Buch Fridhelm Klein: 1000 Tageszeichnungen
Denkende Hand – Reflexionen zur Kreativität des Alltags
Reihe: Buchfranken; 19
Denkende Hand – Reflexionen zur Kreativität des Alltags
Reihe: Buchfranken; 19
Seite 32 im Original
Fridhelm Klein im Gespräch mit dem Ästhetik-Professor und Kunstexperten Bazon Brock und seinem Sohn, dem Künstlerbetreuer und Philosophen Dr. Bernhard Klein.
Fridhelm Klein: Ich möchte heute mit dir über die Tageszeichnungen sprechen, die Einteilung in Tage, an denen ich einfach, wo ich sitze und gehe und stehe, telefoniere oder auf die Straßenbahn warte, Spuren lege. Und diese Spuren sind sehr individuell, sehr persönlich. Sie sind für mich in erster Linie dazu gedacht, neue Gedanken zu kriegen, neue Ideen zu haben, Kompositionen zu erfinden, aber auch Einsicht zu geben in mein inneres Leben. Für andere.
Bazon Brock: Das entspricht Herodots Postulat „Werke und Tage“. Das bedeutet einerseits: So wie man den Tag lebt, produziert man auch das Werk. Andererseits ist hier das Leben, da das Werk. Erga kai hemerai heißt das auf Griechisch, erga sind die Werke, kai hemerai sind die Tage. Erga kai hemerai bedeutet dann das zusammenzuschließen, das heißt, das Leben selbst ist die Form der Entwicklung des Werkes, aber auch, das Leben des Künstlers ist die Voraussetzung dafür, dass er etwas schaffen kann. Die Organisation des Lebens entspricht der Organisation des Werkes. Man lebt dann, wie man schreibt. Das ist die Musil'sche Formulierung. Man lebt in Werkform. Das hat in den Schulen wie z.B. in der epikureischen Schule und in den Akademien begonnen. Die epikureische Schule und die der Stoa, das sind die beiden wichtigen Schulformen. Die Akademie von Platon spielt da nur eine untergeordnete Rolle. Der Akademiebegriff leitet sich ab vom Namen eines Hains, denn Akademos war der Name eines Gartens. Deswegen heißen die dort veranstalteten Lehren von Platon akademische Veranstaltungen. Das ist also nichts anderes, als der Name eines Gartens oder eben der Umgebung, in der man Werke und Tage aufeinander bezieht – entweder indem man das Leben selber als Werk versteht oder hinsichtlich der Frage: Wie müssen wir leben, damit ein Werk entsteht?
Zum Beispiel heißt es bei Thomas Mann: „Ich muss um 8 Uhr am Schreibtisch sitzen und arbeite bis zwölf.“ Das ist die einzige Basis dafür, wie Werke geschaffen werden. Die Stoiker und Epikureer haben ihren Schülern auch schon diese Anweisung gegeben: nulla dies sine linea, kein Tag ohne Manifestation. Das heißt, wenn ich ein Tagebuch führe, ist das auch eine Fixierung des Lebens. Das Leben ist also nicht entscheidend, denn es wird ja nur dadurch, dass es erinnerungsfähig wird, ein für das Werk bedeutsames Leben. Es geht also nicht um Gleichwertigkeiten, also hier Leben und da Werke, sondern es ist wirklich eine Einheit. Und das Leben ist gebunden an die Erinnerung, gelebt zu haben.
Also ist alles Leben darauf ausgerichtet, eine Erinnerung zu schaffen. Ich lebe, damit es später eine Erzählung über mein Leben gibt. Das ist dann die Biografie, und das ist entscheidend. Das Leben als Werk ist die Biografie, also die selbstgeschriebene Autobiographie oder die fremde, die von anderen geschriebene Biographie. Das heißt, Leben selbst wird zu einem Werk. Das geht von der Stoa direkt die christliche Ethik ein: Man hat so zu leben, dass es ein gottgefälliges Werk ist in theologischer Absicherung in dieser oder jener Hinsicht.
Also sind Tageszeichnungen im Sinne der seit der Antike vorgegebenen Einheit von Leben und Werk die einfachste Vermittlung zwischen den beiden Ebenen, das Leben selber auch zu zeigen. Diese Aufzeichnungen können später zum Beispiel als Teil der Autobiografie selber wieder ein Werk sein. Man muss das Werk additiv entwickeln, jeden Tag etwas tun. Das würde dann heißen, Aufzeichnungen sind die Fixierungen der einzelnen Elemente, damit am Ende ein Ganzes herauskommt. Bei diesem Aufzeichnungsverfahren, das du verwendest, stellt sich die Frage: Was ist nun das Ganze, auf das du hinarbeitest? Denn jede Aufzeichnung selber ist eine Werkeinheit. Aber warum werden so viele nebeneinandergestellt? Gibt es dann ein Überwerk zum Werk? Was ist eigentlich das Ziel? Ist es hier wieder das tägliche Werken als bloßes Leben?
