was nicht gezeigt werden soll.

Das hieß für die Documenta seit [19]68, wir stellten ständig einen Antrag, zwei Ausstellungen zu formulieren: einmal die Documenta, dessen, was gezeigt werden sollte aufgrund der Konzepte und der Arbeit der Kuratoren und einmal eine Documenta dessen, was nicht gezeigt werden sollte, aber gekannt werden musste, damit das Gezeigte überhaupt auf vernünftige Weise angeeignet werden kann und natürlich haben die Verantwortlichen im Bund, Land Hessen und der Stadt Kassel gesagt, „Wir können nicht zwei Etats aufbringen, also kriegen Sie Geld, um eine Besucherschule aufzumachen.“ Die Besucherschule repräsentiert ja in der Ausstellung, den Horizont der Möglichkeiten, also das, was prinzipiell als Angebot an die Kuratoren zur Verfügung stand, damit das Publikum mit Gründen urteilen kann. Was gewisse Schwierigkeiten nach sich zieht in Hinblick auf unser heutiges Thema, die Erweiterung der Zustimmungslehre – so wie sie beispielsweise in Nietzsches Zeit in jedermanns Kenntnis war – die des Kardinal Newman. Wahrscheinlich die folgenreichste Zustimmungslehre vor Nietzsche, die formuliert worden ist.

[Das] bedeutet, dass wir uns ständig auf diese Aporien einlassen müssen – oder auch auf Paradoxien –, um mit ihnen arbeiten zu können. Und man kann mit einer Paradoxie nur arbeiten, wenn man weiß, wie man aus ihr wieder herauskommt. Und das ist ein Verfahren, das Nietzsche entwickelt hat. Im Hinblick auf die Grundformulierung „Trennung von Theorie und Praxis“ heißt das natürlich, dass er entdeckt hat, dass er als Philosoph nur wirksam werden kann, wenn er die Arbeit seines Kopfes vergegenständlicht, also literarisch fasst. Er denkt, aber das Denken selber ist eine literarische Praxis. Also muss er zu einem Literaten werden, um philosophisch argumentieren zu können. Wenn aber seine Philosophie als Literatur auftritt, wird sie klassifiziert, wie das Schreiben von Profischriftstellern – Romanciers vornehmlich – eben klassifiziert worden ist. Aber das bedeutet, [dass] der Philosoph, der theoretische Wissenschaftler etc. nicht mehr in der Lage ist, seine Arbeit [von] einer Praxis des Schreibens oder des Vermittelns unterscheiden zu können. Er muss das in seine Arbeit einbeziehen. Die Grundlage, auf der das gelingt, ist eben die berühmte Abkoppelung von den Wertungsvorgängen. Das heißt, Erkenntnisvorgänge werden vollständig von den ethischen Wertungs- und ästhetischen Vorgängen der schätzenswerten Aneignung getrennt. Ich beziehe mich hier in all diesen Texten eigentlich auf eine wunderbare Parallelaktion – M.O.E., Mann ohne Eigenschaften –, in der das herausgearbeitet wird. Und es gibt einen, der das befolgt hat, nämlich Heinz Friedrich, der ja ein Parallelfälschungsunternehmen startete zu dem von Elisabeth Förster-[Nietzsche] – dem ‚Willen zur Macht‛. Der also in diesen Weisheiten für Übermorgen tatsächlich so etwas wie eine Rekonstruktion des noch gar nicht geschriebenen Werkes anhand der nachgelassenen Notizen zustande gebracht hat. Also [das], was die Elisabeth auch in bestimmter Absicht getan hat, auch unter dem Titel ‚Willen zur Macht‛, das ihr aber nicht gelungen ist, weil man die Fälschung als Fälschung bezeichnen musste. Während die intelligente Form, die Nietzsche eigentlich durchgesetzt hat, eben die Huldigung an die originäre Leistung gerade dadurch darstellt, dass die Rekonstruktion sich selber als falsch ausgibt. Das heißt, das wahre Falsche. Also in heutiger Begrifflichkeit, das ‚Faken‘. Also ist Nietzsche ein ganz großer Philosophie-Faker in vollendetster Form der literarischen Formulierung. Heute hat er, glaube ich, nur einen Nachfolger: Sloterdijk, der sagt: „Ich bin kein Philosoph, sondern ich bin ein philosophischer Schriftsteller.“ Das ist ganz grundlegend.

Also außerhalb des Schreibens, der Praxis des Verfassens von Literatur, gibt es keine Möglichkeit zu Philosophieren. Heinz Friedrich hat das wunderbar, eben als der Parallelaktion im Sinne Musils, zur Fälschungsarbeit von Elisabeth Förster[-Nietzsche] zusammengetragen. (Ist in [der] DTV Taschenbuchausgabe billig erwerbbar.) Man kann wirklich diese Art von Unterstreichung im Hinblick auf das, was nicht gemeint ist, oder was als das Falsche gemeint ist, als fruchtbarste Methode [dafür] ansehen, wie man aus der Paradoxie herauskommt. Die Orientierung auf das wahre Falsche, beziehungsweise auf den Anspruch als Lügner die Wahrheit zu retten, und nur als Lügner, wo es keine normative Instanz mehr gibt, die die Wahrheit, Gutheit oder Schönheit durchzusetzen vermag, hat er eben in diesem berühmten Abkoppelungsmotiv vorgegeben.

Hier in dieser Sammlung der letzten Anweisungen von Sommer [18]88 bis Ende [18]88, hört sich das so an: „Die Tatsache des Kredits des ganzen Welthandels, des Verkehrsmittels“, also heute würde man sagen, der universellen Kommunikation, „ein ungeheuer mildes Vertrauen auf den Menschen“. Das ist die Grundlage. „Dazu trägt bei oder das ermöglicht a) die Loslösung der Wissenschaften und Künste von moralischen und religiösen Absichten – ein sehr gutes Zeichen, das aber meistens falsch verstanden wird.“ Er beruft sich da auf eine historische Tatsache, ganz im Sinne der heutigen Vormittagsdebatte, nämlich, dass es ja wissenschaftliche und künstlerische Arbeit erst gibt, seit man sich von der kulturell-religiösen Legitimation abgekoppelt hat und damit auch von der Moral.

Das heißt, im 14. Jahrhundert entstand der Gedanke der künstlerischen-wissenschaftlichen Arbeit, weil die Aussagen der Wissenschaftler und Künstler nicht mehr kulturell-religiös – in jeder Kultur steht die Religion im Mittelpunkt – legitimiert werden musste. Wer Chemie betreibt, tut das völlig unabhängig davon, ob er Jude oder ein Chinese ist, ob er Afrikanisch spricht oder Englisch. Es ist eine bestimmte Vorgabe des Attitüden-Sets, wie Nietzsche das entwickelt hat, die ästhetische Haltung, die es notwendig macht, sich auf das Problem einzulassen, gerade jenseits aller kulturellen oder religiösen Legitimation. Abkopplung von der Autorität, des Clans, des Papstes, des Papas, des Professors, des Akademiepräsidenten etc. Also Orientierung auf das Prinzip Autorität durch Autorschaft, das ist schließlich die sensationellste Kennzeichnung Europas schlechthin […]. Religion [bedeutet?] nichts und die interessante Frage ist, wie kommt es dann dazu, dass man so jemandem, der sagt, hinter meinen Aussagen steht gar nichts, zuhört – warum? Weil er literarische Qualität, bildkünstlerische Qualität, also Aktivität entwickelt und die Aussagen so formuliert, dass sie eben attraktiv werden. Also, man auch [deshalb] zugehört, weil man weiß, der kann mich nicht bestrafen, wenn ich maulend weggehe und er kann mich nicht belohnen, wenn ich kopfnickend begeistert dasitze und sage: „Meister, großartig! Eine tolle Einsicht!“ Mit anderen Worten, auch die Philosophen können nicht mehr überzeugen durch etwa die geschlossene Systematik ihrer Argumentation, auch Wissenschaftler nicht, weil zum Teil als grundlegend für die Arbeit dieser Gruppe gerade die Problematisierung des systemischen Zusammenschlusses gilt. Also in einer bestimmten Weise das Ziel der Begründung von Autorität durch Autorschaft gerade darin liegt, ein Problem als definitiv unlösbar auszuweisen.

Die ganze Nietzsche-Philosophie besteht in nichts anderem als durchschlagend in Hinblick auf alle ontologischen Ansätze, aber auch die Hegel'schen, Fichte'schen, vor allem Kantischen Ansätze zu zeigen, dass die ästhetische Attraktivität der Formulierungen, also literarische Qualität der Texte, dafür sorgt, dass die Aussagen so interessant werden – obwohl es keine Vorschläge für Lösungen gibt, keine Praktikabilität, keine Anleitungen für den Alltagsgebrauch, meinetwegen eines Christen, der sich seines Lebenssinnes vergewissern will. Also die Loslösung der Wissenschaften und Künste von moralischen und religiösen Absichten, meistens wird das falsch verstanden, weil man dann meint, er leugne jede Art von Bewertung unter moralischen Gesichtspunkten. Nein, es geht nur um Legitimation eines Aussagenanspruchs. Und wer würde da nicht in Schwierigkeiten kommen, wenn er gelernt hat, dass die höchste Autorität, die eine Aussage legitimiert, die Wahrheit ist. Und da kommt der Nietzsche auf einen genialen Trick, der bis heute unüberboten ist, nämlich zu sagen, auch die Sätze, denen wir als Geltungsanspruch Wahrheit zugestehen, sind ja einstmals von Individuen gemachte Aussagen, […] denen man dann diese Wahrheitsfähigkeit zugestanden hat, also ist die Wahrheit nichts anderes als eine generalisierte Form der Begründung durch Autorschaft. Alle Wahrheit muss von Individuen hervorgebracht werden, als Aussagenanspruch, und kann dann nicht anders als eine Bestätigung bezeichnet werden, mit der man zu operieren sich verabredet hat, beziehungsweise die man akzeptiert, wo man wissenschaftliches und künstlerisches Arbeiten akzeptiert, nämlich überall da, wo die einzige akzeptable Autorität in der Autorschaft besteht. Das ist immer die Autorschaft eines singulären Einzelnen, also eines Individuums.

In Hinblick auf den Mechanismus, mit dem solche individuellen Urheberschaften schließlich den Geltungsanspruch von Wahrheiten erreichen, die aber nichts anderes sind, als in einer bestimmten Weise […] aufgenommene Autoritäten von Autoren – erleichtert wurde das Verfahren eben dadurch, dass im Lateinischen Autorschaft und Autorität das gleiche Wort waren (aber immerhin musste das ja mal entdeckt werden von den Humanisten) – besteht nun eben in diesen merkwürdigen Neuformulierungen von Abstraktion und Konkretion in einer Hinsicht – das waren ja die alten Universalienstreits-Gesichtspunkte – oder Induktion und Deduktion auf der einen Seite und auf der anderen Seite eben die Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch, wobei man sich tatsächlich auf die Neulektüre von Aristoteles einließ und die griechische Distinktion zwischen den beiden Aspekten auch der modern-humanistischen Unterscheidung zugrunde legte.

Also das eine ist orientiert auf das Produzieren – Poiesis im Sinne des Hervorbringens eines Endprodukts –, das andere ist das Prozedieren selbst und natürlich kann man von einem Philosophen nicht außerhalb dieses Verfahrens erwarten, dass er irgendetwas hervorbringt, sondern er kann es nur als eine Art von ständigem Prozess der Problematisierung fortführen – also als eine Praxis. Nietzsche sagt in diesem Kontext im Sommer [18]88, das Manöver der gefährlichen Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch – wie es die Kantische Tradition nahe legt, aber er sagt generell auch „die Alten“ – beruht darauf, so zu tun, als ob die reine Geistigkeit ihnen die Probleme der Erkenntnis und Metaphysik vorlege und nicht etwa etwas anderes. Sie tun als ob, wie auch die Antwort in der Theorie ausfalle, Praxis nach eigenen Wertemaßstäben zu beurteilen sei. Gegen diese erste Auffassung führt er seine Psychologie der Philosophen ins Feld. Ihr entfremdetstes Kalkül und ihre Geistigkeit bleibt immer nur der letzte blasseste Ausdruck einer physiologischen Tatsache, es fehlt absolut die Freiwilligkeit oder – wie heute Morgen immer gesagt [wurde] – die beliebige Zugriffsmöglichkeit. Das ist natürlich ein Irrtum. Es geht gerade darum, dass es keine beliebige Zugriffsmöglichkeit auf den Bestand der Historie gibt. Das wäre ja Kinderkram, wenn man freien Zugriff hätte, auf die Wackelkiste, in der die Kuriositäten der historischen Produktion der Geschichte vorhanden wären, die man dann so wie Zoofiguren auf den Tisch setzt und damit rumspielt wie Kinder mit Bauklötzen – einmal erklärt man das für einen Löwen und dann wieder für einen Elefanten, dann wieder für den König von Uganda. Das ist gerade der Ausschluss, es gibt keinen freien beliebigen Zugriff.

