Buch Noch ist Europa nicht verloren

Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2

Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020 + 1 Bild
Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020

Bei Brock liest man, was man bei anderen Autoren schmerzlich vermisst. Seine Argumentationen scheinen zunächst provokativ, eröffnen aber immer völlig neue Sichten auf die behandelten Themen. Nie zuvor las man, wie das Wort Fleisch wird, so wie bei ihm. Niemand erkannte die 68er als erfolgreichste Generation ohne eigenes Tun. Niemand bekannte sich zum Bekenntnisekel. Niemand beklagte, dass wir noch niemals wahrhaft kapitalistisch gewesen sind. Und wie herrlich eröffnet sich den den Lesern die Hymne „Noch ist Europa nicht verloren“, weil man nicht verlieren kann, was es gar nicht gibt. Brock war immer seit 1963 Kritiker dessen, was es nicht gibt, aber deswegen unsere Vorstellungen beherrscht.

Bazon Brock ist ein verführender, also führender Polemosoph. Ein Denker im Dienst gegen die Gemeinheit, vor allem die Allgemeinheit. Ja, ist es denn nicht hundsgemein, dass für die Historiker die Rangfolge der bedeutendsten Persönlichkeiten von der Zahl der Leichen bestimmt wird, die sie zu hinterlassen wussten? 15 Morde – lächerlich –, das ist eine lokale Auffälligkeit für zwei Tage; erst bei 1,5 Millionen Toten beginnt der Aufstieg in die ewige Bestenliste, die heute Mao, Stalin und Hitler mit mindestens 40 Mio, 20 Mio oder
mit 15 Mio Toten anführen. Von diesen Herren der Geschichte redet alle Welt seit Jahrzehnten und für die nächsten hundert Jahre. Sie haben es geschafft, die Hall of Shame zur Hall of Fame werden zu lassen.

Zum Titelbild: 

Vor 50 Jahren manifestierte Bazon, dass er den tiefsten Eindruck auf dieser Welt mit seinen Füßen hinterlassen wird. Heute ist der ökologische Fußabdruck die Metapher für aufgeklärte Zeitgenossenschaft schlechthin.

Themen:

Einheit durch Verschiedenheit – Europa fällt, Europa bleibt · Theoretische Kunst · Wie sterben Götter? · 68er: erfolgreichste Generation aller Zeiten · Alle Bildwirkung ist pornografisch · Und das Wort wird Fleisch · Vom Sturm zum Stürmer · Kunstwerk, nicht Wissenschaftsgetue · Weiße Romantik, die gute Unendlichkeit · Konservatismus heißt Verpflichtung auf das Neue · Gott lebt, der Markt stirbt · Bekenntnisverhütung · Durch’s Wurmloch in die nächste Welt · Entrümpeln bei guter Beleuchtung · Geisterreich der Moderne · Tränen sind Schmelzwasser der Seele · Sommerdenken – Winterdenken · Bewirtschaftung der Gnade

Erschienen
22.05.2020

Autor
Bazon Brock

Herausgeber
Marina Sawall

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-336-8

Umfang
400 S.

Einband
Broschiert

Seite 342 im Original

Winterdenken

Das Bild als Postulat von Möglichkeiten (2016)

Beate Klompmaker: Wir sitzen an einem großen Tisch in der Denkerei in Berlin, in dem schönen Max Taut-Haus. Draußen ist es sehr kalt und hier drinnen ist es angenehm warm. Starten wir: Mein Name ist Beate Klompmaker, Klompmaker ist niederländisch. Holzschuhmacher versteckt sich dahinter.

Ich habe den Maler Thomas Huber, der hier um die Ecke sein Atelier hat, gefragt: »Wer hat Dich geprägt, war es eher Joseph Beuys oder Bazon Brock?« und er antwortete: »Joseph Beuys habe ich nie richtig verstanden. Aber Bazon Brock, der hat mich schon geprägt.«

Ich möchte Thomas Huber besser verstehen, indem ich jetzt mit Ihnen spreche. Was meinen Sie, welche Herleitungen gibt es?

Bazon Brock: Die ursprünglichste, auch kunstgeschichtlich am besten nachgezeichnete oder ausgewiesene Herkunft ist natürlich die vom pictor doctus, dem gelehrten Künstler. Huber ist in hohem Maße in der Lage, argumentativ und theoretisch auf der Ebene der Evidenzerzeugung, also der Bildsprachen, zu arbeiten.

Ich sagte meinen Studenten und den Künstlern damals, wenn es um die Begrifflichkeit der Sprache ging, dass Bildsprachen ja sehr kümmerlich sind im Hinblick auf die wortsprachliche Befähigung. Zum Beispiel kann man in der Bildsprache keinen Konjunktiv ausdrücken, man kann keinen Konditionalsatz formulieren und man kann nicht einmal eine Negation bilden. Denn wie soll man im Bildsprachlichen negieren? Auf der documenta 5 von 1972 gab es reihenweise Künstler, das waren Südafrikaner und Amerikaner, die einfach durchstrichen. Aber das ist natürlich ambivalent, weil Durchstreichen gleichzeitig die Entscheidung der Wahl ist. Und bei der Wahlliste streichen wir ja durch, um zu sagen: den wähle ich.

Zurück zum Bild: Und die Rückseite einer Leinwand ist die Rückseite einer Leinwand und nicht die Negation des Bildes?

Sehr richtig. Im 17. Jahrhundert haben die Niederländer in ihren Trompe-l’oeil-Arbeiten die Rückseite auf die Vorderseite gebracht und die Vorderseite auf die Rückseite, bis sie auf die Idee kamen, beidseitig zu malen und zwar die Rückseite als Rückseite zu malen und die Frontseite als Frontseite und das dann möglicherweise jeweils auszutauschen. Diese Überlegungen sind für Huber sicherlich sehr interessant gewesen.