Was ist daran die Intention? Wenn du 1000 solcher Zeichnungen herstellst als Tageszeichnungen, hast du ja eigentlich nichts anderes, als eine zeichnerische Darstellung eines Lebens, aber noch kein Werk. Das heißt, auf welche Werkebene zielt das? Ist es eine Gesamtsammlung? Dann wäre es sozusagen eine Autobiografie als Zeichnung. Eine gezeichnete Autobiografie. Eine mit bildenden Mitteln gestaltete Biografie.
Fridhelm Klein: Es ist eine Aufzeichnung von vielen Elementen, vielen Ebenen. Die gefühlte, die gesehene, die wahrgenommene Ebene, die Ebene der Projektion und die Ebene der Vision. Das heißt, mir geht es erstmal sehr stark um mich selber; darum Ideen zu entwickeln, aus einem Schema herauszukommen, wobei ich das Schema benutze. Ich benutze immer schematische Figuren.
Bazon Brock: Aber das gilt ja für jede Arbeitsbiografie eines Künstlers. Man lebt zum Beispiel im Hinblick auf die Vision: „Oh, diese schöne Frau könnte sich mit mir verbinden“, oder: „Diese Karriere könnte ich machen.“ Das Leben ist immer wieder auch die Vision der Antizipation, des Arbeitens an den Lebenskonzepten, also an der Aufgabe, die Biografie zu haben. Das ist immer das Gleiche, nur, dass du das Ganze mit zeichnerisch bildenden Mitteln machst, was andere Leute auf verbaler Ebene tun.
Fridhelm Klein: Genau. Wobei ich die Sprache nicht rauslasse. Es gibt immer Sprüche jeden Tag, ganz verrückte Sachen, Zusammenhänge, die ich gerade aufpicke.
Bazon Brock: Aber die Sprüche sind Anweisungen, die du dir selber gibst. Das tut man im Leben ja auch.
Fridhelm Klein: Ja, aber manche sagen: Der ist verrückt, weil er das macht. Aber ich meine, dieses selber Verrücken ist ein ganz wichtiges Element, das ich für mich einfach auch trainieren möchte. Das heißt, es ist eine Art von Übung, eine Art – wenn man es jetzt religiös meint – von Meditation, Gebet, wo ich mich an jemanden wende, der oder die mir die Kraft geben, überhaupt noch eine Spur zu hinterlassen.
Bazon Brock: Das Leben ist ja ein permanentes Experiment. Man hat es noch nicht gelebt, man hat es noch nicht trainiert, man kann es nicht. Also im Leben fällt die Entfaltung der Möglichkeit mit der Verwirklichung zusammen. Das ist genau das, was du gestalterisch machst. Deswegen sprechen die Leute auch seit der Stoa von der Arbeit an der Biografie, von der Gestaltung des eigenen Lebens. Das sind dieselben Verfahren, die du beim Zeichnen auch anwendest.
Das ist eine Übersetzung der Biografiepflichtigkeit in eine Darstellungspflichtigkeit. Und die Darstellung wäre dann am Ende auch eine geschlossene Biografie. Wenn man alle seine Zeichnungen zusammen hat, könnte man sagen, das ist das Leben von Herrn Klein. So hat es Paul Klee gemacht. Dann hat er aber gesagt: Nein, das reicht mir nicht. Das muss übersetzbar sein, nämlich im Sinne einer Einübungslehre. Er nennt das Grundlehre, und die Bauhäusler übernahmen das, sie nannten es Grund- und Meisterschaftslehre. Also es ist eine Art von Handreichung für andere, die aber nicht sagt, es sollen alle so zeichnen, sondern sie sollen sich nur auf den Unterschied zwischen einer wortsprachlichen, einer objektsprachlichen und eben einer gestalterischen Fixierung konzentrieren, denn im Zeichnen ist die Einheit von Tun und Gestalten gegeben. Das heißt, du machst etwas, das aber gleichzeitig eine Gestaltung ist. Wenn du dich morgens anziehst als normaler Mensch, machst du das Gleiche. Du tust etwas, du hüllst deinen Körper in künstliche, wärmende Hüllen ein; aber durch die Art der Gestaltung - blau kommt zu blau und grün oder was immer – gestaltest du beim Anziehen gleichzeitig dein Erscheinungsbild. Das ist genau derselbe Vorgang.
