Buch Digitale Transformationen

Medienkunst als Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft

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Ein Reader mit Beiträgen von ca. 50 namhaften Autoren zu dem Prozeß der digitalen Transformation und ihrem Innovationspotenzial in Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Medienkunst. Mit einer CD-Rom mit allen Beiträgen als MP3-Files - gelesen von Oliver Siebeck.

Erschienen
2003

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fleischmann, Monika | Reinhard, Ulrike

Verlag
Whois

Erscheinungsort
Heidelberg, Deutschland

ISBN
3934013384

Umfang
369 S.

Einband
Gebundene Ausgabe

Seite 22 im Original

Gaunerprüfung für Medienkompetenz

Monika Fleischmann und Ulrike Reinhard sprachen mit Bazon Brock in der Bonner Kunsthalle im Juni 2004 über die Themen des vorliegenden Buches. Herausgekommen sind Aussagen zu Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, die dem Buch einen besonderen Rahmen verleihen. Gaunerprüfung für Medienkompetenz, die nur als Fälschungskompetenz in erkenntnistheoretischer statt krimineller Absicht verstanden werden kann.

BROCK: Die Generationen beschäftigende Frage, warum der Westen, obwohl technologisch zum Beispiel China, selbst Korea weit unterlegen, ab dem 15. Jahrhundert eine solche rasante Entwicklung nahm (selbst in Korea hat man 80 Jahre vor Gutenberg mit beweglichen Lettern gedruckt, in China war bekanntlich das Schwarzpulver schon lange in Gebrauch etc.), lässt sich beantworten. Der Westen erreichte eine so rasante Entwicklung, die sich innerhalb von 100 Jahren, von der Zeit Dantes, Giottos und Petrarcas bis zur Zeit Brunelleschis, Albertis und Piero della Francescas entfaltete, weil er ein neues System für die Begründung von Aussagen erfand, nämlich die Kunst. Das hat es in keiner anderen Gesellschaft gegeben. In den anderen Gesellschaften musste man, wenn man einen Aussagenanspruch erhob, ihn mit Verweis auf die Autorität des Hofes, des Kaisers, der Priester, der Stände versehen. Und diese Autorität wurde als Versprechen der Belohnung bei Akzeptanz der Aussagen verstanden oder als Androhung von Strafen bei Nichtakzeptanz oder Nichtbeachtung. Das war auch in Europa so. In der mittelalterlichen Ständegesellschaft konnte man nur Aussagenautorität gewinnen kraft Zugehörigkeit zum Hof, zum Klerus, zu ständischen Repräsentationsorganen. Im 14. Jahrhundert wird das System Kunst erfunden, indem man akzeptiert, dass jedes Individuum zur sprudelnden Quelle von Aussagen über die Welt, also von Hypothesen der Arbeit werden konnte. Hinter solchen Individuen, den Künstlern, stand keine Autorität des Belohnens oder Bestrafens, also kein Ständeführer, kein Bischof, kein Volk. Künstler boten Aussagen, die Interesse fanden, obwohl das Weghören und Weggehen nicht bestraft und das Zuhören nicht belohnt werden konnte. Wenn nicht mehr die Belohnung oder bestrafende Autorität, sondern die Aussagen selber durch die Art ihrer Organisation, Präsentation und Neuartigkeit Interesse finden, wird schlagartig die Anzahl der brauchbaren Arbeitshypothesen und damit die Entwicklungsdynamik der Arbeit an der Natur als kulturelle Artefakte Schaffen erhöht.

Ist das die Grundlage für Ihren Kunstbegriff?