Huber ist extrem intelligent in der Verknüpfung von argumentativen Begründungszusammenhängen und Evidenzerzeugung. Und zwar so, dass ihm vieles gelingt, was anderen Künstlern in der Bildsprache nicht gelungen ist, z.B. einen Möglichkeitssatz, einen Konditionalsatz so auszulegen, dass er sich tatsächlich erfüllt. Ein Beispiel: Ich habe eine Aktion gemacht, da sitze ich 1968 oder 1970 im Zimmer von Nietzsche in Sils Maria auf dem Sofa, und zwar so, dass ich den Ausdruck entwickele, ich erwartete jederzeit Nietzsches Eintreten. So etwas strebt auch Huber an. Mit seinem Lehrer Fritz Schwegler zusammen habe ich sehr vieles gemacht, z.B. seine »Effeschiaden«, lautsprachliche Fassungen seiner Initialen F und Sch, zuerst aufgeführt. Ich habe auch dazu beigetragen, dass er in Düsseldorf überhaupt etabliert werden konnte.

Wofür war denn das Gutachten, das Sie für Fritz Schwegler geschrieben haben?

In den 70er Jahren fand ein Seminar der Deutschen Studienstiftung in Wales statt. Ich habe das Gutachten für Schwegler geschrieben, damit er dort teilnehmen konnte. Ein zukünftiger Lehrer muss lernen, sein eigenes Tun als eine Form der Selbstbelehrung anzuerkennen. Das ist Erkenntnisgewinn durch Experimentieren mit den eigenen Fähigkeiten. Wie Schwegler weiß Huber, dass die Methoden der Erkenntnisgewinnung zugleich auch eine Form des Lehrens sind.

Sich selbst belehren?

Ja, Selbstbelehrung. Das heißt, er erkennt das, was er tut, in der Art, wie er es tut, und durchdringt es und kann es dann beispielhaft nach außen weitergeben.

Fritz Schwegler sagte, er könne seine Bilder tanzen und singen. Das war in den 70er und 80er Jahren. Zu der Zeit gab es einen Kunstskeptizismus, hatte der auch mit der Fluxus-Zeit zu tun?

Das glaube ich nicht. Mit Fluxus hatte das wenig oder gar nichts zu tun. Denn Fluxus war eigentlich eine degenerierte, also in sich selbst verquere Bewegung. George Maciunas war ein ziemlich herrschsüchtiger Typ. Er wollte so etwas wie eine eigene Heimwehr/Untergrundarmee gründen. Und das war seine Fluxus-Truppe, die hat er entsprechend herumkommandiert.

Die jüngere Generation, Schwegler und Huber, mussten unbedingt die lächerlichen Fehlhaltungen der Fluxus- Leute vermeiden, nämlich einerseits die Offizialkunst unterlaufen zu wollen, andererseits aber deren Gütesiegel, nämlich die Museumsweihen, für sich zu erreichen.

Das haben Sie gut formuliert.

Nochmals: Wir haben also den Typus des pictor doctus, des gelehrten Künstlers, mit allen Problematiken der Differenzierung zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Arbeiten. Aber es hat sich schon lange herausgestellt, dass es da keine grundsätzlichen Distinktionen gibt: die Künstler müssen auf gleiche Weise methodisch arbeiten wie die Wissenschaftler und die Wissenschaftler kreativ sein wie die Künstler.

Ein Beispiel: Wenn ein Chirurg einen Fehler macht, dann wird er vor Gericht verurteilt, weil er nicht state of the art operiert hat. Wie aber soll die Entwicklung der Chirurgie überhaupt weitergehen, wenn niemand etwas Neues wagen kann, also den state of the art verlässt? Das heißt, dass der Chirurg wie ein Künstler vorgeht. Und umgekehrt muss der Künstler seinerseits ständig Methoden entwickeln, wie er die Situation erkennen und analysieren kann, um ihr verantwortlich gerecht zu werden. Künstler und Wissenschaftler haben fortune (nach Goethe ist dies das Genie der Gelegenheit), wenn sie Zufall und Notwendigkeit, Einfall und Verfahrenslogik gleichermaßen nutzen können. Dafür spricht das antike Bild, dass man von der vom Sturm des Fortschritts vorangetriebenen Glücksfee nur den Schopf sieht. Den soll man packen, ohne zu wissen, wie die Trägerin des Schopfes beschaffen ist. Wer aber vorsichtig abwartet, bis Fortuna sich ganz zeigt, kann sie nicht mehr festhalten.

Die Gelegenheit beim Schopfe packen, heißt bei Huber, die eher hässlichen Vortragsräume in den Museen und Kulturzentren für seine Künstlerreden zu nutzen. Das machte ja in den 80er Jahren keiner und es gab damals auch noch nicht die Eventkultur an den Museen wie heutzutage.

Seit der Renaissance ist gelehrter Künstler, wer das Lernen als ein Lehren (primär Selbstbelehrung) entwickelt. Der Erfolg zeigt sich darin, dass der gelehrte Künstler die Darstellung des so Gelernten als Weg des Erkenntnisgewinns anerkennt. Die aus der Antike überlieferte Maxime hieß ut pictura poesis: auch Darstellungsformen sind schon Erkenntnis. Oder umgekehrt, weitergehend, ab ungefähr Leonardo da Vinci: Die Darstellung des Problems ist die entscheidende Form des Erkenntnisgewinns.

Im mathematischen Verfahren ist ja Darstellung und Erkenntnis dasselbe. E = mc2 ist die absolute Einheit von beiden Ebenen. Das gilt für Huber in besonderem Maße als vorbildlich. Wenn ich etwas zeigen kann, wofür es bisher noch keine Entsprechung auf der Ebene der Erkenntnis gibt, erzwingt diese neue Darstellung die Formulierung dessen, was das Problem ist, also die Erkenntnis. In der Evolution unserer kognitiven Fähigkeiten lässt sich Erkenntnis als Problematisierung der Darstellung daraus ableiten, dass Menschen natürlicherweise auf das Wechselverhältnis von händischem Ergreifen des physikalisch Gegebenen und gehirnlichem Begreifen als Unterscheiden angewiesen sind. Zum einen fordert die ergreifende Hand die gedankliche Leistung des Begreifens heraus – zum anderen realisiert die Hand die kognitiven Unterscheidungen als Sortieren des Weltmaterials.