Wie er das begründet, ist schon außerordentlich bedeutsam geworden, eigentlich sogar am Bedeutsamsten gerade in den – heute nennt man das – Bereichen der Hirnforschung, so absurd diese Formulierung ist. Neurophysiologen haben den größten Nutzen aus dieser Erkenntnis [bzw.] aus dieser Vorgabe Nietzsches gezogen. [Zitat:?] Haben wir ein Vermögen, den Wert einer Lebensweise anders zu beurteilen, als den Wert einer Theorie – nämlich durch Vergleichung? [Zitat Ende? ] Das haben wir sicherlich nicht, wenn wir nicht, wie er sagt, mit zweierlei Maß leben, nicht Theorie und Praxis trennen. Das ist immer die wiederholte Vorgabe. Und jetzt kommt die Erklärung: [Zitat:? ] Alle Äußerung dieser Art, als Kunst oder als Wissenschaft, wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen tätig sind. Sie redet immer nur zu Künstlern oder Wissenschaftlern, eben zu Autoren oder d[en]jenigen, die angesprochen zu Autoren werden. Sie redet zu dieser Art von feiner Erregbarkeit des Leibes. Der Begriff Laie ist ein Fehlgriff, der Taube ist keine Spezies der Guthörigen. Alle Kunst wirkt tonisch. Mehr die Kraft entzündet die Lust, das heißt, das Gefühl der Kraft regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an. Es gibt ein eigenes Gedächtnis, das zu solchen Zuständen hinunterkommt, eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück, wenn ich dieses Verfahren anwende, nämlich ästhetische Zustände zu erzeugen durch Mitteilungen, die auf eine bestimmte Weise Reize und Zeichenreaktionen sind. [Zitat Ende?] Dann kommt das, eigentlich wörtlich beschrieben, was man seit 1992 mit der Entdeckung der Spiegelneuronen in heutigen terms [Begriffen] der Neurophysiologie beschreibt und [damit] eine völlig neue Begründung des Mimesis-Prinzips – in Hinblick auf die Probe für die Nichtunterscheidbarkeit von [Theorie] und Praxis. An die Stelle tritt dann eben die Distinktion zwischen explizit und implizit, was eine grundlegende andere Einsicht ist. [Man kann] eben nicht mehr sagen […], dass jemand in dem Zustand der Erzeugung von Empathie als Leiden unter dem, was noch gar nicht passiert ist, [Verb fehlt], also Antizipation mit der Konsequenz neurophysiologischer Erfahrung: Ich antizipiere eine Vorstellung – Schrecken oder meine Frau stirbt, mein Hund wird überfahren – und erleide jetzt in Hinblick auf das Antizipierte bereits über Empathie einen Schwitzausbruch oder mein Blutdruck steigt. Das hat man zwar diskutiert – seit 1850 etwa kann man das nachweisen –, aber in der Art und Weise wie Nietzsche das neurophysiologisch begründet, ist das dann doch eine sensationelle Leistung gewesen, auf die sich dann auch mehr oder weniger alle Neurophysiologen bezogen haben. [Heute Nachmittag wurde ja der französische Startheoretiker in dieser Hinsicht schon angesprochen.]

Nietzsches Vorgaben gehen aber darüber weit hinaus. Das heißt, das, was wir als eine Operation des Denkens fassen, ist eine Problematisierung von Sachverhalten bis zu dem Punkte, [a]n dem man es nur noch neurophysiologisch reaktiv beweisen kann, also durch Lebensform, Lebensumstände, ob man dem Kerngedanken gewachsen ist oder nicht. Der Kerngedanke heißt, es gibt keine Lösungen. Das heißt, man philosophiert nicht mehr im Hinblick auf den Punkt, von dem aus sich alles klärt, wo es eine Lösung für die Fragestellung der Ontologen […] gibt, sondern das Resultat ist die Fähigkeit, die Welt sehen zu können und darin auch kommunizieren zu können, weil man sie nicht verstehen kann. Das ist nämlich die Konsequenz: der Philosoph hört auf, verstehen zu wollen. Er kommuniziert – typisches künstlerisches Verfahren: statt verstehen, kommunizieren, schreiben, malen etc. – und kommt dann zu der tatsächlichen Möglichkeit, die Attraktivität oder die Effektivität eines solchen Vorgangs durch die eigene Reaktion zu überprüfen. Das ist die Emphase, das ist die Erregung, das ist der kataklystische Krampf. Wie auch immer, sozusagen eine neue Skala der Begründung der Kontrolle und Selbsterfahrung von Intellektuellen, von Philosophen, von Literaten etc. Was auf gewisse Weise dem zu widersprechen scheint, was in anderer Weise gefordert wird, auch von Nietzsche, nämlich die entsprechende Distanznahme und Kälte.

In Wahrheit ist aber das Motiv, das Thomas Mann daraus gelesen hat, nämlich die Notwendigkeit, Selbstergriffenheit als das letzte Kriterium zu entwickeln, tatsächlich unabweisbar – und Nietzsche ist ein Autor, der es ständig fertig[bringt] im Hinblick auf das, was er gerade selber produziert, diese Nagelprobe durch die übersteigernde, überhöhende Selbstergriffenheit – man kann auch sagen durch eine Art von Poetisierung sich selbst zu beweisen. Bei Thomas Mann geht es dann so weit, dass er sagt, die Nagelprobe auf das Gelingen (nicht auf die Problemlösung, sondern auf das Gelingen), das heißt Ja-Sagen, ist, ob man es fertig[bringt], sich selbst zu ergreifen – im Sinne der Selbstergriffenheit. Das geht also von dem Nackenhaaraufsträuben bis hin zu den berühmten Schluchzanfällen, bis zu den Umdefinitionen der Täter in Opfer, was eigentlich ein zentraler psychologischer Mechanismus ist, auf den sich Nietzsche auch dauernd beruft. Deswegen ist er Psychologe, weil er das als Instrument der Erkenntnis selber an sich überprüft und das allen anderen empfiehlt. Es geht nicht mehr um eine Beweisführung quod erat demonstrandum, es geht nicht mehr um eine Ableitungskette, die sauber und – wie wir heute Nachmittag gehört haben – widerspruchsfrei [ist,] sagt Herr Luhmann, da irren Sie sich aber gewaltig, da kommen ja überall diese Widersprüche hinten raus, […].

Ganz im Gegenteil, in dem Maße wie er es fertig[bringt], Autorität durch Autorschaft zu werten auf der Grundlage solcher Unvereinbarkeiten, ja sogar solcher Irrtümer oder, noch besser, solcher wahren Falschheiten, solcher als falsch erkannten Falschheiten. Nämlich das berühmte Paradox des Lügners, wie er es auflöst: Wer sagt ich lüge, ist damit auf die Wahrheit intensiver bezogen als einer, der nur behauptet, die Wahrheit zu sagen im Sinne irgendeiner beliebigen Indoktrination und Ableitung. Das Motiv, um das es ihm zentral geht – als Zustimmungslehre – im Unterschied zu Kardinal Newman, auch im Unterschied zu Hegel oder Fichte (also bei Hegel [das] Werkmeister-Kapitel etwa) in der Phänomenologie – voriges Jahr gab es ja [ein] Jubiläum zu feiern – besteht darin, dass er diese gefährliche Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch bei Kant etc. in einer fantastischen Weise auflöst und das macht diesen Effekt des Evidenzerlebens [aus]. Oder bei Adorno ganz genauso: man saß und hörte zu, kam eigentlich argumentativ gar nicht mit, das gab es auch nicht, es war nicht nachvollziehbar und er landete trotz unnachvollziehbarer Methoden bei Momenten, in denen plötzlich alles evident erschien, was er sagte. Alle hörten, jawohl das war’s, aber wie man da hinkam, wie man da wieder wegkam, merkte man nicht, war so eine Art von ständiger Verkörperungsstrategie.

Nietzsche ist darin ein Genie ersten Ranges, nämlich als Künstler, als Literat, man kann häufig sagen sogar als Begriffspoet – fantastischerweise –, eigentlich nur noch Heidegger ist ein ähnlicher Könner auf dieser Ebene. [Heidegger ist] wahrscheinlich einer der größten Lyriker, den philosophierende Schriftsteller je hervorgebracht haben. Bei Heidegger ist es absurd, das rekonstruieren zu wollen im Sinne einer Ableitung, als würde man im Examen den Nachweis über logisches Denken führen wollen. Das ist natürlich grotesk. Das machen Anfänger, die zeigen wollen, was sie können. Die Meister verlassen sich auf das, was man nicht kann. In dem Augenblick, [in dem] ein Schüler von Heidegger oder Nietzsche vergisst, dass es hier um Themen geht, die man nicht beherrscht, die man gerade nicht durch Logik in die Tasche und in die „Erledigt“[-Schublade] abschieben kann und die eben die Tendenz haben zu zeigen, [dass] das was hier verhandelt wird, […] ohne jede Aussicht auf Lösbarkeit des Problems [ist], weil die Methode selber – Problematisierung – dazu führt, dass jeder Einstieg in ein Problem nur noch zu seiner Vertiefung führt. Das heißt, je mehr jemand als Wissenschaftler oder Künstler an ein Problem Arbeit wendet, umso unlösbarer, größer, interessanter, folgenreicher im Sinne der Unlösbarkeit wird es. Es ist ja nur eine Art von Verkürzung des Verfahrens – oder man kann auch sagen, der Stupidität, der Dummheit zu glauben, dass man durch Denken zu irgendeinem Resultat käme. Oder durch Systematik zu irgendeinem verbindlichen, definitiv akzeptablen Schluss. Er hat ja diese wunderbaren Formulierungen gefunden, die er selbst den Naturwissenschaftlern wie Newton gegenüber, sozusagen in Vorfreude auf Einstein – er hat das ja leider nicht [mehr] mitbekommen, das wäre ja toll gewesen, wenn [er] sagen wir mal bis 1906 noch bei vollem Bewusstsein gewesen wäre und mitbekommen hätte, was da ablief – zu sagen, freut euch nicht zu früh. Was Newton euch geboten hat, ist nicht eine definitive Lösung mit der ihr den physikalischen Kosmos bestimmen könnt, sondern es ist eine Form der Problematisierung und wir warten darauf, wann die nächste große Darstellung dieses Problems kommt – und das war dann Einstein. Also erst [ein]mal Planck und dann Einstein […]. Wie er das macht, also die Psychologie ins Spiel zu bringen, um solche Verfahren zu beschreiben, ist wirklich sensationell simpel. Und darauf hat er großen Wert gelegt. Zum Beispiel, anstatt zu sagen, es bedarf höchster theologischer Abstraktion, einen Begriff wie Inkarnation überhaupt theologisch, philosophisch also wissenschaftlich zu gebrauchen, sagt er einfach: Was macht ihr denn eigentlich? Es ist doch ganz einfach, ihr könnt nur durch Inkarnation überleben. Ihr esst Pflanzen, esst tierisches Eiweiß, das ist das, was euer Körper wird und ohne Inkarnation könntet ihr nicht einen Tag überleben, also ist die Inkarnation als theologische Großfigur uns völlig gleichgültig. Sie basiert auf einer alltäglichen Erfahrung und alles, was bedeutend ist in der Theologie, in der Geschichte der Philosophie etc. ist nichts anderes als eine solche Begründung des Selbstverständlichen, des Evidenten. Das heißt der Begriff [der] Inkarnation ist eine Form der Problematisierung des Inkarnationsgeschehens, das jeder Mann an sich jeden Tag erfährt, indem er isst, denn da[bei] wird tierisches und pflanzliches Eiweiß zu meinem Fleisch und Blut. Daraus aber die Akrobatik zu machen, dass das Christentum eine theologische Sonderkonstruktion mit unglaublichem Anspruch entwickelt, ist völliger Blödsinn. Es ist die Form der Problematisierung dieses evidenten Sachverhaltes und nicht seine definitive Lösung. Das gilt natürlich für fast alle großen Begriffskonstruktionen, wobei die theologischen für Nietzsche die wichtigsten sind. Und da hat er nun wirklich Aufklärungsarbeit geleistet, indem er sozusagen den ganzen Kanon der theologischen Großakrobatiken auf das Niveau von ganz selbstverständlichen Sachverhalten, die jeder beherrscht [bringt]. Und er sagt ja, es ist nur deswegen wirksam, weil es so selbstverständlich ist – also seine berühmte Lehre der Vorurteile. Es ist doch sensationell zu sagen, Vorurteile funktionieren deshalb, weil sie wahr sind. Etwas anderes können wir heute auch noch nicht sagen. Aber diese Wahrheit stößt uns sofort, wenn wir sie anwenden, auf einen Zwang zur Problematisierung, ohne den wir einen Kopf kürzer gemacht werden, ausgegrenzt werden, diskriminiert werden, politisch inkorrekt, abgehalftert werden oder wie auch immer.