BROCK: Kunst ist ein Begründungssystem für Aussagen, und zwar so, dass nicht »State of the Art«, kraft Approbation, Promotion, Delegation, also kraft beglaubigter Zugehörigkeit zur Fakultät, zur Expertenkommission, zur Kollegenschaft geurteilt wird; Kunst ist ein System der Begründung von Aussagen aus der Individualität der Aussagenurheber heraus. Dann müssen die Aussagen schon ein spezifisches Interesse finden, damit überhaupt jemand auf sie eingeht. Wann immer ein Mensch seine Sachen vertritt, ausschliesslich auf sein eigenes Beispiel gestützt und nicht auf Papst und Kirche, auf Partei oder Markterfolg, dann ist er Künstler. Er ist nicht Künstler, weil er malt und musiziert; auch Wissenschaftler, wie Einstein schon wusste, müssen immer dann als Künstler ihren Aussagenanspruch begründen, wenn sie etwas Neues vertreten, was gerade wegen der Neuheit den »State of the Art«-Regeln gar nicht unterliegen kann. Wer nur mit Verweis auf sein eigenes Können, das sich in der Art der Aussagen manifestiert, die Aufmerksamkeit anderer beansprucht, ist damit Künstler. Künstler sein, heisst, eine wie eben angedeutete Rolle zu übernehmen bei der Arbeit an der Natur, auch der Natur des Menschen und den von Natur aus erzwungenen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen sowie der Natur der Kulturen. die diesen Gesellschaften Verbindlichkeit garantieren. Wenn ein Nierenchirurg eine von den bisherigen Standards der Nierenchirurgie abweichende Vorgehensweise entwickelt, kann er ja nicht sich auf Legitimation durch Erfüllung der Standards berufen. Dann muss auch ein solcher »innovativer« Entwicklungsschritt der Nierenchirurgie zunächst vom Entwickler nach dem Beispiel der Künstler vertreten werden, wenigstens so lange, bis die Neuheit möglicherweise zum Standard in der Nierenchirurgie geworden ist. Das hat weitgehende Konsequenzen. Man denke nur an gerichtliche Auseinandersetzungen um Resultate von Operationen, die nicht »State of the Art«, sondern eben mit neuen Verfahren vorgenommen wurden. Es könnte ja überhaupt keine Entwicklung und Weiterentwicklung in den verschiedensten Tätigkeitsfeldern geben, wenn man durch straf- und zivilrechtliche Bedrohung dazu gezwungen würde, stets nach den »State of the Art«, also nach den allgemein gebräuchlichen und akzeptierten Standards zu verfahren.
Die Einführung des Kunstbegriffs und der Künstlerrolle als akzeptierter Weg, Aussagen jenseits des Bekannten und Üblichen zuzulassen, setzt voraus, dass hinreichend viele Individuen überhaupt zur Begründung ihrer Aussagenansprüche fähig sind. Deswegen entfaltete sich ab der Zeit Dantes, Giottos und - allgemein - der Humanisten ein regelrechtes Ausbildungsgewerbe für Individuen, die in Gesellschaft, Wirtschaft, Kriegführung und Architektur, Fernhandel und Diplomatie wirksam wurden - wirksam kraft ihrer Persönlichkeit. Im Wandel des Begriffs Subjekt kann man das ablesen. Die seit Diokletians Steuergesetzen der Steuerpflicht Unterworfenen, die "subjecti", also eigentlich die Objekte des staatlichen Handelns, werden in der Epoche der Renaissance zu denen, die eine auf ihrer eigenen Erfahrung gestützte Aussage, eine subjektive Aussage, zu allgemeinen Nutzen zu entwickeln vermögen. Damit werden sie zu Subjekten als Akteure im Sinne von verantwortlich für ihre Weltverhältnisse.

In welcher Rolle sehen Sie die Wirtschaft?

BROCK: Funktioniert das Modell dort auch? Moment. Mit der Entwicklung der Individualität und Subjektivität als gesellschaftlich akzeptierten Erkenntnisquellen entsteht etwas, gerade von heute aus gesehen, extrem Folgenreiches: Die Abkopplung der Künste und Wissenschaften, der Medizin und der Wirtschaft von kultureller Legitimation. Das heisst Abkopplung von der Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften, Sprachgemeinschaften, Ethnien und Rassen. Solche Kulturzugehörigkeit konnte nicht länger benutzt werden, um Aufmerksamkeit für Artefakte und Themen zu erzwingen. Kaufleute im Fernhandel und Diplomaten, Künstler und Wissenschaftler mussten sich über die Kulturen hinweg, über die Nationen hinweg, über die Kirchen hinweg verständigen. Dieses "Plus ultra", dieses über die kulturellen, nationalen und kirchlichen Grenzen Hinwegreichen, diese Transkulturalität, zielte auf Adressierung der gesamten Menschheit. In Fortentwicklung des transkulturellen Herrschaftssystems der römischen, ottonischen Imperien, der islamischen »umma« und des christlichen »catholicos« entstand so die Vorstellung von der Welt als geographisch-kosmischer Einheit (gestützt auf die seit Ende des 15. Jahrhunderts gelingenden Umfahrungen der ganzen Welt, und ihrer Repräsentation durch Globen) und als Menschheit, die überall nach den gleichen fundamentalen Regeln der Transkulturalität organisiert sein sollten. Das Gefüge dieser grundlegenden Regeln und Minimalstandards ist die Weltzivilisation. Die imperialistische Durchsetzung dieser Zivilisation seit dem 16. Jahrhundert, die Zivilisierung der sich in permanenten Bürgerkriegen zerfleischenden Kulturen heutzutage, können wir in diese Skizze nicht einbeziehen; ebenso wenig die politisch-rechtlichen Wege zur Säkularisierung der Religionen und kulturellen Systeme zum Aufbau von Verbindlichkeit für ihre Mitglieder. Es war und ist schwer genug, fundamentalistischen, das heisst mit ihrem kulturellen Sendebewusstsein ernst machenden Kulturkämpfem zu erklären, dass es keine jüdische Physik, chinesische Schwerkraftgesetze, französische Chemie und dergleichen gibt, sondern nur Gemeinschaften von Menschen, die an den Problemen der Physik, der Ingenieurswissenschaften und der Chemie weltweit, global eben, also innerhalb der gesamten Menschheit interessiert sind. Für das Arbeiten in den Künsten und Wissenschaften darf niemand Aufmerksamkeit deshalb erzwingen, weil er Jude, Chinese oder Franzose ist oder Moslem, Buddhist oder Christ oder Asiat, Europäer oder Afrikaner.