Zwei Motive, die für dieses Verhältnis stehen, sind der Malstock und der Zeigestock.

Der Zeigestock meint pädagogische Selbstbildung durch Orientierung der Aufmerksamkeit. Der Malstock ermöglicht der Hand die Umsetzung gedanklicher Unterscheidungen.

Ich habe vor dreißig Jahren ein theoretisches Objekt entworfen, das die Einheit von Malstock und Zeigestock im Huberschen Sinne und die von Rohr und Rebe im allgemeinen Sinne demonstriert. Die Weinrebe steht für Optimierung der natürlichen Gegebenheiten (auch denen der Menschen) durch Erziehungsarbeit, und der Begriff der Kultur stammt aus der Erziehung des wilden Weins zur größeren Fruchtbarkeit durch den Weinbauer oder generell den Agrikulteur. Das Rohr steht für die notwendige Orientierung des Kultivators auf seine Aufgabe. Es wird seit alters benutzt, um Wachheit gegen Ermüdungserscheinungen oder Konzentration gegen Zerstreutheit anzumahnen. Die Erziehung der Menschen war strikt am Modell der Erziehung der Natur orientiert. Dafür gibt es allerdings unüberschreitbare Grenzen, wenn zwischen Tierzucht und Menschenzucht zur Durchsetzung positivistischer Biologie, Biochemie oder Genetik nicht mehr unterschieden wird. Der Unterschied muss darin erhalten bleiben, dass man mit Menschen nicht wie mit Saatgut experimentieren darf.

Das Umgekehrte aber ist erlaubt, wie Huber zeigt. Er kultiviert Bilder, er erzieht Bilder, wie er das etwa als vielfacher Vater seinen Kindern gegenüber verantwortlich praktiziert. Er ist der Kultivator des Bildwuchses, der Bildentwicklung, höchst sensibel für den Eigensinn von Formen und Materialien, kurz für die Logiken, nach denen etwas entsteht, das nicht vergehen soll. Bei Lebewesen wie Pflanzen, Tieren, Menschen wird nur das genetische Programm in die jeweils nächste Generation weitergegeben; bei Artefakten muss der gesamte Korpus kopiert werden, denn für Artefakte sind Wesen und Erscheinung eben eins (wie idealiter in der Mathematik gezeigt wird).

Thomas Huber hat in einer Werkgruppe den Begriff der Schule verwendet, so lautet der Titel eines Schlüsselbildes zum Beispiel »Rede in der Schule« und nicht »Rede in der Kunstakademie« oder »Rede in der Hochschule«. Sie haben die Besucherschule erfunden, dort steckt das Wort Schule auch drin. Die Lehre der Schule steht im Vordergrund. Sehen Sie da Parallelen?

Ja natürlich. Das ist noch Beuyssches Erbe, Steinersches Erbe oder eben Renaissance- und Antikenerbe. Denn da ging es überall um das Gleiche, nämlich die Erziehung des Menschengeschlechts. Schule ist der generelle Begriff für Orte und Methoden der Erziehung. Ob es sich dabei um Conduite-Schulen, Benimm- und Tanzschulen, Fechtschulen oder Alphabetisierungsschulen handelt, immer ist der Grundtypus derselbe: Jemand gibt ein Beispiel, das sich anzueignen von den »Schülern« geübt werden muss. Wie gesagt, gilt es, immer bei Künstlern und Wissenschaftlern im Hinterkopf zu bewahren, dass so auch die Erziehung der Erzieher, das Lernen der Lehrer und die Führung der Führer beispielhaft und beispielgebend praktiziert wird. Der Begriff poeta doctus oder pictor doctus hebt in diesem Sinne hervor, dass erst ein Professor ein idealer Student sein kann oder ein Lehrer der beste Schüler sein sollte.

In Hubers Fall legt sich mir immer das Beispiel der Lutherschen Tischzucht nahe. Ich erwarte immer noch von ihm die Darstellung eines langen Tisches, an dem die Stühle rundum stehen, auf denen die potentiellen Schüler sitzen. Das Thema des Bildes ist dann das, was wir als Tischzucht bezeichnet: man kaut nicht an den Nägeln, man spuckt nicht in die Flasche, man greift nicht mit schmutzigen Händen in den Teller, den die anderen auch noch benutzen wollen usw. Und für Huber ist ja nichts so bezeichnend wie der Begriff Bildzucht. Luthers Tischzucht als Bildzucht.

Das ist ein guter Begriff.

Huber ist wirklich ein Zuchtmeister, ein Kultivator, ein Lehrer, ein Luther. Oder besser noch, ein Calvin. Alle diese Meister arbeiten an der Wechselwirkung zwischen den Gestalten des Weltmaterials, vor allem der Artefakte, und den Menschen, die in ihnen und mit ihnen leben. Zucht meint also die das Verhalten bestimmende Kraft des Dinggebrauchs und die dingeformende Kraft der menschlichen Verhaltensweisen, Erkenntnisse und Urteile.

Huber ist auch ein Kultivator der Motivik gegenüber, beispielsweise dem Tisch und dem Bett.

Diese Bildzucht ist gleichzeitig natürlich die Herausbildung einer Bildpolitik. Huber betreibt keine Bildgebung, um irgendwelche Leute von der Kunstwahnhaftigkeit zu überzeugen.

Dann ist ganz wichtig, dass er das Banalitätsschema Fluxus, das Beuys übrigens sofort erkannt hatte, verwarf. Beuys hat sich dem Diktat von Maciunas nicht gebeugt. Man hat Beuys als Renegaten beschimpft, als er die Studentenpartei Zone Fluxus West gegründet hat.

Wo haben Sie Thomas Huber denn zum ersten Mal gesehen? War es in Düsseldorf an der Kunstakademie Anfang der 80er Jahre oder in Bonn? Ihr damaliger Doktorand Stephan Schmidt-Wulffen hatte in Bonn 1984 zur Werkgruppe »Rede in der Schule« eine Ausstellung gemacht und dort hat Thomas Huber bezeichnenderweise in einem medizinischen Hörsaal seine Rede vor dem Bild gehalten. Waren Sie dabei?