Und dann kann man den Menschen sagen: Lernt in Einheit eine Funktion zu erfüllen - körperliche Wärme, Ernährung, Sozialkontakte – und gleichzeitig diese Funktionserfüllung nach eurem Willen zu gestalten. Man isst ja zum Beispiel nicht irgendwas, sondern man isst vegan. Vegan essen ist ein gestalterischer Eingriff in die Fähigkeit, durch Essen seinen Metabolismus zu erhalten. Das ist überall dasselbe Prinzip, das du auch verfolgst. Das Grundprinzip ist also klar. Erga kai hemerai. Werke und Tage. In den Beziehungen.
Fridhelm Klein: Ich habe von Ideen gesprochen, der Suche nach Ideen, nach bildnerischen Ideen, nach Ausdrucksformen, aber ich verharre natürlich sehr stark, das ist eine Kritik an mir selber, im Schema. Und dieses Schema ist aber nicht nur negativ, sondern gibt auch einen Halt für mich, für andere.
Bazon Brock: Das Motiv, ich will ausbrechen, was Neues bringen, das kann man nicht erzwingen wollen im Sinne von „Kreativität ist die Abweichung", sondern die Abweichung ergibt sich ja gerade aus der Einübung in die Gewohnheit. Und das ist eine reine Leistung des Großhirns. Das heißt, wenn du wie beim täglichen Zeichnen rein mechanisch bestimmte Dinge tust, schleichen sich Mutationen ein. Also als Abweichung von der Gewohnheit oder aber als willkürliche Abweichung per Zufallsmoderation. Das sind eigentlich alles ganz natürliche und deswegen banale Verfahren.
Die entscheidende Frage ist: Worauf läuft das alles hinaus? Ist am Ende so etwas wie ein Weltbild oder eine Religion entstanden? Kannst du mit deinen Arbeiten auf etwas zielen, was durch den Einsatz dieser Mittel am Ende als ein großes Gefüge, als Weltbild oder Missionsauftrag oder Propaganda-Vorschlag dasteht?
Fridhelm Klein: Vielleicht insofern, dass ich anrege durch mein eigenes tägliches Arbeiten etwas selber zu machen, was nicht unbedingt im funktionalen Bereich des Alltags der Existenzbehütung liegt, sondern in einer anderen Ebene aufgehoben ist. Also dieses Anderssein als der Alltag, diese Fülle, die außerhalb des Alltags liegt, das möchte ich einfach aufzeichnen.
Das ist ja ungeheuer, was wir an Möglichkeiten haben. Und wir kommen da nie zu einem Ende. Es ist ja auch eine endlose Arbeit, dieses Spurenlegen. Nur, ein Anderer sagt, ich setze mich lieber hin und schaue in die Landschaft. Es geht mir übrigens im Alter jetzt sehr stark so, dass ich einfach dasitze, im Freien am liebsten, dem Wind zuhöre, nichts mache, einfach vor mich hinschaue.
Bazon Brock: So leben.
Fridhelm Klein: Ja. Aber nichts tun, außer Dinge so ohne Absicht anzuschauen. Und diese Ebene, die ich hier im Zeichnen habe, ist auch nicht unbedingt absichtsvoll, sondern sie ist schon fast in einer anderen Welt aufgehoben, wenn ich anfange gestisch zu skribbeln und mich da fortzubewegen in einer Schnelligkeit, die ich selber gar nicht nachvollziehen kann, und plötzlich ist eine Fläche schwarz. Dieses Verwandeln einer Fläche von Hell zu Dunkel ist ja immer ein Wahnsinnsereignis, eine Freude dran, dass ich das machen kann.
Diese Freude am Spurenlegen und Zeichen setzen, möchte ich einfach sagen, als Beispiel für andere Dinge, die man im Leben macht, macht es doch auch. Andere Materialien, auch Musik, Tanz, Theater, Sprache, all das könnt ihr doch benutzen, um euren Alltag nicht nur aus der Existenz des Existenziellen zu sehen, sondern aus einer anderen Existenz, dass ihr eine Sehnsucht bekommt für eine andere Existenz. Also aus eurem Körper, den ihr habt, wegfliegt. Aber es ist ja schon wieder eine Sonntagspredigt.
Bernhard Klein: Also was Transzendentes.
Bazon Brock: Das ist eben die Sonntagspredigt, ja. Da steckt noch der alte Dorfschullehrer in dir, der den Kindern sagen muss: „Ich bringe euch bei, wie ihr euren Alltag reicher gestalten könnt.“
Fridhelm Klein: Ja. (lacht)
Bazon Brock: Nein, psychologisch betrachtet, verläuft das ganz anders. Entdeckt wurde das durch die creature automatique. Das ist ein Verfahren, das sich auf die Beobachtung nach der Einführung der Fernsprechgeräte berief, dass alle Leute, während sie telefonierten und sich bewusst auf den Partner einließen, mit den Händen auf allem, was da lag, herumkritzelten. Und nach dem Telefonat blickten sie plötzlich auf das Gekritzel und sagten: „Was ist denn das hier? Was habe ich denn da gemacht?" Und diese creature automatique wurde dann psychologisch daraufhin untersucht, was sich darin ausdrückt. Das ist ein ganz anderer als der griechische Ansatz des erga kai hemerai.