Das Gleiche gilt für die Wirtschaft?

Mit der Globalisierung der Handlungsfelder und der Universalisierung der dort eingesetzten Technologien für Kommunikation, Verkehr, Produktentwicklung und Vermarktungsstrategien geht reflexartig, kompensatorisch die Behauptung regionaler kultureller Eigentümlichkeiten wie Kochrezepte, Liturgien, Alternativmedizinen, Folkloretrachten einher. Die Synergien entwickeln sich im Bereich der Wirtschaft aus der Vermarktung der regionalen Kulturen und ihrer Unterscheidungsleistungen im Weltmarkt. Überall werden so gut wie alle regionalen Sonderkulturen als Produkte feil geboten (überall gibt es chinesische, italienische, indische, französische Küche, Moden, Agrarprodukte etc.); und umgekehrt werden alle lokalen Kulturen in dem Masse in einer globalisierten Welt überleben können, wie sie sich auf ein einheitliches zivilisatorisches Muster, auf die einzig bewährte Form der Zivilisierung von Kulturkämpfen einlassen, nämlich auf die Musealisierung und Folklorisierung. Diese lokalen Kulturen werden auch wirtschaftlich gekräftigt, wenn sie sich nach dem Muster universaler Musealisierung zu Zentren touristischen Interesses entwickeln. Die lokalen Kulturen bieten ihre Region als »Phantasialänder«, »Tivolis«, »Pleasuredomes« oder »Disneyworld« an, in denen sie alle Rollen selber spielen: Die der Betreiber und Produzenten der Tourismusprogramme oder Weltunterhaltungsshows, die der Akteure als Schauspieler ihrer selbst, die der Museums- und Kulturführer, Manche Stammeskulturen der Südsee oder Nordamerikas überleben wirtschaftlich und sozial vorrangig dadurch, dass ihre Mitglieder bei jeder Gelegenheit vor zahlenden anderskulturierten, andersrassischen und -ethnischen Touristen sich selbst rezitierend und tanzend vorführen; sie sind komplett lebende Museen (»culture communities as living museums«).

Wenn wir uns die letzten 15, 20 Jahre anschauen, die so genannten »Neuen Medien«, was bringen sie an Herausforderungen und an Visionen für diese Synergieeffekte mit sich?