Ja, das war der Anlass, weswegen Huber mich zu sich in sein Haus in Mettmann bei Düsseldorf eingeladen hatte. Was mich besonders überzeugt hat, ist, dass er gerade nicht wie der normale Bohème-Künstler lebte. Er ist ja kein Bohème-Künstler, sondern er ist eben der pictor doctus, der sich nicht von den Pflichten des bürgerlichen Daseins – Familie, Haus, Kinderaufzucht – befreit hat. Und ich dachte zunächst, das könne er sich nur leisten, weil er ein reiches Schweizer Familienerbe übernommen habe. Und da war ich natürlich neidisch. Wir waren alle Flüchtlinge, arme Hunde, hatten nicht einmal Tisch und Teller vererbt bekommen. Das war ja alles fort mit dem Kriege.

Musste Ihre Familie auch flüchten?

Ja, aus Preußen, aus Ostpommern, aus Danzig. Und ursprünglich aus dem Pruzzenlande.

Da ist mir natürlich die Beziehung Hubers zu den Großkünstlern anderer Genres, zum Beispiel Thomas Mann, aufgefallen. Huber war damals wahrscheinlich 30 Jahre alt und hatte schon dieselbe Festigkeit, Beherrschtheit, Souveränität wie Thomas Mann. Thomas Mann war auch bürgerlich durch die Pringsheim-Einheirat: Dadurch, dass die Frau das Geld mitgebracht hatte, konnte er sich das leisten, und ich dachte: »Aha, bei Huber ist es ähnlich«. Es gibt keine andere Möglichkeit, als dass man durch die Begnadung mit solchen Strukturen, die dann per Erbe weitergegeben werden, überhaupt zu solchen Lebensleistungen kommt. Ein Einzelner kann diese Lebensformen nicht entwickeln. Dieser Hintergrund ist ganz wesentlich für Huber. Wenn da ein Dreißigjähriger ganz und gar im Bewusstsein seiner unerschütterlichen Autonomie arbeitet, vermutet man schon aus diesem Grunde die Überlegenheit gegenüber den Bohème-Attitüden.

Grundlegend: Es gibt diesen Typus des Souveränen, Autonomen, der unerschütterlich, man könnte altdeutsch sagen »gradlinig«, charakterstark agiert. Da ist Huber einer der wenigen – ich wüsste im Augenblick überhaupt keinen Zweiten zu nennen –, der diese Kardinaltugenden des Bürgertums noch vertritt. So dass man sagen kann, Huber erfülle auch soziologisch und sozialpsychologisch eine wichtige Funktion. Denn wenn man wissen will, was eigentlich einmal das Selbstbewusstsein des emanzipierten Bürgers war, der sich weder von den Feudalherren noch von den Ständevorständen seines Berufszweiges etwas sagen ließ, sondern tatsächlich Eigenständigkeit entwickelte, dann muss man heute zu Thomas Huber gehen. Er ist, glaube ich, der letzte Repräsentant dieses Haltungsschemas, das man bürgerlich nennt. Und das heißt ja gerade nicht, sich im Sinne von unterwerfungsbereit oder nachplappernd Konventionen zu ergeben, sondern das heißt, Konventionen zu schaffen. Vielleicht kommt Gerhard Merz dem nahe, aber er gehört ja zur Vorgängergeneration. Beide tragen dieses hohe Ethos des Künstlers als Bürger, alle anderen sind Spreu im Wind, herumgewirbelt von Moden und Tendenzen, von Beliebigkeiten und Opportunitäten.

Es gibt also eine Sonderstellung dieser beiden Künstler?

Sie arbeiten tatsächlich an den gebotenen Aufgaben, ergreifen die günstige Gelegenheit als Pflicht zur Entscheidung. Das ist das Gegenteil des heute herrschenden Opportunismus. Sie sind Universalisten aus dem Geist des Humanismus, den man gerade nicht als Eurozentrismus diskriminieren kann, weil die Konzepte der Kunst, der Wissenschaft, der Demokratie, des Rechtstaats, des Sozialstaats, der Würde des Einzelmenschen in Europa von Europäern gegen Europäer jahrhundertelang erkämpft werden mussten. Das heißt in Wahrheit konservativ sein, nämlich die Entstehungsgeschichte der von Dummköpfen heute für selbstverständlich gehaltenen Gegebenheiten immer mitzudenken und darauf zu bestehen, dass die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten von heute und die daraus resultierenden eingeforderten Rechte durchaus nicht selbstverständlich sind und man daraus nicht die Forderung ableiten kann, nach Belieben auf diese Errungenschaften als allgemein verfügbare Ressourcen des guten Lebens zurückgreifen zu können.

Huber setzte viele Aufträge im Bereich Kunst-am-Bau um und hat die Sammlung des Museum Kunstpalast in Düsseldorf mit Bogomir Ecker neu ausgerichtet. Er war Professor an der Hochschule für Bildende Kunst in Braunschweig und Vorsitzender des Deutschen Künstlerbundes. In diesen Bereichen gibt es auch immer wieder Brüche, wo Huber um einen Inhalt kämpft und sich dann wieder gegen die Sache entscheidet.

Der Bruch ist, glaube ich, notwendig. Denn wenn er sieht, dass das, was er als in der Sache liegende, unaufgebbare strukturelle Notwendigkeit vorgibt, nicht anerkannt wird, tritt er zurück. Er würde sich niemals unterwerfen. Er wechselt dann einfach die Rollen, ganz anders als die Opportunisten, die um ihres Fortkommens willen oder ihrer Anerkennung wegen beliebig ihre Position anpassen.

Wenn es eine Skala von Narzissmus von 1 bis 10 gäbe, wo würden Sie Huber dort eintragen?

Narzissmus ist kein Fehlverhalten des Individuums, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit, sich selber ernst zu nehmen. Denn wenn man bei sich selber durchgehen ließe, was man bei anderen zu Recht beklagt, dann verlöre man die Basis der Glaubwürdigkeit vor sich selbst. Nicht vor anderen, vor sich selbst! Der eigentliche Narzissmus heißt: Ich entdecke mich als den Gegenstand der problematischen Weltverhältnisse. Ich bin selber das Problem, der Fall, also muss ich sozusagen mich auf mich selbst beziehen können. Narzissmus im Sinne der Reflexivität: Ich beziehe mich auf mich selbst. Der Sprechende, der Denkende behandelt seine eigenen Probleme.