Das Grandiose an dieser Nietzsche'schen Methode: es gibt keine Lösungen, alle Beiträge sind unumgänglich, das heißt literarisch, künstlerisch, ästhetisch attraktiv gemachte Problematisierungen, denen man nicht ausweichen kann. Und weil sie so attraktiv sind, als Literatur, als Bild etc., deswegen erträgt man sie, sonst wäre es furchtbar zu einer Welt ja zu sagen, in der wir ohne definitive Ableitung von Wahrheit, Gutheit und Schönheit leben müssen. Man könnte gar nicht ja sagen. Es wäre gar nicht möglich, ja zu sagen. Also erträgt man die Welt im Sinne einer Vergeblichkeit der Problemlösung anstelle einer permanenten Problematisierung der Praxis nur durch die ästhetische Attraktivität, die diese auf Dauer gestellte Problematisierung [Verb fehlt], das nennt man Denken oder wissenschaftliches oder künstlerisches Arbeiten. Anderes ist Wissenschaft nicht als Form des Problematisierens. Und seine Schlussfolgerung dazu ist bis heute die einzige, die ich kenne jedenfalls, für alle Künstler [und] Wissenschaftler gleichermaßen geltende Schlussfolgerung, die sich aus dieser Art von Zustimmungsorientierung ergibt: Wann kann jemand zu sich ja sagen? Was würden Sie von sich aus sagen, haben Sie schon einmal zu sich ja sagen können? Haben Sie sich schon einmal hintergehen können, Sie, der sich selbst am Besten kennt, der weiß, wo er fintiert, wo er lügt, wo er pausenlos seiner Frau einen Orgasmus vorspielt, aber gar keinen hat […], der den Zwang kennt, um sozial fit zu sein, mindestens wie heute im Durchschnitt gezählt wird, 60 mal ganz ostentativ die Unwahrheit sagen zu müssen – im Anspruch auf die Verbindlichkeit in der Beziehung zu einer Person. Eine Nietzsche'sche Entdeckung: Verbindlichkeiten in sozialen Beziehungen lassen sich nur aufgrund von Lügen aufrechterhalten. Wer nicht lügt, ist unfähig, eine verbindliche Beziehung zu jemandem aufzubauen.

Wann sagt man also ja zu sich? Wenn man weiß, dass man lügt und damit sein Bekenntnis der Orientierung auf die Wahrheit abgibt. Denn nur der Wahrheitsverpflichtete sagt, ich lüge. Das ist von höchster Subtilität. „Der Lügner rettet die Wahrheit“, ist eine der elegantesten Formulierungen, die Nietzsche zustande gebracht hat. Jetzt gibt es dafür eine Voraussetzung, nämlich, wie trainiert man sich auf solche Fähigkeiten? Und da sagt er, „Es sind die großen Momente der Kultur, die wir nur gewärtigen können, wenn wir sie als Zeiten der Korruption, moralisch ausgedrückt, der pochenden, der gewollt und erzwungenen Zähmung, Zivilisation des Menschen gegenübersetzen“, also als Epochen der bewussten Falschheit. Also der eingestandenen Notwendigkeit, korrupt sein zu müssen, um Verbindlichkeit zu erzeugen. Und nicht mehr dogmatisch, totalitär, fundamentalistisch einen Wahrheitsanspruch durchzusetzen. Weswegen seit der Aufklärung, also der Nietzsche-Aufklärung, gilt: Traue nur demjenigen, der seine eigene Korruptheit kennt, der [über] sich als notwendigerweise durch Verbindlichkeit gezwungen[en] Lügner kennt, als Versager, als Nichtsnutz. Gestern haben wir von Herrn Zelinski gehört, dass Wagner ein paar lichte Momente hatte, als er sich eingestand: Wenn Mendelssohn mich heute sehen würde, wie ich hier sitze und komponiere, wüsste er, was ich für ein Stümper bin. Wagner! Da kann man sagen, ok, auch du, „shake hands, in Ordnung!“

Das ist mit der Umkehrung der Moral und der Werte gemeint, nicht irgendeine Ersetzung eines christlichen Schemas der Begründung von Gut und Böse, ist doch alles Kinderei. Sondern die Umstellung darauf, dass die Wahrheit nur im Charakter der Lüge, der Korruption, der Falschheit überhaupt zum Problem werden kann, sonst wird sie es nicht. Innerhalb einer Gesellschaft von – sagen wir mal – Herrenhuter ist schwer über Moral zu reden, wo wir doch alle so tugendsam sind, dass Ihnen überhaupt keinerlei Bösartigkeiten mehr einfallen. Sie haben sogar vergessen, böse zu sein, wie er sagt. Sie haben sogar vergessen, was es heißt, einem anderen in intriganter Absicht nachzustellen. Die großen Momente der Kultur sind die Zeiten der Korruption, was vollständig richtig ist. Nicht nur in psychologischen Hinsichten. Moralisch ausgedrückt, die Epochen der gewollten und erzwungenen Zähmung des Menschen sind Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigen und kühnsten Naturen und deren tiefste Widersacher. Was steckt da drin, implizit, das ist ja bei ihm die Ersetzung von Theorie und Praxis oder Philosophie und Literatur, also implizit und explizit. Implizit steckt darin die Definition zwischen Kultur und Zivilisation, wobei das Kulturelle die anthropologisch-natürliche Prägung jedes Menschen darstellt, die ihn überhaupt lebensfähig macht. Also, Entkulturation ist die Bedingung des Lebens und Kultur ist die Natur des Menschen.

Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen und nicht etwa, weil die Kultur das Gegenteil der Natur gewesen wäre. Nietzsche war der erste, der systematisch kapiert hat, was anthropologisches Faktum ist: Wir sind von Natur aus kulturell definiert – und zum Beispiel wer da denkt, dass so ein Gedanke wie Rechtwinkligkeit eine typische kulturelle Leistung sei, die in die Welt gegen die Natur gebracht wurde, der irrt, weil das Prinzip der strikten Orientierung von waagerecht und senkrecht bezogen auf das Lot natürlich die Konsequenz unserer Inner-Ohr-Steuerung des Gleichgewichtsorgans ist. Reine Natur, hat mit der Kultur gar nichts zu tun. Und wenn man sich alle Fakten ansieht, um die es geht, stellt man plötzlich fest, dass alles, was die Leute als kulturelle Leistung gegenüber ihrer tierischen oder sonstigen Natur ansehen, nichts anderes als die reine Natur ist. Nietzsche war der erste, der das kapiert hat und dargestellt hat. Deswegen kommt er ständig auf die Natur, die Bestien, die tierische, animalische etc. Bedingtheit unseres Arbeitens [zurück], denn das ist die Verlässlichkeit, unter der wir uns selbst problematisieren können, denn diese natürliche Prägung ist ja diejenige, die unsere Erkenntnisfähigkeit – neurologisch gesprochen oder großhirnlich gesprochen – davon abhängig macht, dass wir täuschbar sind. Wären wir nicht von Natur aus täuschbar, könnten wir auch keine Erkenntnis zustande bringen. Das heißt, die natürliche Täuschbarkeit der Menschen, also etwa optische Täuschbarkeit, ist die Voraussetzung dafür, dass ich eine Differenz zwischen Getäuschtheit und Nicht-Getäuschtheit erkennen kann, wie immer die auch begründet wird.

Also ich muss meine Täuschbarkeit anerkennen, um mit dem natürlichen Tatbestand unserer neurologischen Begründung von Täuschbarkeit rechnen zu können. Und da setzt das ein, was unser Kollege Harry Lehmann, heute Nachmittag mit der Abkoppelung von Werk, Medium und Konzept andeutete, was sich bei Nietzsche auf ganz anderer Ebene darstellt, eigentlich ein Entkopplungsgeschehen zwischen Imaginatio, Cognitio und Representatio – das ist ja das, was hinter seinem Schema eigentlich steckt: Werk, Medium und Konzept.

Cognitio, Imaginatio und Representatio, das sind die klassischen Formulierungen. Und die Abkoppelung der Cognitio von der Representatio und der Imaginatio, das ist das Kernstück. Er ist der erste, der es entdeckt. Heute gesprochen, wer als Astrophysiker einwandfrei mathematisch den Begriff Schwarzes Loch formulieren kann, darf nicht auf die Imagination des Schwarzen Loches abheben, er muss strikt entkoppeln. Wer sich etwa als Astrophysiker auf die Imaginatio, also auf die innere Vorstellungsbildung vom Schwarzen Loch einlässt, geht in die Klapsmühle. Er muss abkoppeln. Die Imaginatio muss vollständig von der Cognitio abgetrennt werden. Bei Naturwissenschaftlern, vor allem mathematisch orientierten, die ja reine Geisteswissenschaftler sind, ist nun das merkwürdige Problem, dass die Representatio von der Cognitio nicht abgetrennt werden kann – einer ihrer Sonderfälle. Ich musste Sie vorhin leider verlassen. Ich war sehr gespannt wie das kommt.

Bei Mathematikern ist die Representatio und die Cognitio ein und dasselbe – aber unter völliger Abkoppelung der Imaginatio. In der Psychologie ist das genau umgekehrt, dass ist seine Entdeckung, deswegen „Ich“ als Psychologe, das was auch mit Freud tatsächlich dann einsetzt, eigentlich zur selben Zeit wie Nietzsche das Konzept entwickelt schon bei Freud im Ansatz vorhanden ist, nämlich die Abkoppelung der Cognitio und Representatio von allen Aspekten der Imagination. Das ist eine Ausdifferenzierung. Und dann die Künste, also die Wissenschaften mit der Cognitio abgekoppelt, die Psychologen die Imaginatio abgekoppelt von den dreien, also entkoppelt und die Künste mit dem grandiosen, von Nietzsche entdeckten Sonderfall, dass es eine künstlerische Representatio gibt, die sich auf keinerlei Coginitio, Erkenntnisbestimmung, Begriffsarbeit und auf keinerlei innere Imagination beziehen lässt. Und das ist zu seiner Zeit, das was der [Herr] Zelinski mit seinem Hinweis vorhin auf [den] Blauen Reiter gemeint hat: Bei den Gegenstandslosen, bei den Abstrakten beginnt ja dieses Entkoppelungsgeschehen, dass die repräsentative Ebene, die zeichenhafte Repräsentation sich [nicht] auf einen Begriff [Verb fehlt: beziehen lässt?] […].

Bei den Anfängen, bei Kandinsky, wird das ja noch auf kosmische Bilder bezogen und auf alle möglichen Merkwürdigkeiten, aber beim Tachismus beispielsweise ist das vollkommen erreicht. Sie können ein tachistisches Bild nicht auswendig lernen, Sie können es nicht begrifflich analog abarbeiten, Sie können es nicht fixieren. Es gibt keine das Bild begleitende innere Vorstellung, kein Mensch kann zu einem Pollock eine bezogen auf dieses Werk angemessene Vorstellung entwickeln. Obwohl das ja immer wieder versucht worden ist. Postfest nämlich hat man gesagt, das sieht ja genauso aus, wie die neuronalen Schaltungen in unserem Gehirn – das ist natürlich ein Unsinn, bezogen auf das, was der Pollock praktizierte. Der implizite Anteil der Unterscheidung hier von natürlicher Kulturalität des Menschen und seiner Selbstbemächtigung als Selbstfesselung, als Zähmung wie er sagt. „Die Zeiten der Civilisation“ – Civilisation immer mit C, da hat er sich auf das römische civis bezogen; der Unterschied zu militärisch –, was bedeutet das? [Das sind] „die Zeiten, in denen die Menschen sich selbst daran hindern, also fesseln, dieser Natur, ihrer Natur nachzugehen.“ Das ist zum Beispiel die Übernatur oder die Überhistorizität, wie wir heute gehört haben, nämlich bezogen auf das Potenzial der natürlichen Kulturalität, die in der Zähmung oder Civilisierung als ein überhistorischer Tatbestand, überanthropologischer Tatbestand sichtbar wird.