Bezogen auf die Psychologien des Unbewussten ist Zeichnen ein wunderbarer Ausdruck für die Beobachtung der unbewussten, zum Teil ins Unterbewusstsein verdrängten, zum Teil traumatisierten Persönlichkeit. Darauf setzen die Psychiater schon seit Morenos Zeiten. Moreno war ein berühmter Psychoanalytiker, der 1927 das Schauspiel im Sinne der Laienbewegung nutzte.
Bernhard Klein: Psychodrama.
Bazon Brock: Ja, um Leute zu einer Art von Enthüllung zu bringen. Wie du schon gesagt hast, geht es nicht um das Spurenlegen, sondern es geht um das Spurenlesen. Um zu sehen, was sich darin ausdrückt, braucht der Psychiater eine Technik des Lesens. Und wenn du so zeichnest, dann hast du die Technik des Herstellens von Spuren und das Lesen der Spuren in Einheit. Das ist so, wie wenn der Psychoanalytiker jemanden dazu verführt zu skribbeln, sich zu äußern, und ihm gleichzeitig sagt: „So, und jetzt lese ich dir vor, was das ist.“ Das ist die Einheit von Ausdruck oder Expressionsvermögen und der Fähigkeit, die Expression tatsächlich auch zuordnen zu können.
Fridhelm Klein: Eine Gestalt zu geben.
Bazon Brock: Ja, diese ganze créature automatique ist gar keine Gestaltungsvorgabe im Sinne des „Es muss eine Einheit sein“, sondern es geht wirklich um die Frage, was sich darin entbirgt. Und dann wäre das prägende Gestalten eine Form der Entbergung – so wie die Aletheia, das heißt das aus dem Strom des Vergessens Freigelegte. Also ist die Wahrheit eine Entbergung aus dem Vergessen. Bei der Psychoanalyse geschieht das im Hinblick darauf, dass ich akzeptiere und an mich heranlasse, was verschüttet wurde, was vergessen werden sollte, was ich verdrängt habe.
Und das ist die zweite Ebene, auf der dieses Tageszeichnen wichtig ist. Das würde aber heißen, man muss sich selbst als jemand auf die Spur kommen, der sein eigenes automatisches Schreiben oder Zeichnen lesen kann. Das fällt aber ziemlich schwer, also braucht man doch einen Dritten. Das heißt, du musst jemanden haben, für den du das machst. Und das ist die Öffentlichkeit, das sind die Schüler oder wer immer. Und dann musst du dir von ihnen sagen lassen, was sich darin entbirgt. Auf der psychologischen Ebene wären die Tageszeichnungen also eine Form der Darstellung, die es möglich macht, den Willen und die psychologische Verfasstheit oder die kriminelle Energie oder das Wunschpotenzial des Kritzelnden ausfindig zu machen.
Innerhalb dieses Verfahrens der westlichen Psychologie kann nun aber jeder versuchen, den enthüllenden Leser in die Irre zu führen. Das heißt, man kann lügen. Das ist insofern sehr wichtig für Gestalter, weil es um die Frage geht, ob man mit Darstellungen lügen kann. In der Gestaltung kannst du nicht negieren und zum Beispiel keinen Konditionalsatz bilden. Es ist keine Möglichkeitsform. Als das, als was es darstellt, ist es ja real. Also ist der Gestalter angewiesen auf die Möglichkeit, durch diese Expression genau das unsichtbar werden zu lassen, worum es eigentlich geht.
Es gibt viele Leute, die sitzen dann bei ihrem Psychoanalytiker und versuchen ihm etwas zu erzählen, was gerade nicht der Wirklichkeit entspricht, was er sehr schnell merkt. Also stellt sich die Frage, ob man die Leser in die Irre führen kann. Bei den Indianern war das ganz klar, da wurde er in eine Falle gelockt. Aber der Leser ist dir gegenüber ja nicht in der Position eines unterlegenen Schwächeren, der Leser riskiert nicht, von dir bestraft zu werden, aber für den Zeichner selber ist es sehr wichtig, sich klarzumachen, inwieweit es genügt, in der natürlichen sprachlichen Operation etwas bewusst als Falsches darzustellen, also zu lügen. Wo ist hier die bewusst falsche Darstellung als Expression? Und gelingt es überhaupt? Kann man dann systematisch zum Beispiel Falschheiten darstellen? Also kann man zum Beispiel systematisch lügen? In der zeichnerischen Darstellung geht das eben nicht.