Das ist eine immanente Notwendigkeit. Und Huber weiß, wie wichtig seine Haltung sich selbst gegenüber ist und wie weit er sich selbst unter Kontrolle halten muss, zügeln muss, wie weit er sich dem Diktat aussetzen muss, das er anderen gegenüber vertritt. Und das ist für die meisten Menschen unerträglich. Sie können das, was sie anderen gegenüber vertreten, nicht sich selbst gegenüber geltend machen. Sie haben hohe Vorstellungen allen anderen gegenüber, aber sie machen sich selber alles Mögliche vor. Ja, sie machen sich was vor. Und die Rigidität, die Härte, die Unbeirrbarkeit, die von einer Huber-Haltung ausgeht, ist ja gerade das Zeichen dafür, dass jemand nicht sagt: Gut, ich lasse es mir selbst durchgehen.

Ein Beispiel: Wenn Ärzte sagen: »Oh, Sie müssen Diät halten,« aber selbst weit über dem zuträglichen Body Mass Index liegen, dann heißt das, sie tragen ihrem Patienten gegenüber eine normative Ebene vor, die sie für sich selbst nicht anerkennen. Insofern ist klar, dass Huber – wie ich selber – auch eine Art Herausforderung an jedermann darstellt, weil das Verhalten, sich selbst gegenüber genauso unnachgiebig zu sein wie gegenüber anderen, als Arroganz ausgelegt wird. Nur wenn der Urteilende sich selbst in das Urteil mit einbezieht, das er anderen gegenüber verbindlich begründet, verdient er Vertrauen.

Das heißt, man ist gezwungen, von sich zu sprechen, um überhaupt glaubwürdig zu sein. Ich kann eben nicht, wie der famose Herr Rousseau, phantastische pädagogische Konzepte entwickeln, wie andere Leute ihre Kinder behandeln sollen, wenn das nicht auch für mich und meine Kinder gelten soll. Rousseau hat sich ja bekanntlich einen Dreck um seine eigenen Kinder gekümmert.

Es ist also ziemlich klar, dass Huber auch in dieser Hinsicht eine einmalige Erscheinung ist; einmalig heißt ja nicht singulär, sondern beispielgebend. Die Einmaligkeit seiner Erscheinung als Künstler ist das Maß seiner Beispielhaftigkeit.

Was für ein Satz! Das Wort »Beispielhaftigkeit« und das Wort »Modell« stehen doch in enger Beziehung.

Ja, das ist dasselbe. Wir sind über die alte Moral der pädagogischen Erziehung von Weintrauben oder Kindern hinausgekommen: nämlich, dass wir Vorbild sind. Wir stellen den Weintrauben nicht länger ein Vorbild vor die Nase: so müsst ihr werden, und den Kindern auch nicht, sondern wir geben selber das Beispiel, wie wir durch die Behandlung, die wir pädagogisch den Kindern oder Weintrauben zukommen lassen, selber wachsen. Das heißt, nur am Beispiel des Selber-Gebens legitimiert sich unser Einwirken auf andere. Es gibt überhaupt kein Vorbild mehr, es gibt keine Normativität im künstlerischen Arbeiten mehr, aber es gibt Beispielhaftigkeit.

Beispielhaftigkeit ist die Art und Weise, wie der Einzelne begründen kann, dass das, was er tut, nicht aus der Exklusivität lebt: Also nicht nur für sich, sondern gerade für andere. Das heißt: wie das Ding »an sich« ja eigentlich das Ding »für uns« ist, so ist natürlich auch die Einmaligkeit der Haltungen nicht etwas, was sich in irgendeinem Goldkästchen verstecken lässt. Sondern es ist gerade in seinem Anspruch auf Autonomie, auf Selbstständigkeit beispielhaft. Denn das ist ja das Ziel aller Erziehung und aller bürgerlichen Prägung: selbstbewusste, autonome, in sich charaktervoll gefestigte Individuen heranzubilden.

Und dann stellt sich heraus, dass nur solche entfalteten Persönlichkeiten als Individuen Beispielgeber sind, die in der Lage sind, Teams zu bilden. Nur Persönlichkeiten dieses Formats sind überhaupt teamfähig. Deswegen war Huber auch ein exzellenter Lehrer, weil er in seiner Einmaligkeit gerade teamfähig ist. Und das wiederum ist modellhaft.

In Hubers Bild »Rede in der Schule« finden sich viele Einzelmodelle. Und durch diese Modellhaftigkeit ist das Bild auch bis ins Kleinste durchgerechnet.

Das Kalkül oder, wie Sie sagen, die rationale Durchrechenbarkeit ist ja die Voraussetzung der Modellbildung. Denn Modellbildung steht in einem kalkulierbaren Verhältnis zu dem, wovon es Modell ist. Wenn ich zum Beispiel das Berliner Verkehrssystem als großes Wandbild in der Verkehrsleitzentrale darstelle, dann ist das ein Modell des Gesamtverkehrs. Es muss also eine bestimmte Relation zwischen Bild und abgebildetem problematischen Sachverhalt geben.

Zu einer Realität.

Das Bild ist ja auch eine Realität.

Ok, zu einer außerbildlichen Realität.

Ja, einer bildlichen zu einer außerbildlichen. Und dann natürlich noch viel weitergehend als das, was Ferdinand de Saussure 1902 eingeführt oder Fritz Mauthner behauptet hat. Dieser Begriff des Bildes ist eigentlich erst bedeutsam, wenn wir auch die Vorstellung als Bild fassen, also das, was wir träumen, was wir als Erinnerungsbild, als Vorstellungsbild ununterbrochen ausprägen.