Warum? Weil das Gelingen der Selbstfesselung, des civilisierten Menschen nur daran sichtbar ist, dass er von Zeit zu Zeit durchknallt oder, dass ihm die Gäule durchgehen oder, dass er die Sau rauslässt oder, dass er entgleist und man am nächsten Tag zur Entschuldigung kommt und sagt: Ich hab mich furchtbar benommen. Und genau nur das ist ein Zeichen der Civilisiertheit. Nicht die Tatsache, dass man nicht die Sau rauslässt, sondern, dass wenn sie rausgelassen worden ist, also die Natur freien Lauf hatte – Kultur im höchsten Ausdruck –, dass man das sofort kapiert, an sich sofort [be]merkt und sich dann entsprechend daraufhin bei den anderen meldet und sagt, ich hab es verstanden, ich weiß ganz genau was ich gemacht habe. Das ist das wahnsinnige Motiv der alttestamentarischen Schilderung des heimkehrenden Sohnes – eines Räubers, eines Erpressers, eines Gauners, eines Frauenvergewaltigers, eines Lümmels, eines Herumluderers –, der vom Vater aufgenommen wird, in viel höheren Ehren gehalten wird als der zuhause gebliebene rechtschaffene, gutmütige, wunderbar freundschaftlich fried[]fertige Sohn, der in den 40 Jahren, in denen der andere weg war, den Familienacker bestellt hat ohne sich je etwas zu Schulden kommen zu lassen. Das ist jetzt natürlich sofort die Frage: Kann man also verlangen, dass man in systematischer Absicht – das ist der Zugang zum System (die neue Form des Systems?) – lügen wollen, kann man in systematischer Absicht stehlen wollen, kriminell sein wollen etc.? Wer das tut, landet bei der Aporie der Mafia: Nämlich, dass allein in der Mafia Ehre, Anstand, Verbindlichkeit, absolute Treue herrschen. Wo gibt es das sonst noch heute – nur in der Mafia. Nirgends sonst. Was aber bedeutet es, dass gerade die mafiotische Kriminalität die einzige Rettung der Verbindlichkeit von Moral, Anstand, Sitte, Wohlgelittenheit, Einsatz für die Familie, unabdingbare Kämpfernatur für das Überleben des eigenen Verbandes darstellt? Kulturelle Todesbereitschaft, mit anderen Worten, als höchste Form der Ethik. Das ist der Haken. Und die Frage ist, das können Sie ja selbst beantworten: Kann man in systematischer Weise lügen? Nein, denn in systematischer Weise zu lügen, ist eigentlich nur eine komplizierte Form, die Wahrheit zu sagen. Man kann also gleich die Wahrheit sagen, wenn man systematisch lügen will. Es ist unmöglich.

Also, Beispiel Dialektik: Ich baue eine Rakete. Systematisch, bezogen auf die Rakete, entwickele ich eine Anti-Rakete. Und dann kann ich mir noch vorstellen, dass ich eine Rakete entwickele, die die Anti-Rakete abschießt, die die Rakete abschießt – also eine Anti-Anti-Rakete. Aber dann sagt jeder Waffenbauer, sagt jedes westliche Entwicklungsbüro, dann ist Schluss. Wir können nicht eine Anti-Anti-Anti-Rakete bauen. Das überfordert den Zugang zum systemischen Schluss, das heißt, produktiven Umgang mit Aporien. Das ist nicht möglich. Also kommt eine Verpflichtung in die Orientierung auf das Wahre, Gute und Schöne durch den Terror hinzu. Nietzsches sensationellste Entdeckung: Wer sich [dazu] verpflichtet, muss terroristisch sein. Das heißt, er kann nicht systematisch das Falsche tun, sondern er muss es [zufällig tun], provoziert durch eine Gelegenheit, auch durch ein sich Gehenlassen oder durch ein fintiertes Manöver – wie es der Mann auf der Bühne macht, wenn er in einem Stück spielt, er müsse jetzt als Gauner mit Mantel und Degen hinter der Tür hervorkommen und jemanden abstechen. Das ist die Konsequenz der terroristischen Aktivitäten. Terror wäre kein Terror, wenn er systematisch betrieben würde. Er ist ja gerade auf die Unberechenbarkeit, also das Zufällige, das nicht systematisch Kalkulierbare und Rekonstruierbare angewiesen. In diesem Sinne sieht der Nietzsche ein, dass wir alle gezwungen sind – wenn wir diesen Bezug auf die Wahrheit durch die ‚Fakerei‘, durch die offene Wahrheit des Falschen oder die falsche Wahrheit oder die Wahrheit des Falschen im Sinne des Fakes durchhalten wollen – Terroristen sein müssen. Daher kommt es zustande, dass alle moderne Ästhetik, in Gestalt der bildenden Künste, der Literatur, der Bühne, ästhetischen Terror ausübt. Dass hier Leute auf die Bühne kacken und sagen, das ist ein Akt der Provokation – bis es alle machen, dann ist es natürlich keiner mehr – oder eben die Hosen runterlassen und jemanden erschrecken und dann die Großmutter weise sagt, erschrecke mich nicht mit deinem Hinterteil, ich kenne dergleichen und man dann blamiert dasteht.

Das Kernstück der ästhetischen Provokation, ist eben dieser Zwang zur Willkür, um die Vorgabe für die Beziehung auf das Systemische, auf das in sich Geschlossene, Begründbare, also subjektlos Reproduzierbare zu ermöglichen. Der folgenreichste Gedanke (303), [der] sich daraus ergibt, war für ihn die Konsequenz, […] dass das Wissen [darüber], wie man aus einer Aporie rauskommt, wenn man schon gezwungen ist, mit ihr zu arbeiten, in eine besondere Art der Bewertung der eigenen künstlerischen, ästhetischen Aufladungstätigkeit der Zeichen – von denen er eben sagte, Reaktion auf Zeichen und Begriffe – darstellt. Das kann man sich am Besten vielleicht heute klarmachen, wenn man [sich] den gelehrigsten Nachfolger [Nietzsches] in künstlerischer Praxis […], nämlich Duchamp, anguckt, der mit Bezug auf die Vorgabe von der produktiven Indifferenz schreibt. Das ist ähnlich wie die Amoral bei Nietzsche auch immer missverstanden worden: Produktive Indifferenz heißt nicht, dass man sich Stellungnahmen versagt oder dass man [durcharbeitet] bis zu dem Punkt der Feststellung, ich kann es als gelungen akzeptieren, denn ich habe mir Mühe gegeben – das einzige Kriterium, dass ein Künstler kennt: Ich habe hinreichend lange daran gearbeitet. So, dass ich sagen kann, länger kann ich es nicht ertragen, nicht bringen. [Das ist die] einzige Form der Selbstakzeptanz, nicht dass es vollendet ist. Das kann keiner sagen. Gerade die Profis können das von sich aus niemals sagen, sondern, ich habe alles getan, alles drangesetzt, was ich konnte und deswegen kann ich zu mir ja sagen.

Bei Thomas Mann tritt das in unendlichen Variationen auf – gerade Leiden und Größe Richard Wagners, bezogen auf Nietzsche ist das ja eines der Hauptthemen. Produktive Indifferenz heißt, ein Zeichengefüge wie einen Text so zu erarbeiten – und das ist nun für die Rezeption von Nietzsche eine Nagelprobe –, dass er in beliebiger Weise so, so oder anders verstanden werden kann. Wenn aber der daran Arbeitende vergisst, dass es sich ja hier um eine ostentative Form der Falschheit in Bezug auf die abwesende Wahrheit darstellt, dann kommt es zu solcher Vereinnahmung, dass Nietzsche [einerseits] für die Nazis, andererseits für die Linke und dritterseits für die Humanisten zum jeweiligen Kronzeugen dessen wird, was sie ablehnen beziehungsweise was ihnen durchsetzungswürdig und wichtig erscheint. Das heißt, die produktive Indifferenz ist nur eine Methode, [um] aus der Aporie herauszukommen, wenn man weiß, dass es sich dabei um eine Form der Legitimation durch das Bewusstsein der Falschheit handelt. Oder wie später Wissenschaftstheoretiker sagen, Wiener Schule, durch das Moment des gelungenen Scheiterns, dass also alle Wahrheitsansprüche einer wissenschaftlichen Hypothese sich nur dann erweisen, wenn sich die Hypothese widerlegen lässt.

Das ist die einzige Form begründeter, rechtfertigter Orientierung auf die Tatsache, dass mit seinem Arbeiten das Problem immer unfasslicher, immer komplizierter – heute sagt man ja komplexer, das ist eine Ausrede – wird, weil das Ziel am Ende nur darin bestehen kann, diesen Prozess der permanenten Problematisierung über Generationen fortzuführen. Deswegen kann es keinen genialen Ontologen geben, der definitiv das System der Ontologie nun schließt – wie man das noch [von] Kant oder Hegel oder Fichte [...] oder jemandem aus dem Bürgertum erwartet hat –, sondern nur von Generation zu Generation weitergegebene Arbeit an dem prinzipiell unlösbaren Problem. Und der Witz in der Philosophiegeschichte, nicht Historizität, ist die Kontinuität der Problematisierung[en], die nicht aufgegeben werden kann, weil niemand erklären kann: Das Problem hat jetzt seine Bedeutung verloren. Es kann die Bedeutung nicht verlieren, wenn wissenschaftliche Arbeit immer stärker Problematisierung bedeutet. Wenn es aber immer problematischer wird, so wird die Bedeutung des Problems umso größer. Es kann also niemandem einfallen zu sagen, jetzt Schluss mit der Ontologie, ihr kommt ja doch zu keinem Schluss, jetzt hören wir auf, das Problem ist irrelevant.

Gerade durch die generationenlange Arbeit an diesem Problem sind die Probleme dringlicher geworden, weil sie ihre prinzipielle, immer weiter gehende Unlösbarkeit demonstrieren. Und alles, was für den Menschen Unlösbarkeit repräsentiert, hat das höchste Interesse, weil die größte Gefahr, die größte Irritation davon ausgeht. Mit anderen Worten, es lässt sich nicht per Dekret erklären: gescheitert, Erfolg abgebrochen. Wir brauchen keine Ontologie mehr, keine Philosophie mehr und vor allem, bezogen auf das Problem, das wir hier behandeln, Historizität, einzustellen oder sozusagen abzutäuben oder abzustützen oder in einen Bergwerksstollen zu verfrachten, aus dem niemand mehr herauskommt. Das ist nun eine andere Version des heute Vormittag oder Nachmittag angesprochenen Sachverhaltes, nämlich einerseits die Dissonanz und andererseits die Orientierung auf die Moderne. Was heißt Moderne?

Moderne heißt nichts anderes [als], und das ist die verbindlichste Formulierung – Sie können alle abgleichen, es kommt immer nur eine raus, die bei allen gilt –, die Orientierung auf das absolut Neue. Alle Modernität – nicht als Epochebegriff, sondern als Strukturbegriff – seit dem 5. Jahrhundert zumindest, seit dem Streit zwischen Sokrates und den Sophisten – und da gibt es regelmäßig immer dieselbe bis zur ‚querelle des anciens [et?] modernes‘ im Sinne der neueren Philosophiegeschichte, die wir wunderbar kommentiert haben. Da heißt es bei Nietzsche nicht cogito ergo sum, sondern coito ergo sum sum. Das ist der Punkt, also natürliche Kulturalität des Menschen. Orientierung auf das Neueste – wer nimmt das ernst? Nicht die gemütlichen Herrschaften, die sagen, eine neue Teekanne, ein neues Auto – also immer ein kleines bisschen optimierter und besser – sondern [die] die sagen, das Neue ist das schlechthin qualitätslos Unbestimmte. Das muss man erst einmal finden. Das heißt, die ungeheure Anstrengung der Künstler und Wissenschaftler durch Problematisierung etwas völlig Unfassbares, Neues, Qualitätsloses herzustellen, ist das Movens der Moderne. Warum? Warum ist das sinnvoll? Weil es nur eine Möglichkeit gibt, es gibt eigentlich drei: Es gibt drei Möglichkeiten sich auf diese Zumutung des Neuen einzulassen: a) Ikonoklasmus – man haut es kaputt, das hat es ja immer wieder gegeben; b) Man leugnet es – wie unser Hund: wenn wir dem etwas Undefinierbares in seinen [Käfig] stellen, macht er so: Hab ich gar nicht gesehen. Erst versucht er daran zu rütteln, um zu sehen: Na, kann ich da manipulieren? – Nein. Dann schließlich tut er so, als ob das gar nicht vorhanden wäre. Leugnen, das war die große Entdeckung von Freud, systematisiert von seiner Tochter Anna [in den verschiedenen Strategien] in den berühmten sieben Strategien. Oder [c)], das ist jetzt das Entscheidende, einen Erfolg versprechenden Gebrauch von dem absolut Unbekannten, Inhaltslosen, Leeren, Unverfügbaren – das ist Adornos Zugang […] –, von dem Inkommensurablen zu machen, von dem Apokryphen zu machen. Nämlich, die einfach logische Operation zu vollziehen, dass vom Neuen in diesem Sinne ja nur zu sprechen ist im Hinblick auf das Alte. Denn, wenn das Neue keine Bestimmung hat, lässt sie sich nur durch die Denknotwendigkeit seiner grundsätzlichen Begründung, nämlich durch das Alte thematisieren. Also ist das Neue nur durch die Beziehung dieser Zumutung auf das Alte thematisierbar. Das heißt, das Neue wird nur in Form der Bildung neuer Traditionen sichtbar. Mit anderen Worten, die Orientierung auf das absolut Neue als das absolut Inhaltslose oder produktiv Indifferente ist die Wiedergewinnung der Tradition. Sodass die absolute Avantgarde der Modernen, das heißt die Speerspitze der Orientierung der Modernen, darin besteht, Traditionen zu sichern – das Gegenteil von dem, was alle behaupten.