BROCK: Der Beweis für die Bedeutung von etwas Neuem, also auch von neuen Technologien, liegt darin, dass wir, von dem Neuen aus, das Alte mit neuen Augen zu sehen lernen und das heisst, auf neue Weise zu nutzen lernen. Die erfolgreiche Nutzung des Neuen erweist sich in der Erschliessung des Alten und Bekannten, des Redundanten als Ressource für die gegenwärtige Arbeit an der Bewältigung der Lebensaufgaben, also auch für den Aufbau der Zukunftsperspektiven. Ich habe als erster beschrieben (im Zusammenhang mit Heinrich Klotz' Absicht, die Neuen Medien in die Entwicklung von zeitgemässen Ausbildungsprogrammen einzubeziehen), wie dieses Verhältnis von neu zu alt, von neuer Bildtechnologie zur alten Malerei, intelligent gekennzeichnet werden kann. Wenn Bill Gates sein Programm zum Generieren von elektronischen Zeichen und zum Operieren mit elektronischen Zeichen »Windows« nennt, reaktiviert er damit auf zeitgemässem Niveau die Theorie Albertis, der zufolge Tafelbilder auf einer Wand wie Fenster in einer Wand genutzt werden. Das Bild als Fenster zur WeIt gewinnt völlig neues, zeitgemässes Interesse durch die Formulierung der »Windows«-Programme. Schon McLuhan meinte, dass sich neue Technologien zur Gewinnung neuer Aussagen, Inhalte gerade dann gut nutzen lassen, wenn sie sich eben inhaltlich mit den alten Technologien beschäftigen: Die neue Fotografie entwickelte Mitte des 19. Jahrhunderts ihre besonderen Leistungen, indem sie Portraitmalerei, Landschaftsmalerei und Ereignismalerei wie das Historienbild zu ihrem Inhalt machte. Die neuen Leistungen der Filmtechnologien wurden besonders deutlich, wenn sie Foto oder Theater in Szene setzten. Wenn man mit der Orientierung auf das Neue ernst macht, wie das ja in der Neophilie, in der Neuigkeitssucht der Modernen seit 500 Jahren der Fall ist, dann gilt: Wenn etwas wirklich neu ist, hat es ja keine Bestimmung, lässt sich also nicht anders fassen, als mit dem Blick auf das Alte. Alles unbestimmte Neue irritiert oder macht Angst. Auf die Zumutung des Neuen in seinem Lebensraum kann man mit Verdrängung, also Nichtbeachtung, oder mit Zerstörung spontan reagieren. Nicht bloss spontan, sondern kalkuliert reagiert, wer sich die Verdrängung oder Zerstörungsneigung von Konkurrenten zu Nutze macht. Er erschliesst sich unter dem Druck des Neuen das überall schon fast vergessene Alte, die kaum noch wirksamen Traditionen und aus Überdruss an der Gewohnheit sorglos übersehenen Artefakte, Erzählweisen, Mythologien oder sonstige Eigentümlichkeiten unserer Vorfahren als neue Quellen für Handelsobjekte, Ausbildungsangebote, literarische Attraktionen oder sonstige Aufmerksamkeit bewirkende Handlungen. Das hat sich inzwischen herumgesprochen: Man muss ungeheuer viel verändern, damit die eigene Stellung im sozialen oder wirtschaftlichen Gefüge erhalten werden kann; gerade Traditionalisten mit ihrem Beharren auf der buchstäblichen Wiederholung und Geltung hergebrachter Muster, verlieren als erste das Interesse an Entwicklung und die Fähigkeit zur Anpassung an evolutionäre Veränderung, die sie nicht verhindern können. Umgekehrt wird Sinn daraus: Wer tatsächlich an der Nutzung von Traditionen interessiert ist, muss von der jeweiligen Gegenwart her dafür sorgen, dass die Traditionen immer neu geschaffen werden. Schon aus neurophysiologischen Gründen lässt sich belegen, dass es den Individuen und Kollektiven unmöglich ist, etwa das kulturelle Gedächtnis konstant und auf Dauer in Geltung zu halten; selbst wenn die Formen, Materialen rein physisch erhalten werden können, so ändern sich doch die Verstehensweisen für die Inhalte, auf die sie orientieren sollten; und es zeigt sich immer wieder, dass neuer Wein in alten Schläuchen, will sagen neue Bedeutung mit alten Formen angesprochen werden können. Auf die musealen Speicher des kulturellen Gedächtnisses ist gerade bei strengstem Traditionalismus kein Verlass, so lehrt die Geschichte - umso heftiger wehren sich die religiösen und kulturellen Traditionalisten mit fundamentalistischem Terror gegen den Wandel des Verständnisses, der Interpretationen und Gebrauchszusammenhänge.
Das sind keine epochenspezifischen, sondern strukturell vorgegebene Sachverhalte. Avantgarde ist deshalb als Kennzeichnung von Künstlerorientierungen oder sonstigen Beziehungen auf das Neue nicht Ausdruck des »Artefakte-Schaffens« in der Epoche 1840 bis 1980, wie man das in der Rede vom Ende der Avantgarde seit Auflösung der sozialistisch/kommunistischen Gesellschaften nahe legt. Avantgarde ist vielmehr ein Strukturbegriff, der etwa folgende Sätze benennt: Da das tatsächlich Neue also unbekannt ist, kann man mit ihm nur etwas anfangen, wenn man es auf vermeintlich allzu Bekanntes, längst Redundantes, zur Selbstverständlichkeit abgesunkenes Traditionsgut bezieht. Avantgarde ist nur, was uns zwingt, die Traditionen in neuer Weise zu würdigen und damit immer erneut als vergegenwärtigende Rückerfindung, als Renaissancen, produktiv werden zu lassen.