Was heißt das eigentlich für den Bildbegriff selber, wenn wir im Alltagsleben des normalen Menschen über einen Sachverhalt sprechen, der uns nicht vor Augen steht? Wenn beispielsweise einer sagt: »Die Mühle im Schwarzwald.« Und der andere: »Oh herrlich und der rauschende Tann und das klare sprudelnde Wasser und das sich drehende Mühlrad und der Müller in der weißen Schürze und die Müllerin mit dem dicken Brot auf dem Arm und die blonden Zöpfe der Müllerskinder.« Dann ist die Frage, wie wir miteinander kommunizieren und uns zueinander verhalten, wenn wir doch alle ganz unterschiedliche Vorstellungsbilder von der Mühle im Schwarzwald haben.

Das gemalte Bild ist nicht die Fixierung eines Vorstellungsbildes, sondern es ist das Exemplarische. Alle Menschen haben völlig unterschiedliche Erfahrungen mit den Bildern von Huber oder mit jenen von van Gogh oder Rembrandt. Das heißt, das Bild impliziert die Distanz zu sich selbst im Sinne der Abweichung aus der bloßen Gegebenheit der Sichtbarkeit in das Reich der unsichtbaren Möglichkeiten. Das Bild ist damit ein Möglichkeitspostulat. Wie unterschiedlich werden die Vorstellungen und die Erinnerungen nach 14 Tagen sein, wenn wir dieselbe Huber-Ausstellung betrachtet haben? Und wenn wir über Huber reden, dann reden wir über völlig unterschiedliche Dinge und können sie trotzdem auf das Modell Huber übertragen. Dann entwickelt sich aber wiederum zwischen uns eine Vorstellung des Modells Huber. Der Huber, über den wir reden, ist also sozusagen das Modell seiner selbst: des Mannes, den wir da meinen, und der künstlerischen Arbeiten. Wenn wir über das Modell und darüber, wovon es Modell ist, sprechen, entwickelt sich eine merkwürdige Irritation. Da stellt man plötzlich fest, dass es die unterschiedlichsten Relationsverhältnisse gibt.

Geheime und öffentliche.

Also ist es möglicherweise gar nicht so, dass ich hier eine Realität habe, von der ich ein Modell mache, sondern ich baue Modelle für eine Realität, die ich noch gar nicht kenne. Und da sind wir wieder bei Huber. Er baut Modelle für eine Welt, die sich erst erkennen, erahnen oder durcharbeiten lässt, wenn man von seinen Modellen ausgeht und sich dann fragt: Ist das ein Modell von etwas oder ist das nur ein offener Wunsch? Wozu gehört das denn eigentlich? Was ist die Wirklichkeit dahinter?

Die herausfordernde Kraft, etwas als Modell darzustellen, seine Möglichkeitsformen zu erkennen, verführt zur Suche nach der dazugehörenden Realität. Und dann bekommt man eine Vorstellung davon, warum die Bilder produktiv wirken, warum man von Huber etwas lernen möchte. Man hat das Gefühl: Hier werde ich nicht nur zur Bildung meiner Sprachmodelle, Bildmodelle, Vorstellungsmodelle angeleitet, sondern ich erfahre, dass nur das wirklich ist, was sich meinem individuellen Belieben nicht beugt. Denn wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluss haben, was also unserem Mutwillen unüberwindbare Grenzen setzt. Es ist schließlich das Ziel jeder Arbeit an Bildung und Selbstbildung, wirklichkeitstauglich zu werden, also mit etwas zu rechnen, was ich auf gar keinen Fall meinem noch so großen Machtwillen, Geltungswillen, Wirkungswillen unterwerfen kann. Das bezeichnet das Wort logos, das man am besten mit dem Begriff »das Gesetz« übersetzt. In dieser Hinsicht muss man immer gewärtig sein, dass mit der Fichteschen Setzungshandlung, die auch jeder Künstler mit jedem Werk zu leisten hat, eben nicht der triumphierende Allmachtwahn gemeint ist, sondern die Anerkennung von Bedingungen des Arbeitens, die ich mir nicht selbst vorgeben kann, auf die ich mich aber selbst verpflichten muss.

Insofern sind die Gesetze, die einzuhalten ich mir selber abverlange, die für mich verbindlichsten. Hubers Bilder sind solche Setzungshandlungen von Voraussetzungen, die streng zu beachten er sich verpflichtet hat.

Ja, es gibt aber eine Offenheit trotz aller Strenge in den Bildern.

Die Künstler setzen/produzieren Bildwerke. Diese bilden eine unbestimmte Gesamtheit als Kunst. Die Adressaten, die Schüler oder Besucher, arbeiten aber nicht mit der Kunst, sondern an einzelnen Bildwerken. Wie sie in und aus der Gesamtheit »die Kunst« die konkrete Konfrontation mit einzelnen Werken »bewerkstelligen«, das ist ihr Anteil an der Wirkungskraft der einzelnen Bildwerke. Den nennt man seit Duchamps Vorlesungen von 1957 den Kunstkoeffizienten als Anteil der Rezeption an der aktuellen Wirkung des Werkes. Denn die Voraussetzung der Wirkung ist das Wahrgenommenwerden oder, radikaler, die Gesamtheit Kunst ist der dunkle Grund, aus dem die einzelnen Werke durch die Arbeit der Betrachter wirksam werden, also als eine Realität in Geltung gesetzt werden, vorausgesetzt, dass etwa die Wahrnehmung ein Gemälde eben nicht nach Belieben des Betrachters überformt, sondern dieses solcher Aneignung widersteht – und sei es auch nur durch Strafandrohung bei Eingriffen. Aber Achtung, Ihr guten Mitarbeiter an Huberschen Werken: Das Ganze der Kunst ist immer kleiner als die Summe der vielen einzelnen Werke. Diese Korrektur am naiven Universalismus der Begriffe verdanken wir tatsächlich den Künstlern: Was wir als Bild sehen oder vorstellen, erinnern oder reproduzieren, ist immer sehr viel weniger als die Summe der Elemente auf den Tafeln, die wir zu erinnern oder uns vorzustellen versuchen.

Das ist aber etwas ganz anderes als die Verführungskunst und die Inszenierungskunst!