Genau das hat das Bauhaus getan. Das Bauhaus war die Sicherung der Tradition unmittelbar mittelalterlicher kollektiver Arbeit an dem Projekt Bau des himmlischen Jerusalems unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts. Also eine Fähigkeit, jeweils Traditionen neu dadurch zu schaffen, dass man das angeblich historisch Abgestandene auf dem aktuellen Stand der Problematisierungen hält. Dazu baut man Institutionen, die heißen Museen. […] Nietzsche sagte immer, in den Künsten gibt es keinen Fortschritt, was völlig richtig ist […]. Fortschritt in den Künsten gibt es nicht und auch in der Gattung natürlich nicht, […]. [In der] Wissenschaft und [in den] Künste[n] gibt es keinen Fortschritt. Ganz eindeutig, dass der Fortschritt nur beschreibbar ist als das immer Breitere: Vergegenwärtigungen aller überhaupt denkbare[n] geschichtlichen Ereignisproduktionen in der Gegenwart. Das heißt, mit anderen Worten, je mehr Museen eine Gesellschaft hat, desto fortschrittlicher ist sie. Weil sie nämlich alles Potenzial des Historischen auf dem aktuellen Stand der Problematisierungsfähigkeit hält und damit eine viel bessere Orientierung auf die Zukunft ermöglicht – weil die Zukunft das Neue schlechthin ist. Das, wovon wir gar keinerlei Wissen haben können – wenn wir keine Spökenkieker sind, wenn wir keine Beschwörungstheoretiker sind oder Spiritisten sind – dann ist die Zukunft das Neue schlechthin, das Andere schlechthin, das Unbeherrschbare schlechthin, das Unkenntliche schlechthin. Also ist das nur möglich, wenn wir die Orientierung auf dieses Neue durch die jeweilige Fähigkeit der Reproblematisierung – Re-Entry im Sinne dieser Vorstellung jetzt historistisch gesehen – aktivieren.

Das heißt, das Museum ist der höchste Inbegriff der Fähigkeit einer Gesellschaft ungelöste Probleme aktuell zu halten auf einer breiten Basis, die niemand mehr, selbst wenn er es in einem Falle leugnet, hier Fundamentalist zu sein, das in einem anderen Falle eben nicht kann. Das ist jetzt im Iran sichtbar, [in dem] die Ayatollahs gegen den Teufel der westlichen Technologie wettern und gleichzeitig [eine] Kalaschnikow und das Mikrofon vor sich haben um die Teufelei der Technologie anzuklagen. Sie benutzen die Maschinerie um sich dagegen zu wehren.

[Das] hat der Nietzsche auf wunderbare Weise beschrieben und man weiß, wie man aus dieser Aporie rauskommt, man schießt. Sehr einfach. Der Kern der Sache ist also im Hinblick auf die Orientierung auf das absolute Neue, dass es die genialste Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit im Zustande der Reproblematisierung ist und wer heute mit wachen Augen, beispielsweise unter den Vorgaben von Systemtheoretikern, Platons Der Staat liest, liest etwas, was er noch nie gelesen hat. Als 1905 die Brücke-Maler ihre Zumutungen der Farbschmiererei unters Volk brachten, konnte man es zerstören, man konnte es leugnen […] oder man ging aggressiv dagegen vor. Zur Wirkung kam es als einer sagte, Moment mal, ich bin Kurator des Museums Prado, und ich erinnere mich merkwürdig, da haben wir doch einen Mann, der ist 1614 zum letzten Mal gezeigt worden. Den hol ich mal raus – guckt, sieht, die Brücke-Maler und denkt sich, das ist ja wie heute. Wie heißt denn der? El Greco. Donnerwetter.
Also, was ist jetzt hier passiert: Man hat durch die Wirkung des absolut Neuen, Unverfügbaren der Brücke-Malerei eine historische Gestalt, wie den Maler El Greco zu einem Zeitgenossen gemacht. Unser Kanzler Schmidt hat das immer noch so ausgedrückt, der hat immer davon gesprochen, dass die Macht des Expressionismus darin bestünde, dass El Greco sein Zeitgenosse geworden sei. Herrliche Darstellung dessen, worum es wirklich ging. So ging das fort. Loos hat 1902 die berühmte ‚Ornament ist ein Verbrechen-Kampagne‘ gestartet. Die Leute haben wirklich [entweder] in Wien mit geballter Faust Mordgedanken gehegt gegen diesen Mann, der die nackte weiße Wand ihnen zumutet, das beschnittene Auge – die berühmte Metapher, das Abschneiden der Augenlider, die Wandlaibungshärte und die graphische Zeichnung –, also Konfrontation mit der nackten weißen Wand.

Wir haben das einmal nachgeprüft vor 30 Jahren oder noch länger. Es ist tatsächlich so gewesen, dass vor den Zumutungen von Loos in der Formulierung des architektonischen Problems nackte weiße Wand mit Ausnahme eines Mönchs, der 1750 eine kurze Bemerkung dazu gemacht hat, niemand gesehen hat, dass Palladio und Brunelleschi pausenlos mit dem architektonisch-sprachlichen Mittel der weißen Wand gearbeitet haben. Von der Pazzi-Kapelle bis zu den Veneto-Villen von Palladio ging das. Das waren nicht nur (potenzielle) Bildträger etc., sondern es war ein eigenständiges architektonisches Formulierungsmittel. Vor Loos wusste es keiner.

Das heißt also, mit [dem] Druck der Zumutung des Neuen von Loos wurden Palladio und Brunelleschi als aktuelle Träger eines Problembewusstseins der Generation von Loos, also der Leute der modernistischen Gründungsphase, man kann sagen, der letzten Vorläuferphase vom Bauhaus ausgezeichnet. So ging das durch und am Ende erwies sich das 20. Jahrhundert im Sinne der Prophetie von Nietzsche als [ein] extrem produktive[s], weil es die radikalste Orientierung auf das im Begriff der Begrifflosigkeit fassbare Neue, Inhaltslose, Inkommensurable usw. – die Synonyme kennen Sie, die dafür im Umlauf sind – [Verb fehlt: zum Programm machte?]. Erstaunliche Tatsache, nämlich dass es [das] außer im 20. Jahrhundert vielleicht noch 1400 bis 1410 in Florenz gegeben hat oder vielleicht 460 bis 440 [v. Chr.] in Athen beim Realisierungsprogramm der Akropolis des Phidias, des Bildhauers Iktinos und des politischen Führers Perikles – also das Programm Perikles, Iktinos, Phidias […] –, aber es gibt ganz wenige vergleichbare Zeiten mit so einem Potenzial wie das 20. Jahrhundert es wirklich gewesen ist. Also eigentlich das Potenzial, das sich aus dieser prognostischen Kraft Nietzsches oder man kann auch sagen, aus dieser Anleitung zum Ja-Sagen ergibt. Das heißt nichts anderes, als ein[] wirkliche[s] Vertrauen auf das Unbestimmte, Unbekannte, Unhantierbare, nicht Fesselbare, nicht beliebig Verfügbare, mit anderen Worten auf die Wirklichkeit. Das ist die Nietzsche'sche Jasage-Lehre. Im Hinblick auf die [also] gerade nicht, ja weil ich darüber verfüge, weil ich es manipulieren kann, weil ich es beliebig zurechnen kann, weil ich es mit militärischer, kaufmännischer Macht – so wie die Idioten jetzt im Finanzkapital, die alle Wahnsinnige waren, weil sie glaubten, sie als Master of the Universe könnten nach Belieben über die großen Energieströme der Welt verfügen, wenn sie mal hier ein paar hundert Millionen und da ein paar hundert Milliarden reinschossen – alles Wahnsinn. Mit Nietzsche wäre so etwas nie passiert. [Satzfragment].

Das absolute Prinzip der Wirklichkeit heißt, was du da tust, ist unverfügbar. Alle Macht der Welt führt nicht dazu, dass du nach Belieben mit den Resultaten des Eigenhandels umgehen kannst. Sie entziehen sich dir. Sobald sie wirksam werden, sind sie wirklich und damit nicht mehr deinem Belieben unterworfen – das Gegenteil von Relativismus, von Abwertung der Orientierung auf die Wertigkeiten etc. Die Bauhäusler, hier speziell in der Phase 1919, die – wie heute Nachmittag gezeigt wurde – auf das erste Programmheft Feiningers Darstellung der Kathedrale gebracht haben, haben genau in diesem Sinne gewusst, dass […] das neue Spiel, das neue Leben, die neue Gestaltung etc. – das ist doch alles Hokuspokus, das ist alles leeres Phrasengedresche –, dass das nur rechtfertigbar war mit der Kraft, die von diesen Gestaltungsvorgaben ausging, die Tradition neu zu formulieren. Das heißt, die Kraft etwa des teamarbeitenden Bauhauskollektivs, das war sozusagen der sozialistische Impact, man kann auch sagen, der lebensreformerische Impact. Teamarbeit ist nur von voll entfalteten, freien Individuen möglich. Kleingeister können kein Team bilden. Das ist eine Sklavenmannschaft, die gepeitscht wird und dann reagiert. Aber ein Team wie zur „zweiten Eröffnung“ des Bauhauses, der Gründung der Hochschule für Gestaltung Ulm, das hat Gropius 1955 ausgeführt (das gibt es als Tonträger), bilden nur voll entfaltete Individuen als Autoren, die Autorität eben wechselseitig dadurch zulassen, dass sie Autoren sind.

Diese Teamfähigkeit gewinnt man eben nur, wenn man das, was man da postuliert – der neue Mensch, die neue Form, das neue Haus usw. – als Phrasendrescherei kapiert, [als] unumgänglich für die Konfrontation mit etwas nicht Beherrschbarem, Neuem, sozusagen der Naturmechanik unseres Denkens – wir nennen das die Logik der Dummheit – und aufgrund dieses Wirkens dann den Beweis für die Begründbarkeit dieses Geschwätzes, des Begriffsjonglierens der Modernisten liefert, in dem tatsächlich, also sozusagen physiologisch, neurologisch der Beweis für die neue Attraktivität der Tradition wie hier im Sinne [des] Kathedralbau[s] gewesen ist. Und dass die Bauhütte die Namensgebung des Bauhauses bestimmt hat. Dass der Übergang von Bauhütte zu Bauhaus tatsächlich die Programmatik darstellt, nämlich vom Anspruch des absolut Neuen her [gegenüber dem] historisch Überkommenen wie die Bauhütte als eine absolut zeitgemäße Form des kollektiven Operierens einer Gemeinschaft als Autorenteam anerkannt. Das wurde dadurch sichtbar, das weiß man, da[] zum Beispiel die einzelnen Steine der Kathedrale mit den Steinmetzzeichen signiert sind, weil der Steinmetz darauf besteht, dass seine große Bedeutung darin besteht, seinen Teil mit seinem Logo gesichert, das ganze als ein Teamwork seinesgleichen erst ermöglicht. Und das großartige daran war, dass sie keinen Architekten kannten, dass es keinen vorgefertigten Plan gab, den man bloß realisieren musste, also Theorie und Praxis sich unterschieden […]. Das war gerade die Programmatik, welcher diese Moderne folgen wollte: Entwickle aus dem Prozedere des Teamarbeitens selbst – das heißt, der wechselseitigen Zulassung, dass einer etwas sagt, was der andere nicht kapiert, was der andere gar nicht akzeptieren kann, weil er es nicht nachvollziehen kann – Zutrauen zu der Kraft [einer] einzelne[n] Autorität durch seine individuelle Autorschaft als Maler, als Bildhauer, als Schreiber oder als Erzieher, die dazu führt, dass man sich selbst aufgehoben weiß im Problembewusstsein des Anderen.