Fridhelm Klein: Was macht die Linie mit dem Autor? Gibt es Rückkoppelungen?
Bazon Brock: Das haben wir doch gerade gesagt: Wenn er bewusst etwas Falsches zeichnen will, ist das auf der objektiven Ebene genauso echt wie das anders Gemeinte. Also die Frage ist, kann man ein Pferd oder eine Frau falsch darstellen? Im Portrait hieß das früher: „Herr Maler, ich gebe das Bild zurück, es sieht meiner Frau nicht ähnlich.“ Da spielen Fragen der grundlegenden Hermeneutik mit hinein, wie zum Beispiel: Was verlangt der Adressat? Inzwischen würde wohl kein Mensch mehr sagen, die Nase der Dargestellten ist der meiner Frau gar nicht ähnlich, sondern: „Aha, Sie intendieren ein psychologisches Portrait. Sie wollen eine innere Darstellung ihrer Äußerungsform und Charakteristik“, etc. Aber das ist im Grunde erledigt. In der Lügenfrage steckt das ganze Problem. Und wenn du sagen kannst, lerne das Lügen mit dem Zeichner Herrn Klein, dann wäre ein tolles Werk vollbracht. Das kannst du vielleicht mal machen: „Lernt zu lügen mit bezeichnendem Zeigen.“
Fridhelm Klein: Aber es gibt doch auch das bewusste Falschmachen.
Bernhard Klein: Es gibt doch die Zeichnungen, die changieren. In der Perspektive. Also einmal ist es eine Ente und einmal ist es ein Hase.
Bazon Brock: Ja! Einmal junge Frau, einmal alte Frau. Man könnte natürlich sagen, das Figur-Grund-Verhältnis sei ein Verhältnis von Lüge und Wahrheit. Aber da sich beides aufeinander bezieht, da Figur und Grund sich gegenseitig definieren, ist es eben keine Lüge.
Bernhard Klein: Mich würde hier noch einmal die Thematik der Autorschaft interessieren, und besonders die der Handschrift. Man kann doch eigentlich nicht seine eigene Handschrift verändern, oder seinen eigenen Stil. Der Stil ist ja l'homme même. Giacometti hat seine geraden Figuren, er hat einen Stil zu zeichnen, zu schreiben mit der Hand, und da kann man doch nicht über seinen Schatten springen.
Bazon Brock: Doch. Aber es geht um etwas ganz anderes: Jeder Mensch hat nur ein begrenztes Repertoire. Das bedeutet ja, dass wir gerade nicht die Möglichkeit haben, alles Mögliche zu tun, denn wenn wir es tun, werden wir durch die Fähigkeiten, die nun mal begrenzt sind, bestimmt.
Und das heißt, lerne deine Grenzen kennen, bewirtschafte deinen Mangel, wie Gottfried Benn das formuliert hat. Lebe nicht von deinen Parolen, sondern von den Beständen. Das sind Bestandsaufnahmen der Breite der Expression, die jemandem zur Verfügung steht.
Und er versucht ja auch in gewisser Weise, das in hohem Maße zu variieren. Aber man erkennt sofort, dass es zusammengehört. Denn sonst wäre das kein Werk, sondern es wäre eine Erzählung, die prinzipiell nicht durch eine innere Form, Anfang und Ende, bestimmt ist.
Bernhard Klein: Aber wie kann ein Autor oder ein Zeichner zur Marke werden?
Bazon Brock: Indem er seine Beschränktheit bewirtschaftet. Indem erkennbar wird, diese unendliche Vielfalt stammt von demselben Mann.
Und dann gibt es so ein schönes Versteckspiel wie bei Picasso: Wenn jemand so berühmt ist, kommt man auf die Idee, ihn fälschen zu wollen, ihn zu kopieren, und sagt sich: „Auch ich kann etwas machen, was aussieht wie von Picasso.“ Worauf Picasso antworten würde: „Das ist sehr gut, das versuche ich ja ständig mit mir selbst. Ich habe festgestellt, ich kann mich nicht täuschen, ich kann mich nicht fälschen.“ Denn auch die Fälschung ist wieder echt.
Insofern ist das, was ein Fälscher wie Beltracchi macht, eben mit den herkömmlichen Kriterien von Wahrheit und Falschheit, von kriminell und zugelassen, nicht richtig bestimmt. Picasso wie jeder große Meister hätte sich über jeden gefreut, der ihn so gut fälschen kann, dass nicht mal er es bemerkt.