Man kann das natürlich Verführung nennen; wenn die Beispielhaftigkeit des Künstlers so hoch ist, verführt er ja die Rezipienten, sich darauf zu beziehen, also das Modell zu übernehmen. Das ist natürlich auch immer im erotischen, sexuellen, ideologischen oder meinetwegen ökonomischen Sinne: »Was habe ich davon, was kann ich damit anfangen?« In all diesen Hinsichten wurde das in der Antike als pädagogischer Eros bezeichnet. Das ist ja nicht blanke Sexualität, sondern Attraktivität.

Also das Begehren.

Das ist viel zu besitzfordernd. Es ist eher eine Art von Orientierung auf den andern, weil man das, was er zeigt und tut, für sich als so attraktiv erkennt, dass man es würdigt. Das Würdigen des anderen ist eigentlich der Eros. Wenn ich anfange, Sie in Ihrer Schönheit der Zopfbildung zu beschreiben, dann ist das natürlich der Anlass, die Beziehung im Sinne einer solchen Verknüpfung zwischen Modell und Übernahme des Modells herzustellen.

Also ist dieser Eros auch das Wertschätzen und das Sehen des Schönen.

Die Art, wie jemand lernt, dieses Beispiel eines anderen aufzunehmen, heißt, ihn würdigen zu lernen. Wenn der Schüler den Lehrer würdigt, dann ist das eine Art von Antwort auf den pädagogischen Eros, den der Lehrer darstellt. Wie würdige ich ein Gedicht? Wie würdige ich eine Malerei? Wie gehe ich darauf ein, wie spreche ich das an, wie verweise ich darauf und wie nutze ich das? Das ist die Würdigungsformel. Und erzogen ist jemand, der würdigen kann.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt: Würde hat nur, wer zu würdigen weiß. Und deswegen läuft das grundgesetzliche Diktum oft ins Leere, da die Leute glauben, sie hätten Würde ohne jede Verpflichtung auf Würdigung der anderen. Denn wer für sich Würde einfordert, muss das Gleiche bei allen anderen voraussetzen. Deshalb hat Würde nur, wer zu würdigen bereit ist.

Beim künstlerischen Arbeiten, beim literarischen Arbeiten, beim denkerischen Arbeiten, beim schulpädagogischen Arbeiten läuft es immer auf dasselbe hinaus: Erziehe jemanden dazu, dass er das Blühen der Bäume, das Verhalten der Tiere, die Formen des Wetters, der sozialen Ordnung, der Arbeit von Bauern als unseren Ernährern, die Werke der Vorlebenden und die Fremden als Fremde würdigen kann. Das ist doch alles. Nur darum geht es.

Beim Würdigen gibt es natürlich unterschiedliche Maßstäbe: Der Lehrer Fritz Schwegler wird in Ausstellungen mit dem Titel »neue Enden« durch seine Schüler gewürdigt.

Ja, wenn es denn so war. Viele dieser Ausstellungsbeiträge waren keine Würdigung, sondern da haben die Schüler nur das gezeigt, was sie ohnehin tun, und sich nicht auf die künstlerische Position von Schwegler bezogen. Es hieß nur: Wir sind in der Klasse Schwegler gewesen! Keiner hat zum Beispiel die phantastische Idee von Schwegler aufgegriffen, die Welt ins Miniaturformat zu übersetzen, um mehr Welten in der einen Welt zu schaffen. Schwegler entwarf Tausende von kleinen Skulpturen, die alle modellhaft zu verstehen sind. Und da erhebt sich die Frage: Wo ist die Wirklichkeit für eine solche kleine Skulptur? Wovon soll sie Modell sein?

Aber die Schüler haben auch den Unterschied zwischen dem Zusammentragen einer Sammlung und dem Schaffen eines Sammlungszusammenhangs nicht begriffen. Das Schaffen selber ist schon eine Sammlung, das Theater der Versammlung oder das Bild als Versammlung von Zeichenkonstellationen demonstrieren, wie aus Konstellationen Beziehungen entstehen. Konstellationen bezeichnen Zusammenhänge aus äußerer Sicht, Beziehungen hingegen entstehen aus der Entfaltung von eigenen Zuordnungs-, also Bedeutungswünschen.

Huber führt ein vielfältiges Spiel mit unterschiedlichen Rollen oder Identitäten, bei dem auch der Betrachter seine Rolle oder sein Verhalten zugewiesen bekommt. Welche Rolle spielt hier das Sakrale?

Was ist das Sakrale im Unterschied zum Säkularen? Die Antwort heißt: Es ist nicht der Verweis auf das Transzendente, auf das Jenseitige, die Jenseitswelt, die außermenschliche Welt, sondern es meint die innerweltliche Transzendenz. Transzendieren heißt ein Überschreiten von Grenzen als ein Wandlungsgeschehen. Alltäglich vollziehen wir das, wenn wir in kabarettistischer Laune oder mit romantischer Ironie oder in bloßem akustischen Missverstehen etwas anderes hören als das, was der Sprechende gemeint hat. Dieses Missverstehen ist kein Versagen, sondern die innere Produktivität im Verhältnis von Gedachtem und sprachlich, auch bildsprachlich, körpersprachlich Kommuniziertem. Denn der Gedanke, den ich auszudrücken wünsche, verändert sich durch mein Bemühen, ihn sprachlich angemessen darzustellen. Auch hier ist die Darstellung schon ein guter Teil des überhaupt Denkbaren. Das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden, wie Kleist es parallel zu den erkenntnistheoretischen Arbeiten von W. Humboldt oder Fichte oder Goethe oder Jean Paul entdeckte, ist eine allgemeine Erfahrung der Kommunikation, weil sie grundlegend ist. Kommunikation muss in diesem Zusammenhang nicht als identische Übertragung von Sinneinheiten verstanden werden, sondern als produktive Neuordnung des Verhältnisses von Denken und Sprechen durch jeden Sprecher und Zuhörer. Dabei geht es um andeutungsweise Verständigung und nicht um Verstehen im Sinne der Parallelbildung des Identischen in den kommunizierenden Hirnen.