Das heißt, meine Bedeutung besteht darin als individueller Teil dieses Teams der – wieder Paradoxie: – […] Gemeinschaft der Einzelgänger. Das war eine typische Formulierung damals: Die Gemeinschaft der Einzelgänger, der Individualisten. Dass mein Anspruch auf Autorität durch singuläre Autorschaft dadurch gestützt [wird], dass andere ihn auch erheben. Das war’s. Und das war genau das, was mit dem Bauhüttenprinzip verbunden ist: Da gab es keinen obersten Architekten, da gab es keinen bloß realisierbaren Plan. Alles wurde aus diesem Zusammenschluss der Könner, der einzelnen Bildhauer, Steinmetze etc. hervorgebracht. Insofern ist das Bauhaus tatsächlich einem Grundkonzept Nietzsches gefolgt, wenn auch eben nicht in dem primitiven Sinne: Die haben Nietzsche gelesen und gesagt, das machen wir! Das wäre ja gerade die kindische Abweichung von diesem Prinzip. Sondern im Zutrauen, sozusagen im blinden Vertrauen auf diese Kraft der Ausdifferenzierung […]: Der höchste Grad der Individualisierung gelingt, [so]wie jemand teamfähig wird. Das heißt, was 1480 von Piero della Francesca in seiner Altersschrift „Anleitung an die Kaufleute“ etc. geschrieben wird – „Ich kann nicht mehr malen, ich habe Gicht, jetzt schreibe ich euch das auf.“ –, was von da ab geschrieben wird [und] wunderbar von [Michael] Baxandall dargestellt ist: Wir stellen einen Fürsten von …, einen oberitalienischen Condottiere, einen regionalen Machthaber, einen Bürgermeister, einen Großvater etc. nur dar als diese besondere Persönlichkeit, die man sogar an seiner Knollennase, an seinen Warzen identifizieren kann, weil er nicht sich, sondern seinen Anspruch auf soziale Repräsentanz, also weil er sich als den Vertreter seinesgleichen sieht. Er ist nur in dem Maße Individuum wie er das res publica, wie er das Allgemeine vertritt.

Nur in dem Maße bin ich Individuum, wie ich das Allgemeine repräsentiere und darauf bestehe. Das heißt die großen Einzelnen in der Politik, im Militärwesen sind diejenigen, die im höchsten Maße durch sich selbst das Prinzip der allgemeinverbindlichen Orientierung auf die Affairen, auf [die] Notwendigkeiten, also auf die res publica [verkörpern]. Nur der ist als Träger eines solchen Anspruchs legitimiert, der eben nicht sich als diese Individualität repräsentiert, sondern darin die Fähigkeit gewinnt, das Ganze zu repräsentieren. Das ist das Prinzip der Portraitkunst ab 1480. Das können Sie bei allen nachvollziehen, wie das läuft, eine unglaubliche Voraussicht.

Was Nietzsche mit seiner Orientierung auf die Renaissance betont hat, ununterbrochen betont hat, er ist ja geradezu [darauf] fixiert – es gibt eigentlich nur noch Goethes Wilhelm Meister, auf [den] er mehr fixiert wäre, vielleicht noch den österreichischen Romancier Stifter – [und seinen] Nachsommer –, vielleicht noch auf den Nachsommer, aber dann ist auch schon Schluss. Das ist unglaublich, wie er das hervorhebt und darin den wirklichen Wechsel von der preußischen bürgerlichen Dogmatik, der militärischen Feudalanmaßung hin zu dem Prinzip der modernen Individualität begründet. Sie wissen ja, er war der stärkste Gegner der Ersetzung des deutschen Geistes durch das Deutsche Reich, also [er war] der stärkste Kritiker mit Fontane – nur die beiden kommen überhaupt in Frage – des großen Schwindels der deutschen zweiten Reichsgründung – darin hat er natürlich auch seinen Widerstand gegen Wagner schließlich begründen können. Er hat in höchstem Maße sich gegen die Anmaßung der preußischen Adelsfamilien zur Verwaltung des Staates gewendet, er war ganz gegen alles das, was ihn [unterschied?] in der idiotischen oder willentlichen Missinter[pretation]. Aber das ist die Konsequenz von produktiver Indifferenz des Übermenschen [in] der Modellvorstellung von Kindergärtnerinnen oder von Müttern, die Helden gebären wollen, am Besten gleich einen Heiland. Das haben ja die Leute gedacht, wenn man von Übermenschen redete[] und dann haben sie ihre Kinder entsprechend traktiert.

Also, der es fertigbekommt, in dieser Hinsicht absolut modern zu sein – das ist das Wirkliche. [Die] Postmoderne hat das vollkommen missverstanden, aber jetzt besteht eine Chance dazu: nämlich, dass im Unterschied zu der Auffassung jetzt gerade nicht Werterelativismus – er betont das ständig, lesen Sie nur die 88er Aufzeichnung[en], da haben Sie es hundert Mal –, gerade kein Werterelativismus, gerade kein Nihilismus als Programm des Laissez-faire von ihm vertreten wird, sondern das ganze Gegenteil. Aber die Verbindlichkeit [wird] nicht mehr im fundamentalistischen dogmatischen Diktat durchgesetzt, nicht mehr von der Aristokratie, nicht mehr von Bismarck und den Reichsbischöfen etc., sondern aus dem Prinzip der Individualisierung, nämlich des künstlerischen, wissenschaftlichen Arbeitens als Autor, das heißt, als jemand, der seine wichtigste Funktion gerade darin sieht, durch Problematisierungsleistungen jeden Anspruch auf Dogmatik, auf Durchsetzung von Absolutheit aufzulösen. Und damit war er der einzige ernstzunehmende Gegner – Fontane als Romanschriftsteller wurde zu sehr vereinnahmt, er war der Lieblingsschriftsteller des preußischen Klüngels – aber Nietzsche blieb als Gegner verbindlich. [Er war] der einzig ernstzunehmende Gegner dieser völlig missverstandenen Orientierung auf Modernität, die übrigens von den Gewerkschaften bis zu den Manchester-Kapitalisten gleichermaßen vertreten worden ist. Bauhäusler haben ihrem Gründungspapa immer wieder angedichtet, er sei zurückgefallen in die Attitüden des obersten Richters, der obersten Autorität, der das Sagen hat, aber wenn Sie sich wirklich mit Gropius' Begründungsschrift – vor allen Dingen [mit] dieser wahnsinnig interessanten Rechtfertigung, die er [19]55 bei der Wiedereröffnung von Ulm [gehalten hat], die öffentlich [war] und dokumentier[t] ist – dann sehen Sie, dass es ihm wirklich im öffentlichen Sinne um die Begründung der neuen Verbindlichkeit sozialer Bindungsfähigkeiten dieser Individuen ging, die er im Begriff des Teams tatsächlich durchgesetzt sah.

Team ist das Gegenteil von einem marschierenden Regiment oder von einer Gutsherren-Hilfsmannschaft, die morgens eingeteilt wird, um bestimmte Aufgaben zu übernehmen. [Ein Team], das ist die sich selbst organisierende Einheit in der Vertretung des Allgemeinen gerade durch den höchsten Grad der Individualisierung. Also trauen Sie keinem zu berufendem Herren, der [überschwenglich] betont, dass er sich so gerne anpasst und dass er ein großartiger Kollege ist und er spielt auch noch Cello, falls Sie für Ihr Quartett noch jemanden brauchen und dass er so umgänglich sei und dass er so freundlich [zu] jedermann sei. Das ist die Falschheit, aus der das Elend der Anpassung kommt. Wenn irgendjemand auftritt und sagt, ich lasse mich von Ihnen in keiner Weise beeindrucken, Sie können mir jetzt die Hunderttausende vor die Füße werfen, ich ziehe meinen Striemel durch, dann ist das schon ein höherer Grad von Verlässlichkeit. Und wenn der Ihnen noch mitteilt, dass er Sie für Idioten hält, lassen Sie ihn fallen, das hat keinen Sinn. Wenn er Ihnen aber darstellt, auf welche Weise er sich selbst als Idiot kennt, der Ihnen Vertrauen entgegenbringt, weil er vermutet, Sie seien auf der gleichen intellektuellen Höhe und könnten sich selber auch als Gauner, Idiot, als Lügner, als Fälscher etc. erkennen, den können Sie wählen.

Das ist wunderbar dargestellt schon in der Zeit der berühmten […] [der] Kindsmörderinnenprozesse so um 1750 […], die auch die Literatur bestimmt hat, wo gezeigt wird – das ist [übrigens] ein großartiger Ansatz für Büchner und andere –, dass die Angeklagte und alle gleichermaßen Bedrohten nur zu Richtern Vertrauen hatten, die Verständnis für das zeigten, was vorgegangen ist. Wie Goethe es ihnen nahe gelegt hat: Ich kenne kein Verbrechen zu dessen Ausführung ich mich nicht in der Lage sehe. Das ist die neue Haltung. Das heißt, der höchste Anspruch auf Moral, auf Wahrheitsfähigkeit ist [der] des sich selbst kennenden Lügners, Kriminellen usw. Diese Vorgabe, zum Richteramt ist nicht befähigt, wer behauptet, er hätte keine Vorurteile, er hat studiert, er würde nur den Wortlaut des Gesetzes gelten lassen, alles andere interessierte nicht; bis hin zu demjenigen der sagt: „Liebe Angeklagte, [ich] spreche[] zwar immer nur durch die Blume, weil ich Ihren Gestank aus Ihren Kleidern nicht ertrage, aber ich kenne mein Vorurteil, wer stinkt, wird von mir gleich mit drei Monaten mehr belastet.“, dem können Sie vertrauen. Wer Ihnen sagt, „Wenn Sie noch einmal in der Nase bohren auf der Anklagebank, werde ich Ihnen allein deswegen ein halbes Jahr mehr geben. Ich kann es einfach nicht leiden. Und wie Sie schon dasitzen – hören Sie auf und setzen Sie sich richtig hin.“, der Mann ist vertrauenswürdig als Richter. Wer aber dasitzt und sagt, „Ich kenne nur das Gesetz, ich bin über alles erhaben: Weder Gestank noch Popel, noch irgendwelche unangenehmen [Gerüche], behalten Sie ruhig die Mütze auf dem Kopf, das stört mich nicht.“, das [ist eine] mit höchster Vorsicht zu behandelnde autoritäre Persönlichkeit[] – autoritär im Sinne der Studie von Horkheimer/Adorno, mit der wir ja alle in der Jugendzeit traktiert wurden.

Ich habe dann versucht, die Nagelprobe zu machen. Adorno wurde heute schon angesprochen, wir wurden, wenn wir belohnt werden sollten für gute Arbeit, zu ihm nach Hause eingeladen. Frau Adorno – wir wollen jetzt hier nicht familiär werden – […] hatte schon dafür gesorgt, dass die kleine Gruppe der ausgezeichneten Studenten bei ihnen bewirtet werden sollte. Und das war ganz raffiniert. Dort stand also ein Flügel und auf dem Flügel [lag] ein Spitzendeckchen, ein Häkeldeckchen, auf dem Häkeldeckchen ein Kristallaschenbecher und Storen an den Fenstern und davor Töpfe mit Gummibaumbestand. Also jeder der [he]reinkam sagte: „Um Gottes Willen, Herr Professor, Sie sind der Repräsentant der Moderne und was sehen wir hier: lauter bürgerlichen Müll. Wo ist denn Ihr Einsatz für die Moderne der Gestaltung und der Musik? Sie leben doch wirklich im Bürgerplüsch.“

Worin natürlich dann die Herausforderung bestand, nämlich zu kapieren, dass nur jemand der unter diesen Bedingungen im Bewusstsein der Falschheit lebt, eine begründete Beziehung zu der Wahrheit, die es nicht gibt, hat, nämlich der Reinheit der Gestaltung, der Reinheit des Stils und der großartigen Umsetzung von Begriffen in Materie und gesägtem Holz etc. Das war fantastisch so eine Aufklärung von ihm zu bekommen. Die noch so perfekte Möbelindustrie hätte nichts herstellen können, was uns den Eindruck vermittelt hätte, er sei absolut modern. Er ist nur absolut modern, [weil] er an seinem bürgerlichen Plüsch hing und ständig das Motiv entwickelte „Raus da, das muss raus da! Es ist ja grauenvoll wo wir hier sitzen, Furz-Mull, Teppiche, diese Perserbrücken, alles voll. Die ganze Adorno-Wohnung, das können Sie sich nicht vorstellen! Sowas da am laufenden Meter und das war der Repräsentant der Moderne. Das war eine Lehrstunde für uns. Da wussten wir Bescheid, da ging es nicht mehr mit „Wer bekennt hier den perfektesten Einkauf von Mann-Möbel?“, [so] hieß das damals, dass er programmtreu ist und dass er sich sofort die allerneuesten Designs zulegt und sofort bekenntnishaft das Design auswählt um eben dieses Bekenntnis abzugeben.