Beispiele?

Die gesamte Moderne Kunst, soweit sie in diesem strukturellen Sinne als Avantgarde auf Hervorbringen von Neuigkeiten ausgerichtet war, liefert die Beispiele. Von der schockierenden Avantgarde-Architektur des Adolf Loos wandte man sich per Gestaltanalogie und anderen Gleichungen mit Unbekanntem in die Geschichte zurück und entdeckte die Architekten Brunelleschi und Palladio mit ihrer Emphase für die nackte, weisse Wand und für Architekturmodule. Mit Ausnahme einer knappen Bemerkung im 18. Jahrhundert, war vor Loos niemand in der Lage, diese hervorstechenden Merkmale, man kann auch sagen, diese Zeitgemässheit von Brunelleschi und Palladio zu würdigen, weil man sie einfach nicht sah.
Bevor die deutschen Expressionisten mit ihrer absolut neuen Vorstellung von Malerei die Zeitgenossen vor dem Ersten Weltkrieg schockierten und sie schleunigst in deren wohlig zu hantierende Traditionen zurückscheuchten, war kein Mensch in der Lage, die romanischen Fresken oder Buchmalereien als eigenständigen Stil und Ausdruck zu würdigen. Man hielt die Epoche zwischen Ende des Römischen Imperiums und beginnender Gotik bloss für die Lehrlings- und Übungszeit späterer, gotischer Meisterleistungen. ElGreco galt von seinem Tode 1614 bis 1908 als völlig uninteressanter und längst vergessener Devotionalien-Fertiger, dessen Religiosität psychotische Dimensionen erreichte, was man aus seinem Malstil und seinen Auffassungen von Figuren und Szenen glaubte ablesen zu können, soweit ihn überhaupt jemand zu sehen bekam, denn nach 1614 wurde El Grecos Kunst ins Depot verbannt. Erst 1908 entdeckte der Kunsthistoriker Cossio von den Expressionisten her El Greco als grandiosen Künstler, der als Zeitgenosse der Expressionisten »verlebendigt« wurde. Wenn Traditionalisten schon mal die ihnen angeblich so bedeutsamen Traditionen auf die Gegenwart bezogen, landeten sie prompt bei einer windigen Behauptung: Sie meinten etwa, der Meister der Facundas-Handschrift aus dem Spanien um 1100 sei offenbar so genial gewesen, dass er das Gestaltpotential Picassos in seinem Monumentalwerk Guernica vorweggenommen habe, anders lasse sich die bemerkenswerte Parallelität der Formulierungen nicht erklären. Umgekehrt wird gleich ein ganzer Schuhladen daraus: Erst unter dem Druck der Zumutungen von Picassos Gestaltungskonzepten entdeckte man am Facundas-Meister durch die Analogie mit Picassos Guernica etwas bis dahin nie Wahrgenommenes, das plötzlich so zeitgemäss erschien wie Picasso selbst.
Wenn man sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf diesen Effekt der Vergegenwärtigung des Vergangenen als zeitgenössisch vor Augen führt, kommt man zu dem Schluss, dass sie tatsächlich Avantgarden waren, weil sie mehr Vergangenheiten vergegenwärtigten und damit für die Zukunftsdarstellung zur Verfügung stellten, als wir zu träumen wagen: Giacometti vergegenwärtigte die kykladische Skulptur; Frank Lloyd Wright vergegenwärtigte die traditionelle japanische Gestaltung als in jeder Hinsicht mit dem modernen Designs des Westens gleichsinnig und gleichwertig; die Surrealisten schufen für die Zeitgenossen einen Blick auf Malereien wie die von Breughel und Bosch, die zuvor bestenfalls als Kuriositäten des längst veralteten Höllenglaubens bewertet wurden; Sigmar Polke schuf im Alleingang die Aktualität eines Francis Picabia, dessen abgestandene After-Kunst höchstens noch bei Softpornos für Interesse sorgte oder den Illustrierten-Klatsch nährte. Unter anderem verdanken wir Baselitz' Malerei das erneute Interesse an Lovis Corinth. Unter dem Druck der bis zur Willkür gestalteten Neuigkeitssucht des Avantgardetheaters werden uns Autoren zwischen Shakespeare und Büchner oder Aischylos und den mittelalterlichen Mysterienspielen wieder so interessant, als seien sie unsere Zeitgenossen. Jede Kakophonie der Neutöner, jedes Kalkül der Zwölftoningenieure lässt uns an Bach und Beethoven Aspekte entdecken, auf die wir bisher nicht zu achten genötigt waren. Damit erschliessen sich tausendfach die Traditionen als Ressourcen für die Zukunftsorientierung; das heisst, wir haben nicht mehr nur uns selbst als Quelle, sondern auch uns selbst in der Gestalt der Menschheit und ihren Kulturen seit neolithischen Zeiten.