Also muss man sich klar machen, wie die Vermittlung zwischen den beiden Ebenen des Denkens und des Sprechens in der Kommunikation, also im Verhältnis von Sprechenden und Zuhörenden, einigermaßen gelingt. Naive Menschen glauben, Sakralität begegne jenseits der Kommunikation der Menschen untereinander. Aber das Jenseits des Gemeinten, Gewussten, Gesagten entsteht aus der unaufhebbaren Differenz zwischen Denken und Sprechen in ästhetischer, ethischer und epistemologischer Hinsicht. Diese prinzipiell uneinholbaren Differenzen hießen in unserer Tradition einmal chorismos, einmal gap, oder in anderer Hinsicht Synapsenspalt beziehungsweise das »Fremde«, das Unbekannte.

Die Eigentümlichkeit künstlerischer Bildgebung kann man darin sehen, dass diese Differenz von Denken und Sprechen, von Anschauung und Begriff, von Allgemeinem und Besonderem, von Fakten und Fiktionen selbst materiell wird. Auch das Hubersche Gemälde ist das Realwerden solcher Differenzen. Gottfried Benn hat die starke Umformulierung eines Nietzsche-Gedankens dafür angeboten: »Die formfordernde Gewalt des Nichts«. Und das heißt, wir widerstehen dem Sog der Leere, der verschlingenden Differenz nur durch Informationen, die wir durch das Formieren von Zeichen, von Objekten, von Lebewesen erzeugen. Das In-Form-Bringen ist die entscheidende Wirkung von Information, ganz gleich, ob das unsere Haltungen und Einstellungen betrifft oder die Ordnung von Soldaten auf dem Schlachtfeld oder die Konstellation von Zeichen auf einem Quadratmeter Leinwand oder das Anlegen von Beeten im offenen Gelände, das dadurch zum Garten wird.

Formschaffen ist also das Prinzip des Transzendierens. Damit ist aber kein spekulatives Brimborium über Götterwelten oder Jenseitigkeitsphantasien gemeint, sondern der Zusammenhang zwischen der physisch gegebenen Welt und unseren Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen, die in viel höherem Maße als die physische Realität unsere Lebensbewältigung bestimmen. Metaphysisch ist also das Denken selbst und nicht das, worauf es sich im Jenseits des Denkbaren beziehen wollte.

»Wo sind wir, wenn wir außer uns sind?« fragt Sloterdijk. »Wohin geraten wir, wenn wir uns ganz nach innen kehren wollen?« Die Antwort der Künstler, die auch Wilhelm Lehmbruck, dem Huber künstlerisch sehr nahekommt, nur bestätigen, aber nicht überbieten konnte, heißt: Wir erreichen den Ausdruck des Seelisch-Geistigen nur als Form: einerseits als Form der Innerlichkeit, und andererseits als Form der Ekstase oder der Selbstübergipfelung.

Wie formiert man Raum? Und Huber hat ja nichts anderes in seinen jungen Jahren getan, als zu fragen: Wie kann ich durch Bildgebung Raum formieren? Was ist das, die Skulptur als Raumverdränger, als Negativraum, bedingt durch den Raum, den das Gefüge, die Relation der Plastiken erst schafft? Das Bild, die Skulptur als Zwischenraumgespenster, wie sie Beuys etwa durch Unschlitt-Auffüallung positiv und konkret werden ließ? Auch Raum ist nur Form, entstehend aus der Relation von Formen. Die Beziehungen der im Raum gegebenen Objekte aktualisieren das Gefüge als Raum. Und er existiert nur in den Momenten seines Wirksamwerdens durch die Kraft der Formierung zur Metaform, der Form der Form. Raum ist eine Überformung der Formen, so wie Landschaft eine Überformung der natürlich gegebenen Berge und Täler, Büsche, Bäume in unserem Wahrnehmungshorizont ist. Landschaft gibt es nicht in der Natur, sondern nur in unserem Denken und Vorstellen. Die Beziehung auf das natürlich Gegebene ist das Ensemble der Formen, zu denen wir unseren Körper, unsere Haltungen und Handlungen durch Training und pädagogische Arbeit ertüchtigen, kurz: durch Bildung erreichen, wie der Bildhauer Stein, Erde, Marmor und Bronze zur Form ertüchtigt. In der Form ist die gespenstische Fernwirkung von Psyche und Soma, von Geist und Leib, von Metaphysik und Physik, also Metaphysis und Physis gegeben. Deswegen ist Bildung als ein Formen zum zentralen Begriff der menschlichen Weltbeziehungen geworden. In ihnen wird die Einheit von Ergreifen des konkreten Weltmaterials durch die Hand und Begreifen als gedankliche Erfassung der gesetzmäßigen Einheit erreichbar. Wie Begriff und Bild der Landschaft als durch die Wahrnehmung erreichte Formierung von Natursegmenten je unterschiedlicher Anmutung entsteht, so ist das auch bei Gestalt und Begriff der Formen.

Was wir als typisch für die Gestaltungen Lehmbrucks oder Rossos oder Giacomettis empfinden und kommunizieren, sind eben solche Anmutungen, wie sie Landschaften als Naturwahrnehmung prägen. Nicht Metaphysik als Beziehung auf das Außermenschliche, Jenseitige, Göttliche usw., sondern der Bezug auf die innerweltliche Transzendenz ist Erkenntnis. Und die erreicht man durch Formung, Formierung von Einzeldingen, also das In-Form-Bringen, indem man sich zum Angebot der Form, zur Information zu kommen, verhält.

Also die Vermittlung von außen und innen, beides.

Thomas Huber hat in seinen frühen Arbeiten zum Beispiel Raum als Form entwickelt. Wie ist das zu denken? Die Welt ist als offenes Feld der Bewegbarkeit von Gegenständen gegeben; und solange ich Dinge bewegen kann, gibt es für mich Raum. Der Raum wird erst gebildet durch das In-Relation-Setzen der Dinge zueinander. Indem ich Dinge in Relation setze, schaffe ich Raum. Es gibt außerhalb der Bewegung von Dingen zueinander keinen Raum. Das ist auch die Auffassung der Physiker. Das heißt, nur durch die Konstellation von Objekten zueinander wird der Raum geschaffen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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