Und das ist vorgekommen. Viele Fälscher sind so gut, dass selbst die Urheber das anerkennen als genuine eigene Leistung. Und der Effekt ist ganz natürlich, denn jeder Mensch, der etwas gemacht hat, wird sich nach drei Jahren fragen: „Ich soll der Autor sein, das ist ja irrsinnig. Wann soll ich das je gemacht haben? Diese Liebesbriefe stammen nicht von mir." Das kennt jeder als Erfahrung. Insofern ist das reine Psychologie.
Fridhelm Klein: Gehen wir noch mal zusammen zurück: Ist die Zeichnung, das Zeichnen als ein Lebenselixier zu betrachten, oder ist es ein Abschreibungsverfahren persönlicher Eitelkeiten?
Bazon Brock: Das ist unerheblich. Es könnte jemand fragen: „Sagen Sie mal, warum bewegen Sie dauernd Ihre Arme und Füße? Und Ihre Augen? Ist das Absicht?“ Das ist der Ausdruck des Lebens. Und jemand, der fixiert ist auf die Gestaltungskraft der Hand, der wird eben pausenlos arbeiten.
Fridhelm Klein: Pausenlos.
Bazon Brock: Mehr oder weniger.
Bernhard Klein: Wie war denn noch mal dieser Begriff? Wir haben gestern noch darüber gesprochen. Die Lust der Pflichterfüllung?
Bazon Brock: Augiasmus.
Bernhard Klein: Genau, Augiasmus. Vielleicht ist es ja eine Pflichterfüllung, indem du dein Tagewerk machst als Zeichnung. Und daran auch Lust empfindest, ob das jetzt im Zug, im Flugzeug, auf der Couch oder vor dem Fernseher ist.
Bazon Brock: Ja, also man macht eine Anstrengung und wenn es gelingt, das zu fixieren, umzusetzen, zu erfüllen, ist das ein Lustgewinn durch die Erfahrung von Erfüllung, indem man eine Aufgabe oder eine Pflicht erfüllt. Der Lohn für die Anstrengung ist also die Anstrengungslust. Und das ist der Augiasmus parallel zum Orgasmus, der ja nur für einen ganz kleinen Bereich von Aktivitäten zuständig ist.
Bernhard Klein: Und für einen kurzen Bereich.
Bazon Brock: Während Augiasmus eben sehr viel breiter und vor allem gesellschaftlich sehr viel vermittelter ist. Das ganze Bürgertum ist nichts anderes als eine ständige Legitimation: Jeden Tag acht Stunden arbeiten mit großem Verzicht auf alle privaten Erfüllungen, im Sinne von „Es war meine Pflicht und ich habe sie erfüllt, und allein durch die Erfüllung der Pflicht bin ich schon ein gerechtfertigter Mensch.“
Fridhelm Klein: Kann man da auch sagen, dass dieses tägliche Zeichnen eine Art von Fest ist, also etwas, was ich auch feiere, was ich selber schätzen gelernt habe und dass ich ohne dieses Fest keine Lust mehr empfinde? Bazon Brock: Na ja, man kann alle Tätigkeiten überhöhen. Ein Fest wird doch dadurch gekennzeichnet, dass es so selten vorkommt, eine lange Vorlaufzeit braucht, der Höhepunkt einer langen Kette von gegenteiligen Maßnahmen war. Man kann nicht täglich ein Fest feiern.
Bernhard Klein: Ein Fest im Kleinen vielleicht.
Fridhelm Klein: Nee, es braucht also eine Pause. Zeiteinteilung heißt das, abwarten können.
Bazon Brock: Ja, aber hier ist das Fest gar nicht gemeint, sondern es ist die Tageszeichnung und nicht das Tagesfest.
Fridhelm Klein: Aber wenn mir was gelingt?
Bazon Brock: Nein, der Goethe’sche Faust sagt: „Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure Wochen! Frohe Feste!“ Oder: „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.“
Fridhelm Klein: Ist die Spur alleine – also das hatten wir schon angesprochen – eine persönliche, oder hat sie auch einen allgemeinen Wert? Bleibt es bei einem persönlichen Ausdruck, bei einem persönlichen Hinweis, oder steckt in diesen Dingen etwas Allgemeines?
Bazon Brock: Deswegen braucht es ja die Vergleichung. Das heißt, die Wissenschaft, die Kunstwissenschaft beispielsweise, die es fertigbringt, die Werke von 100 Künstlern zusammenzustellen, und dann sieht man A gegen B gegen C gegen D, und dann kann man die Persönlichkeitszuordnung, den Persönlichkeitsausdruck identifizieren.
Also brauchst du die Wissenschaft als diejenige, die die einzelnen Spuren immer miteinander so vergleicht, dass sich aus dem Vergleich etwas ergibt.