Was bedeuten Tradition und Avantgarde für die Wirtschaft?

Auch die Wirtschaft ist auf die Kennzeichnung ihrer Produkte als »neu« angewiesen. Es gibt keine Werbung für ein interessantes Produkt ohne den Hinweis auf seine Neuheit. Neuheit heisst aber nichts anderes als: Es ist von seiner Bedeutung und Funktion her anders als das Alte. Sonst wäre es ja nicht neu. Wenn ich aber etwas für neu verkauft bekomme, dann wird das zur inhaltslosen Kennzeichnung, solange ich es nicht auf das Alte beziehe. Das Neue am neuen Teekannendesign erkenne ich ja erst, wenn ich die alte Teekanne dagegen halte. Das hat zur grossen Musealisierungswelle der Produkte seit der Londoner Weltausstellung, also etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführt. Gegenwärtig bauen die bürgerlichen Haushalte ihre eigenen Vergleichsmuseen zu Hause auf, indem sie von Trödelmärkten entsprechende alte Formulierungen zu ihrem neusten Design erwerben. In schöner Kontinuität erleben wir unter dem Druck des allerneusten Neuen in den Saisonmoden ein 30er, 40er, 50er, 60er, 70er, 80er Jahre-Revival nach dem anderen. Das Retrodesign, die Retrofestivals und -shows, die Recycling-Emphasen belegen, dass gerade jüngere Zeitgenossen die Funktionen der Avantgarden für die vergegenwärtigende Rückerfindung der Traditionen verstanden haben. Die auch wirtschaftlich interessante Strategie zur Formulierung von Wertschätzung und Werterhaltung, die ihre Gegenstrategien des Vandalismus und Fundamentalismus in der Wirtschaft weit übertreffen, schöpfen aus der unvergleichlich grossen, unsere jeweiligen Gegenwarten übertreffenden Potenziale der Unterscheidungen und Bedeutungen, die in den längst traditionell gewordenen Kulturen erarbeitet wurden.

Sind diese Unterscheidungen und Bedeutungen auch der kleinste gemeinsame Nenner für Politik?