Die größte Konsequenz daraus ergibt sich für das Bauhaus-Programm aus der Tatsache, dass eben nebeneinander herausgehobene singuläre Künstlergestalten arbeiteten, die programmatisch nichts gemein hatten. Überhaupt nichts. Ein Kandinsky hatte nichts mit Schlemmer gemein, ein Schlemmer hatte nichts mit dem Grundlehrer, einem Mazdaznan-Anhänger – da haben die sich lustig gemacht über diesen Irrsinn – gemein und so fort. Mit anderen Worten, die Großartigkeit bestand darin, dass sie eine Versammlung vollständig heterogener Persönlichkeiten [darstellten], die Stil und Vorgehensweise vollkommen [verschieden waren]. Nur eins hatten sie gemeinsam: Sie waren alle auf dem höchsten Niveau individualisiert und konnten sich wechselseitig zutrauen, dass man sich schätzt, weil man im anderen nicht, durch die eigene Selbststatur, […] einen Konkurrenten vermutete, den man ausschalten musste – sondern wusste, ich werde in dem Maße erhöht, [in dem] ich mich auf andere meinesgleichen beziehe.

Das ist immer das Kriterium der Nietzsche'schen übermenschlichen Fähigkeiten oder der überkulturellen Begründung, nämlich: Wer mir überlegen ist, adelt mich in dem Augenblick, wo er zulässt, dass ich mit ihm arbeite. Die Kleingeister […] – in der Berufungskommission jeder Universität können Sie das studieren – fürchten sich, die besseren Leute zu berufen. Die guten Leute [dagegen] berufen immer diejenigen, die besser [sind, als] sie [selbst]. Ein klassisches Verfahren seit 1864, das ist der berühmte preußische Erlass des Staatssekretärs der die gesamte Wissenschaftsrevolution durchgesetzt hat: Nur die Fakultät, die bessere Leute beruft, als es die Berufungskommission will, kriegt auch tatsächlich den Ruf zugestanden. Alle anderen werden von vornherein aussortiert. Das hat der durchgezogen. Und das war der Entwicklungsschub, den die deutschen Universitäten bekamen. Das Ministerium ließ keine Berufung zu, bei der der zu Berufende schlechter war als die Leute, die da[] waren. Sie wurden nur mit einem neuen Ruf ausgestattet, wenn der der kam besser war. Das ist ein großartiges Prinzip, das in diesem Bauhaus-Konzept wieder zur Geltung gekommen ist. Die hatten keine programmatische Einheit, es gab überhaupt keine weltanschauliche Übereinstimmung. Sie waren vollständig in unterschiedlicher parteipolitischer Zurechnung. Es hat unter [ihnen] noch einen Skandal gegeben als der erste und zweite Nachfolger von Gropius einerseits nach rechts wies[en?], andererseits nach links die kommunistische Fraktion Entscheidungen glaubten vorfabrizieren zu können für das Institut. Da gab es Krieg […]. Insofern ist das wirklich eine Nietzsche'sche Gemeinschaft gewesen, dieses Bauhaus. [Jedoch] nur solange wie es eben diese Möglichkeit gab. Als die Politik sich dann bemerkbar machte und zum Maßstab der übermenschlichen Fähigkeiten der Menschen der Parteifunktionäre, [der] Otto-Normalverbraucher wurde, war es natürlich aus mit der Leistungsfähigkeit. Der Abstieg der deutschen Hochschulen und Universitäten begann. Das hat es noch einmal ganz kurz gegeben, bis ungefähr in die 1980er Jahre und dann war Schluss. Jetzt herrscht die Zulassungskommission, die Qualifizierungskommission […], die Bibliometrie von Bertelsmann-Angestellten. Sie müssen sich vorstellen, welche Anmaßung darin besteht. Da wünscht man sich Nietzsche mit der Peitsche. Wir haben ihn wirklich neulich herausgestaltet. Die Nietzsche-Peitsche sieht ja anders aus […] – gucken Sie sich das in unserem neuesten Buch an, das heißt Lustmarsch durchs Theoriegelände, da ist das abgebildet.

Da sitzen Leute [von] Bertelsmann, fünf Dummköpfe, Hanseln, die sich anmaßen, die Entwicklung der deutschen Universitäten im Namen der europäischen Angleichung, im Namen der interuniversalen Vergleichbarkeit darzustellen, anstatt im Namen der Unterscheidbarkeit, der jeweiligen Heraushebung der individuellen Ansätze, im Namen der Subsumierbarkeit unter Zwergenschemata darzustellen. Privatleute – die gesamte Republik hat sich gleichschalten lassen von ein paar Vollidioten, die im Bertelsmannkonzern sitzen und das Regime führen. Schlimmer als im Goebbels-Ministerium, [schlimmer] als Gleichschaltung je vorgekommen ist. Das heißt natürlich nicht, dass es im Dritten Reich nur die Goebbel'sche Gleichschaltung gegeben hat, es hat natürlich auch Verfolgung, KZ und anderes gegeben. Aber im Hinblick auf die Gleichschaltung ist die Goebbel'sche Gleichschaltung weniger erfolgreich gewesen als die Bertelsmann'sche Gleichschaltung der Bundesrepublik der letzten zehn Jahre. Das ist unbestreitbar.

Es gab ein paar Leute, denen sogar die F[rankfurter] A[llgemeine] Z[eitung] die Möglichkeit gab, das darzustellen. Das war eine Wuppertaler Professorin [Namen vergessen, siehe weiter unten]. Letzte Woche haben sie sogar den Bericht eines Theologen gegeben: „Warum ich aus der Universität ausscheide: ich ertrage diesen Terror der Gleichschaltung von diesen Leuten nicht mehr.“ Das hat schon wirklich inzwischen Format, sodass man sich einen literarisch fähigen Mann wünschte, der das im Nietzsche'schen Stile darzustellen vermöchte. Wir haben dazu alle die Fähigkeit glaube ich nicht. Vielleicht hätte sie ein Sloterdijk, ich weiß es nicht, der ist ja als Schriftsteller – Sie würden fehlgehen, wenn Sie ihn einen Philosophen nennen – großartig wie Nietzsche. Ein großartiger Schriftsteller, der eben solche Problematisierungsstrategien – wie sie die Philosophen in die Welt gesetzt haben und Wissenschaftler sie in die Welt setzen – bearbeitet, sodass wirklich entsprechende Impacts entstehen. Aber bisher hat er sich nicht geäußert. [Weiter zur Wuppertaler Professorin:] Also das war die erste, wirklich eine ganz mutige Romanistin, die bis ins Detail diesen Terror von Gütersloh auf den deutschen Universitäten dargestellt hat. Das zur Auswirkung.

Es gab noch einmal eine Diskussion dazu, als nämlich 1967 in der Nachfolgegründung des Bauhauses, das sich als eine Konsequenz des deutschen Widerstandes gegen Hitler gab – unmittelbar Beteiligte waren in beiden Fällen identifizierbar, persönlich auch engagiert, mit ihren Gatten, mit ihrer Familie etc. – […] als sich Frau Filbinger, die Gattin des Ministerpräsidenten von [Baden-Württemberg], dieses berühmten Richters nach Ulm begab, uns alle antreten ließ und überprüfen wollte ob wir denn auch den Erwartungen an Modernität entsprochen hätten und sie kam zu dem Schluss, dass wir alle völlig unfähig wären in diesem Sinne zu arbeiten, denn es gäbe kein einheitliches Programm, obwohl nun Ulm bis ins Letzte große Leistungsverpflichtungen eingegangen [war] gegenüber Industrie und allen möglichen. Dass wir gar nicht wüssten was wir wollten: „Wo ist denn das Programm, woraus folgern Sie denn hier alles?“, und so fort. Und sie hat ihrem Mann dann innerhalb von drei Monaten klargemacht, dass er Ulm zu schließen habe. Das war sozusagen die letzte Probe. Eigentlich ist das nichts anderes als das, was sich unter Goebbels ereignet hat: Gleichschaltung […].

Das sind eben die Gegenbewegungen gegen diesen von Nietzsche erarbeiteten Ansatz, Verbindlichkeit ohne Dogma, absolute Verbindlichkeit ohne jede Ableitung aus einer höchsten Instanz. Wie das im einzelnen zu denken ist, haben wir uns bemüht jetzt mit der letzten Konsequenz von Nietzsches Vorstellung bezogen auf die Kunst darzustellen. Nämlich auf das Fragment, auf den Müll, auf den Dreck. Und wie Ihnen allen aufgefallen ist, ist nicht nur Dieter Roth und Joseph Beuys mit Fett und Filz und Lattenzeug und Abfall tätig gewesen, sondern die Mehrzahl der Modernisten, die darauf achten wollten, ein Material nicht so zu verwenden, dass man glaubte, der Wert der Arbeit läge im Material – bekannterweise, wenn ich sage Goldgrund, dann sagen die Leute: „Ach, das ist etwas wert, das ist nämlich Goldblatt drauf.“

Sie arbeiteten alle mit völlig bedeutungslosem Zeug – Zeug ist da richtig: das Heidegger'sche Raster – mit Zeug im Sinne einer wirklichen Indifferenz um im höchsten Maße Verbindlichkeit zu produzieren, in einem höheren Maße als es je der Fall gewesen ist. Wir alle glaubten ja in diesem, wie er schreibt, leider häufigen oder zu häufigen Missverstehen, wir glaubten ja die Konsequenz sei die Aufwertung von [Werte-Absolutheit?], Verpflichtung etc. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: Was wirft man diesen Modernisten vor? Dass sie sich nicht auf verbindliche Traditionen einlassen?

Sie haben also die Vorstellung, dass aus der Vergangenheit irgendetwas verbindlich wirkt. Gegen alle Empirie. Dass sozusagen die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, nicht zu einem aufrechterhaltenen Kanon von Werten führten, sei eine Zertrümmerung, nihilistische Auflösung, etc. – Wie begründen sie das? Mit der Tradition von 3800 Jahren jüdischen Denkens, seit Abraham 1800, bis heute 3800. Obwohl wir verbindlich überhaupt erst seit 630 von einer begründeten jüdischen Auffassung sprechen können. Aber immerhin. Lassen wir es ruhig bei 3800. Chinesen: 1000 vor, 1. Frühlingszeremonie bis jetzt 3000 Jahre, Ägypten 384[0 oder 38]42 – gut, wir sind ganz großzügig, Hethiterreich, alles drunter, Venedig 1000 Jahre, Deutschland 1000 Jahre, Konstantinopel 1000 Jahre. […] [W]as ist das schon, 1000 Jahre? Was [sind] aber auch schon 4800 Jahre? Nichts im Vergleich zu der Verbindlichkeit, die wir heute produzieren – durch Müll. Nietzsches radikalste Konsequenz: durch Müll.

Wie? Der Müll ist eine Konsequenz unseres eigenen Handelns. Er entzieht sich der freien Verfügbarkeit, der Beliebigkeit, er repräsentiert die Wirklichkeit. Zum Beispiel als strahlender Müll. Selbst bei mittelstark strahlendem Müll sind wir gezwungen einen Ewigkeitskult zu begründen, den wir unter dem Titel „Gott und Müll“ etabliert haben. Mit entsprechend priesterlichen Ritualen etc., mit Weiheformel, Pathosformel etc. und vor allem einer Architektur. Das heißt, einer Architektur, die einwandfrei entwickelt von Herrn Baumann in der Lage ist, neben jeder Kathedrale, neben jeder Moschee und jeder Synagoge in der Stadt, im Kern zu stehen und die Verbindlichkeit stiftende Form unseres Handelns – nämlich der Fürsorge für 15000 Jahre Halbwertzeit strahlenden Mülls – zu übernehmen. Was sind 4800 Jahre des längsten Reiches auf Erden gegenüber 15000 Jahre Halbwertzeit bei mittelstark strahlendem Müll? – Nichts. Mit anderen Worten, gerade die Industriegesellschaften basieren in ihrem absoluten Verbindlichkeitsanspruch auf dem niedrigsten. Das ist die christliche Revolution noch einmal: das Unterste wird zum Obersten. Der Müll ist die höchste Autorität und die Fürsorge für den strahlenden Müll begründet absolute Verbindlichkeit. Das kann man nicht [leugnen/von sich weisen,]. Man kann [zwar] sagen, ich bin Jude, mich interessiert es nicht, was ihr da rumtanzt, [aber] ich kann nicht sagen, mich interessiert der strahlende Müll nicht. Der nimmt nämlich keine Rücksicht darauf ob ich Jude oder Christ oder was immer bin, ob ich in China oder sonstwo wohne.