Fridhelm Klein: Genau, das ist es! Die historischen Beispiele zur Linie haben wir schon angesprochen. Zumindest etwas, oder? Und die Verdichtung zum Ende des Lebens hin habe ich ja vorhin versucht auszudrücken.
Bazon Brock: Das ist eine Selbsttäuschung. Es ist eher eine Verdünnung. Aller Ausdruck am Ende steht unter Einschränkungen, und das ist meistens eine Verdünnung und keine Konzentration.
Das ist das alte Schema der Gestalt- oder besser der Kulturmorphologie: Alle Kulturen entstehen, entfalten sich, kommen an den Höhepunkt des Machteinflusses und verschwinden langsam aus der Welt. Das ist sozusagen auch die natürliche Art und Weise, wie wir unsere Gestaltungs-, Ausdrucks-, Darstellungskräfte selber erleben. Jeder Mensch wird eigentlich sagen, das Alter ist nicht ein Potenzierungsprozess, sondern eine ökonomische Verwaltung von immer weniger. Im vollen Bewusstsein der Jugendkraft hat man sich nie ökonomisch verhalten. Im Alter, im Bewusstsein der Ineffizienz, der Einschränkung, muss man das tun. Und dieses ökonomische Verhalten interpretiert man selber als Optimierung. Aber da wird nicht optimiert.
Fridhelm Klein: Es läuft aus.
Bazon Brock: Ja.
Fridhelm Klein: Wie eine Welle im Meer.
Bazon Brock: Nun sagt man ja bei großen Malern, dass sie mit 70 Jahren besser die Psychologie eines Menschen erfassen konnten. Das ist auch Unsinn.
Bernhard Klein: Aber was das Interessante ist am Alter, ist doch die Meisterschaft.
Bazon Brock: Die Meisterschaft gibt es mit 18 Jahren ganz genauso.
Bernhard Klein: Nein, das ist ja wieder ein Geniebegriff. Durch Übung kommt doch erst die Meisterschaft. Das sagt jeder. Selbst einer, der Metzger ist, hat erst nach langer Zeit gelernt, wie man ein Schwein zerteilt.
Bazon Brock: Das ist wie beim Autofahren: es ist noch nicht habituell geworden. Wenn es habituell wird, ist es gekonnt. Dann fährt man aber nicht besser Auto, weil man schon so lange Auto fährt, sondern man fährt völlig unbewusst, man macht das als Ausdruck eines habitualisierten Repertoires.
Bernhard Klein: Es gibt doch auch eine Meisterschaft, die aus verschiedenen Aspekten des Lebens wie Auto fahren, Zeichnen, Fernsehen schauen, Kochen zusammenkommt, und dann zur Meisterschaft in irgendetwas anderem wird. Übung macht den Meister.
Bazon Brock: Meister sind die, die es können, aber was haben die Meister, wenn sie's können? Dann haben sie die Lizenz, sich mit dem zu beschäftigen, was sie nicht können. Also jeder Meister fängt sofort an, nachdem er seine Meisterschaft erworben hat, sich auf das einzulassen, was er nicht kann. Ein Meister hat die Lizenz zum dilettantischen jeweils neu Ausprobieren von etwas.
Bernhard Klein: Warum spricht man dann vom Handwerksmeister?
Bazon Brock: Weil der die Zulassung hat. Der Handwerksmeister hat die Lizenz, selbständig über Gestaltungsprozesse zu verfügen, und auch über Abrechnungen. Er ist in der Zunft organisiert. Das heißt Meister, aber nicht, einer hat eine Meisterschaft erworben, die unendlich weit über dem Können der Anderen liegt. Das liegt einfach daran, dass es unterschiedliche Fähigkeiten gibt zum Beispiel Konzepte umzusetzen oder Erzählungen anzulegen, aber das liegt dann in der Persönlichkeit des Betreffenden. Man würde aber nicht sagen, Herr Walser ist ein größerer Meister als Herr Grass. Das sind zwei unterschiedliche Formen des Verfügens über Ausdrucksvermögen. Beide sind Meister. Das haben sie schon seit 40 Jahren bewiesen. Der eine mit seinem Roman „Blechtrommel“, der andere mit seinem „Fliehenden Pferd“ und seither sind sie Meister.
Bernhard Klein: Aber kein Meister ist vom Himmel gefallen.
Bazon Brock: Ja, das heißt, bis er da ist. Aber die Welt ist voller Meister.
Bernhard Klein: Durch Übung. Er ist nur dadurch ...
Bazon Brock: Ja, dadurch ist er Meister geworden, aber er wird nicht durch Übung Übermeister. Das geht nicht. Sonst müsste es ja Meisterschaftsgrade bis unendlich geben.