Ja, Politik insofern, als sie nicht mehr regionales oder lokales oder individuelles Interesse, sondern eben die res publica, also das Öffentliche, vertritt. Insofern kann sie ja keine regionale kulturelle Identität hofieren, sondern sie muss das Übergeordnete sein, also wirklich das Allgemeine als die Öffent1ichkeit. Insofern gehört zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Wirtschaft Öffentlichkeit, sie sind verpflichtet zur Öffentlichkeit, auch durch Veröffentlichung. Es gibt ohne Öffentlichkeit keine Kunst und keine Wissenschaft; die Vertretung dieser Interessen muss politisch, muss transkulturell, muss übernational sein, muss über alle Kulturen hinweg zivilisatorisch universal ausgerichtet sein. Das ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, denn der ist auf der Basis von Machtstreben viel besser definierbar. Der kleinste ist sicherlich, gesellschaftliche Anerkennung und Macht zu gewinnen. Das Politische definiert sich im Wesentlichen als Behauptung von Geltung. Und Geltung ist immer mehr als Geld, denn Sie können Geltung in vielfacher Hinsicht in Geld umsetzen.
Wirksam werdende Geltungsansprüche erkennt man in der Anerkennung, die sie finden. Im Politischen heisst das, mit wissenschaftlichen, künstlerischen, wirtschaftlichen, diplomatischen Strategien Anerkennung für die Behauptung von Überlebensmöglichkeiten zu finden. Säkulare Gesellschaften, die das Sakralrecht abgeschafft, also die Trennung von Staat und Kirche, von zivilisatorischen Normen und kultureller Legitimation vollzogen haben oder für unabweisbar halten, können mit Hilfe der Wissenschaften und der Wirtschaft, der Künste und der Weltorganisationen eine stärkere Garantie der Dauer abgeben als alle bisherigen traditionellen Gesellschaften oder religiösen Gemeinschaften, die es in Gestalt von Kultur- und Machtgefügen kaum auf mehr als fatale Tausendjährigkeit gebracht haben. Die machtvollsten Staaten und Gesellschaften der Griechen, Etrusker, Römer, Byzantiner, Venezianer, Briten haben die tausend Jahre mal gerade eben geschafft, aber auch die grössere Dauer der ägyptischen oder chinesischen Reiche ist geradezu kümmerlich zu nennen im Vergleich zu denjenigen Ewigkeitsgarantien, die wir allein aus der Fürsorge für mit 15.000 Jahre Halbwertzeit strahlendem Müll und der Endlagerungsnotwendigkeit abzuleiten haben. Soweit in allen Kulturen bisher Dauer allein aus den unverbrüchlichen Archeen, aus den Urzeiten als Religionen gestiftet werden konnte und die Unsterblichkeit des Menschengeschlechts in seinen Schöpfungen nur vage Behauptungen sein konnten, stiften wir heute mit den Kathedralen des Mülls, den Endlagerungsstätten, die Heiligtümer unseres wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, künstlerischen, das heisst zivilisatorischen Selbstverständnisses. Die Künste begannen damit zu Dadas Zeiten, die Wertschätzung für das Objekt, den Müll, den Rest, das Kaputte, Fragmentierte, Verweste, zu entwickeln.
Sie führten die ästhetische Rationalität zum Beispiel bei Konservatoren zu weltgeschichtlichen Höchstleistungen. Konservatoren mussten das Kunststück vollbringen, Kunstwerke, die gerade »Vermüllung«, Verwesung, Zerstörung, Fragmentierung, Umdeutung, Dekontextuierung und Rekontextuierung thematisierten, auf Dauer zu stellen, damit der Wirtschaftswert der Werke jenseits von deren reflexivem, selbstbezüglichem Fortwirken garantiert werden konnte. Der Verfall, das Verschwinden, die Wechsel des Verstehens und Wertens wurden in Kunstwerken von Dieter Rot oder Joseph Beuys oder der Fluxus-Gruppe auf Dauer gestellt. Anhand solcher Werke beziehen wir uns im Alltag auf unser zivilisatorisches Weltprojekt - »Gott aus strahlendem Müll« - ganz rational, für jedermann nachrechenbar, unabweisbar.

Boris Groys spricht von Unsterblichkeitspolitik. Sie auch?

Ich habe den Term in der Potsdamer Konferenz, an der auch Groys teilnahm, entwickelt, um zu zeigen, dass wir gerade nicht im Zeitalter postmoderner Unverbindlichkeit leben, in dem »anything goes«. Wie jeder weiss, geht es ja nur, wenn es geht, und wenn es nicht geht, geht es nicht. Dem vermeintlichen Herumtreiben im Beliebigen werden enge Grenzen gesetzt durch den Einbruch der Wirklichkeit in unsere schöne Scheinwelt. Wirklich ist, worauf wir keinen Einfluss haben, zum Beispiel auf die definitive Sterblichkeit des Menschen, wie alt er auch immer werden mag. Den strahlenden Müll kann man nicht mit noch so viel Kunst »behübschen«; die ökologische Katastrophe kann man nicht schönreden.
Das sind tödliche Bedrohungen, denen man nur durch kultische Verehrung entsprechen kann. Deshalb Kathedralen für den Müll mitten in jeder Grossstadt, mit täglich zweimal »Müllgottesdienst«; und deshalb die kultischen Rituale um das Thema Ökologie mit ihrer Priesterschaft, die sogar als Grüne zur politischen Partei geworden ist. Unsterblichkeitspolitik heisst nicht mehr, dass einzelne Kulturheroen sich der Menschheit erinnerbar machen durch Bauten, Bücher, Bilder oder durch möglichst viele Tote und Ereignisse mit irreversiblen Folgen. Unsterblichkeitspolitik heisst auch nicht, mit totalitären, faschistischen, fundamentalistischen Praktiken ein Weltrettungsprogramm in Szene zu setzen, indem man kulturelle, religiöse, rassistische oder ethnische Hegemonialansprüche auf Dauer zu stellen versucht. Gerade diese Methoden sind, wie die Geschichte lehrt, selbst zerstörerisch und kontraproduktiv. Solche Ernstfalldrohungen lassen sich zumal in Demokratien nicht vertreten. Unsterblichkeitspolitik jenseits des Wahns soll ja gerade das Kunststück fertig bringen, ohne Ernstfalldrohung mit Lager, Folter, »Kopfab« Verbindlichkeit zu garantieren.