Es gilt der Gottesdienst an diesem Ewigkeitsgaranten, [dem] strahlende[n] Müll. Deswegen gehört die Endlagerungsstätte – und Endlager ist wirklich richtig begriffen – in jedes Zentrum einer Stadt. Dahin, wo die Synagogen, die Kathedralen und die Moscheen stehen. Und dann wollen wir sehen, in welcher Konkurrenz Nietzsche, in welcher Konkurrenz der Kulttempel des strahlenden Mülls zur Synagoge, zur christlichen Kathedrale steht. Das wird überzeugend sein. Da kann sich keiner entziehen mit der Auffassung, ich neige nun einmal zum Moslemischen oder zum Jüdischen. Mich interessiert das nicht. Das ist allgemeiner Menschendienst. Und die Ersetzung des Gottesdienstes durch den Menschendienst, das ist das Nietzschesche Programm. Und dieser Menschendienst ist unvermeidlich. Man versucht, das Problem noch durch Entsorgen in der Wüste loszuwerden, aber wie Sie in den letzten Zeiten gesehen haben: alle Salzbergwerke, die man da bisher ausgetüftelt hat, sind eigentlich nur vorläufige Erklärungen unserer Inkompetenz.

Das heißt, die Wirklichkeit hat uns fest in der Verpflichtung und es kommt dazu, dass die Tempel der Verbindlichkeit – […] kommunale Nietzsche-Häuser –, der Verbindlichkeitsstiftung durch Müll im Zentrum jeder Gemeinschaft stehen. Dann haben Sie das erfahren: das Wertloseste, den Abfall … Die Konsequenz unseres Handelns ist ja, Weltzerstörung zu produzieren. Das ist das ganze Nietzschesche Programm. Der hat gesehen, alles, was Problemlösung sozusagen produziert als missverstandene Problemlösung [zu] produzieren, also Vernichtungsprogramm, wird darin schöpferisch – wie das im Einzelnen, im Großen dann genannt wurde. Ab [19]42 – wie hieß die Schrift, [Kapitalismus, Kommunismus?] – in dieser Schrift wird das begründet. Mit Anspruch auf Nietzsche wird gesagt, „Ihr werdet es erleben, dass wir keine Götter mehr brauchen, das wir keine oberste Autorität, keine Akademiepräsidenten, keine Päpste mehr brauchen um die radikalste Form der Durchsetzung von Verpflichtung auf Ewigkeit zu erreichen.“

Das ist das Programm um das es hier geht. Das ist eine Umwertung ganz anderer Art als die beliebige Auffassung, ersetzt mal diese Verhaltensweisen durch jene und dieses Wertsystem durch ein anderes […]. Kindereien! Nietzsche hat nie eine solche Kinderei in die Welt gesetzt. Es ging um Verbindlichkeit, denn alles, was wir untereinander produzieren können, ist Verbindlichkeit im Sinne der Antizipierbarkeit. Wir gehören zur gleichen Gruppe der Menschen. Das heißt, derjenigen, die fähig sind, unlösbare Probleme auszuhalten und sich deswegen zu gesellen, weil wir uns wechselseitig in der Erwartung der Reaktion abschätzen können. Wenn ich weiß, dass Sie ein entfaltetes Individuum sind, von höchstem Anspruch, kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mir nicht vorhalten werden, „Du hast ja gar kein Resultat erzeugt, du hast ja nur wieder ein neues Problem. Wo ist deine Lösung? Was bist du für ein Philosoph, der es nicht weiterbringt, als es immer schon war, [der] aber immer noch weiter und weiter [will]?“, dass ich mich darauf verlassen kann, dass Sie das nicht einfordern werden, sondern sagen, „Oh, sehr interessant. Noch komplizierter als wir dachten! Noch unvermittelter in der beruhigenden Vorstellung, eines Tages haben wir aber die Lösung.“

Wir haben sie nie, […] denn die innere Logik wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitens ist die immer weitergehende Problematisierung. Das ist ja die Logik und die Strategie darin. Also es kann [zu] keiner Beruhigung kommen. Soweit die Beantwortung – was ja nicht heißt, eine Lösung –, sondern die Beantwortung der Frage, auf welche Weise wird der Wille zum System als neuer Weg zum Ja formulierbar?

Meiner Ansicht nach [ist] das wichtigste Problem in psychologischer Hinsicht – wie Nietzsche sich ja verstanden hat – für jeden, der tätig ist, für jeden, der sich nicht einfach bestimmen lässt aus den Reaktionszwängen, aus der Logik der Dummheit zwingen lässt, nämlich: Wann kann ich das akzeptieren, was ich da mache? Die Antwort heißt eben: Dann, wenn ich mich tatsächlich darauf verlassen kann, niemals auf dogmatisch-fundamentalistische Wahrheitsansprüche [he]reinzufallen, nicht etwas aus Bequemlichkeit, Karrieresucht zu akzeptieren, sondern die Großartigkeit des Arbeitens [darin zu erkennen,] immer weitere[] Vorgaben für die Uneinholbarkeit des Problems und die Unbeherrschbarkeit der Wirklichkeit zu entwickeln. Das ist der innere Kern der ewigen Wiederkehr.

Es heißt nicht, dass alles sich zyklisch wiederholt, so wie die Kinder sich vorstellen: jedes Jahr Geburtstag, jedes Jahr Weihnachten, jedes Jahr Sylvester – das ist ja eine tolle Einsicht. Die innere Logik der Wiederkehr ist die innere strukturelle Bedingtheit dafür, dass wir weiterkommen – nämlich in der immer weiteren Problematisierung. Wir stehen dann tatsächlich, ohne aufheben zu können, immer erneut und immer wieder vor diesen Aspekten und können uns nur auf die Menschen verlassen, die das mit uns teilen. Wir haben bisher geglaubt – also vor Nietzsche –, dass Menschen ihre soziale Verbindlichkeitsgemeinschaft aus Sprache, gleicher Ethnie, gleicher Kulturzugehörigkeit, gleicher Vorliebe für Essrezepte usw. verdanken. Wir wissen heute alle, dass das keine Garantie für Friedfertigkeit und Übereinstimmung darstellt. Die einzige Form der menschlichen, wie er sagt, zivilisierten Verhaltensweisen gegenüber dieser kulturellen Natur ist, dass wir eine Gemeinschaft derer bilden, die wissen, dass das ihnen gemeinsam Gegebene die unlösbaren Probleme sind. Nur große Charaktere, nur entwickelte Individuen können es aushalten […], ohne abzuhauen, ohne irre zu werden, ohne aufzugeben vor diesen Problemen, [sich] damit zu beschäftigen, dass sie durch die eigene Forschung, durch die eigene Formulierung immer nur noch überwältigender, herausfordernder werden.

[Das wäre] [d]ie Gemeinschaft derer, die Probleme gemeinsam haben und nicht mehr Überzeugungen, nicht mehr kulturelle Gewissheiten und dergleichen mehr. Das ist das, was mit der Auswirkung von Nietzsches Vorstellungen [von einer] solche[n] Unternehmung[], wie das Bauhaus sie war, gemeint gewesen ist.

In einigen Hinsichten haben sie es nicht erreicht. Leider. Herr Zelinski hat zum Beispiel hervorragend dargestellt, wie Schönberg in einem phantastischen Brief, der gleichzeitig die erste umfassende Analyse des Hitlerismus darstellt, 1923 [Verb fehlt: schreibt?]. Kandinsky antwortet, er, Schönberg, solle ans Bauhaus kommen. Das hat der Schönberg nicht verstanden. „Ich kann ja zu euch nicht kommen, ihr seid ja Antisemiten.“ Also, „Kandinsky, Sie sind ja Antisemit, wie kann ich denn damit arbeiten?“ – Oder Kandinsky sagt, „Ja gerade: Sie mit mir! Ich als Antisemit – das ist doch für Sie eine förderliche Einstellung. Warum kommen Sie nicht her? […] [Ich will Sie ja nicht zu einem anderen] Glaubensbekenntnis verführen, sondern ich bin Antisemit und Sie sind Philosemit.“ – Obwohl in der Zeit Schönberg [das] noch gar nicht gewesen ist, noch gar nicht wusste, dass er nun, wie er sagte, Jude ist und daraus den jüdischen Wagner in sich erzog. Das ist ein typisches Beispiel für intellektuelles Versagen: Du bist mein Feind und ich bin dein Feind. Wenn ich etwas vertrete, dann kannst du nicht dasselbe vertreten – auch wenn du es sagst. Aus der Feindschaft ergibt sich, dass dasselbe Wort, derselbe Satz, dasselbe Glaubensbekenntnis [etc.] etwas anderes sein muss, weil wir ja Feinde sind. Da hat der Schönberg sich Folgendes gesagt: Wagner: kontaminiert, geht nicht mehr, alles Antisemiten um mich herum. Bauhaus: antisemitisch, da kann ich nicht hingehen. Die einzige Möglichkeit [für ihn, da herauszukommen] war, dass er sich selber zu einem Wagner machte, zu einem zionistischen Wagner. Und die Harmonielehre ist der Beweis dafür, dass er diesen ganzen Wagner auf sich umgeschrieben hat, aber genau dasselbe vertritt wie Wagner. Und jetzt ist die spannende Frage, was passiert eigentlich, wenn der folgenreiche Antisemit Wagner „A“ sagt, und der Philosemit Schönberg auch „A“ sagt und beide die komplett gleichen Ansprüche erheben? Da werden alle sagen, ja selbstverständlich, aus der Natur des sozialen Konfliktes heraus hat der Schönberg politisch korrekt Anspruch auf Geltung seiner Harmonielehre, Wagner hingegen ist ein Schmierant oder ein Arschloch oder ein nicht akzeptierbarer Vertreter der Unmenschlichkeit […].

Das ist schon bei Nietzsche ununterbrochen getan, nämlich wenn sie sagen, sozial verfeindete Positionen bezogen sich auf Nietzsche, dann konnten sich wechselseitig nicht verständigen über das, was ihnen daran überhaupt wichtig war, weil durch die Tatsache, dass der eine ein Linker und der andere ein Rechter war, der eine Nietzsche für die Nazis, der andere [ihn] für die Achtundsechziger reklamierte – übrigens ganz gegen das, was Sie heute sagten. Wir haben in den Achtundsechzigern pausenlos Nietzsche auf dem Tisch gehabt; gerade aus Gründen dieser ästhetischen theoretischen Einschätzung –, sodass am Ende nur noch der Sozialtatbestand der Verfeindung zur Geltung gebracht werden konnte.

Das ist natürlich sehr unproduktiv, das sollte man gefälligst sein lassen und insofern die Parteiungsunterschiede links-rechts im Hinblick auf die Arbeit an diesen Vorgaben Nietzsches aufgeben. Auch das war am Bauhaus grandios: Sie sehen ja, es kam ein Mies raus, der für die Nazis drei große Ausstellungen gemacht hat und es kam[en] auf der anderen Seite […] die neuen Kampfmaler heraus und [als ein Dritter] noch [der] Kampfbund Deutsche Kultur – das war natürlich [eine,] erzkonservative Partei. 1927 haben die sich gegründet. Das hat keinen Sinn mehr, da[mit] kann man nichts mehr werden […]. Aber die Anwendung, zum Beispiel dieses Nietzsche'schen Verfahrens absoluter Modernheit bedeutet heute, dass wir von ihnen verlangen müssen, uns Problematiken solcherart vorzusetzen, dass wir vor ihnen schon allein zurückschrecken [wegen] der schieren Unfassbarkeit des Problems. Das tun Künstler und Surrealisten seinerzeit, sodass wir dann gezwungen werden, Nietzsche auf eine neue Weise als Vertreter dieser Tradition zu vergegenwärtigen und damit zu einem neuen Zeitgenossen zu machen. (Das war der Sinn meiner hiesigen Übung, ich danke für Ihr Vertrauen und jetzt gehen wir alle einen Schnaps trinken. Danke.)

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