Meister ist jemand, der die Fähigkeit nachweisen kann, etwas Bestimmtes zur allgemeinen Zufriedenheit, das heißt im Sinne der Erwartungen zu erfüllen. Das sind die festgelegten Regeln. Damit ist ja gerade nicht gesagt, dass er nun die Regeln auf völlig neue Weise interpretiert oder versteht. Er hat zwar die Lizenz, alles ganz anders zu machen, aber auch dafür gibt's wieder Regeln, auch dafür gibt's wieder Formen der Bestimmung. Bis du Meister bist, musst du dauernd üben. Wenn du Meister bist, dann nützt es dir nichts, durch noch mehr Üben z.B. ein noch besserer Philosoph zu werden. Das gibt’s nicht.
Fridhelm Klein: Nun wollte ich noch auf das Archiv zu sprechen kommen. Ist das das Ziel des Lebens?
Bazon Brock: Nein. Beim Archivieren, beim Ablegen geht es um ganz praktische Übungen für Verlage oder für Leute, die an der Vermittlung für die Verwaltung der Erinnerung arbeiten wollen. Das Archiv selber ist ja nur ein Gedanke, alle, die etwas leisten, darauf zu verpflichten, das nicht nur auf ihrer aktuellen Gegenwärtigkeitsebene zu tun, sondern von vornherein dafür zu sorgen, dass sie rechtfertigungspflichtig sind. Und jeder, der rechtfertigungspflichtig ist, muss sein Tun offenlegen.
Das heißt, im Archiv kann man später noch jahrelang sehen, ob die Rechtfertigung auch tatsächlich gelungen ist. Mit anderen Worten, die Zuschreibung von Verantwortlichkeit bedingt die Aufbewahrung der Dokumente, damit jederzeit das Urteil überprüft werden kann.
Normalerweise werden die Dokumente heute zehn Jahre oder 15 Jahre lang aufbewahrt. Eine Universität muss zum Beispiel zehn Jahre lang die Akten archivieren, was auch der Praxis geschuldet ist; aber im Künstlerischen ist die Aufbewahrungspflicht eigentlich über Generationen gegeben. Die Gesellschaft ist verpflichtet, das Material, das die Bedingung für die Zuschreibung der Verantwortung oder andererseits der Honorare oder des Ruhms gewesen ist, überprüfbar werden zu lassen. Deshalb muss es aufbewahrt werden, und möglichst aufbewahrt für alle Zeit. Das geht natürlich nicht. Aber tendenziell ist das gemeint.
Aber man muss das, was den Anreiz gibt, da überhaupt nachzusehen, immer neu darstellen. Das verändert sich alle zehn Jahre im Hinblick auf zeitpolitische Umstellungen, ökonomische Verkehrungen oder auch biografische Veränderung der Leserschaft. Das ist die Verschiebung der Attraktoren: Wenn Attraktoren zu lange wirksam sind, sind sie erschöpft. Man muss den Leuten dann wieder einen neuen Attraktor bieten.
Alles Lesen ist ja eigentlich erneutes Lesen, alles Gestalten ist ein immer neues Gestalten, das heißt eine vergegenwärtigende Rückerfindung als humanistische Technik.
Auch die Renaissance war gar keine Wiederbelebung der griechischen, römischen Geschichte auf allen Ebenen wie Kunst, Wissenschaft, Staat und so weiter. Sie war ein Versuch, sich an etwas zu halten, also geschichtliche Tatsachen zu vergegenwärtigen, und bei dieser Vergegenwärtigung erfand man sie völlig neu.
Das heißt, unsere Antike mit Winckelmann ist die weiße, reingewaschene Marmorstatue, die auf dem Sockel steht. Das hat mit der historischen Antike nicht das Geringste zu tun. In der historisch wahren Antike hat es ausgesehen wie in einem Bonbonladen in Disneyland.
Das heißt, wir haben uns unsere eigene Antike selber geschaffen. Und so ist das immer in allen geschichtlichen Prozessen. Die Geschichte gibt es nur als eine Möglichkeit, in der Gegenwart zu wirken. Und die vergegenwärtigende Rückerfindung bedeutet dann eine völlig neue Definition, sodass gerade die Historiker die eigentlichen Schöpfer – futurologisch gesehen also die eigentlichen Zukunftskenner im Hinblick auf diese Wandlungsprozesse sind. Das andere nennt man Positivität in der Wissenschaft, also zu sagen, wie es war. Das ist natürlich naiv.
Aktion · Termin: 27.11.2018, 18:30 Uhr · Veranstaltungsort: Berlin, Deutschland · Veranstalter: Denkerei · Veranstaltungsort: Denkerei, Oranienplatz 2, 10999 Berlin