Wie werden diese Verbindlichkeiten garantiert?

In der Wirtschaft zum Beispiel durch die Bekenntnisse zu Markenprodukten. Mit ihnen steht eine Firma für die Verbindlichkeit in ihren Beziehungen zu den Konsumenten ein. Sollten Qualität, Endfertigungskontrolle, Benutzungsdauer zu wünschen übrig lassen, so bietet der Produzent Umtausch an. Vor allem garantiert er, dass es dieses Markenprodukt auch auf längere Sicht geben wird. »Persil bleibt Persil« war der theologisch einwandfreie Begründungszusammenhang, mit dem sich die Wirtschaft zur Unsterblichkeitspolitik bekennt. »Wir garantieren Dauer in einer sich unablässig wandelnden Welt, in der selbst Grossreiche wie die UdSSR spurlos verschwinden«, geben die Markenartikler der Gesellschaft zu verstehen; die hat in der Tat keine andere Gewissheit für eine kalkulierbare Zukunft, als die Annahme, dass es auch dann noch Mercedes, Persil, Nivea geben wird. Und bei jedem Firmenzusammenschluss, bei jeder unfreundlichen Übernahme bangen wir um die Stabilität der Unsterblichkeitspolitik.
Das schafft Skandale wie zum Beispiel im Falle Mannesmann/Vodafone; die Bevölkerung ist verständlicherweise aufgebracht, dass ihr ein paar gestylte Yuppies aus dem Bräunungsstudio durch ein Fingerschnippen einen weiteren Garanten von Dauer nehmen wollen, obwohl Mannesmann ja doch ein gesundes und blühendes Unternehmen war.

Laufen Wirtschaft und Gesellschaft wirklich parallel?

Da sind doch sicherlich Strukturen dazwischen, die verbinden. Gerade IT macht ja das Verbinden möglich. Die Leistungen der IT-Technologie sind nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Begriff Kybernetik gekennzeichnet worden. Der Kybernes war als Steuermann die wichtigste Person auf einem antiken Schiff. Kybernetik ist also Steuerungswissen. Enrico Fermi bezog sich zum ersten Mal bei einem industriell-wissenschaftlich-militärischen Grosskomplex auf diese historische Begründung der Kybernetik. Als ihm 1942 in Chicago die erste kontrollierte Kernspaltung gelungen war, schickte er ein vermeintlich unverständliches Telegramm in die Welt: »The italian navigator has landed.«
Mit dem lateinischen Wort Navigator war der erste literarisch bekannt gewordene Steuermann, also Kybernes Palinurus gemeint. Was Fermi mit Bezug auf Palinurus der Welt mitteilen wollte, ist wohl ganz eindeutig: Die Planer und Entwickler der Atomenergienutzung standen und stehen wie Palinurus vor der Entscheidung, ob sie an Bord bleiben wollen oder sich verdrücken, weil sie die Selbststeuerung der Systeme entdeckten oder aus Verzweiflung fromm wurden und sich Gottes Willen unterwarfen oder dem Schicksal, der Vorsehung. Zum Teil hielten sie dem psychologischen Stress nicht stand, dauernd allen vorspielen zu müssen, dass die grossen Projekte unter Kontrolle gehalten werden können, obwohl sie das Gegenteil längst wussten. Wie immer man die Palinurus-Fragen individuell beantwortet, so ist längst klar, dass wir den Selbstlauf der Systeme zum Beispiel als Konjunktur akzeptieren. Selbst mächtige Steuermänner wie Kanzler, Industriebosse und Medienmogule können angesichts ihrer völlig effektlosen Steuerungsmassnahmen am Ende nur auf die geheimnisvolle Konjunktur und ihr undurchschaubares Walten verweisen. Politik, Journalismus und Konzernstrategien sind, soweit sie öffentlich werden, nur noch rituelle Beschwörungen der schicksalhaften Macht der Konjunktur.
Dass man mit der IT über hervorragende Mittel zur Steuerung verfügt, besagt ja gar nichts über die Frage nach den Konzepten der Steuerung. Es ist wie bei den Künstlern, die mit IT in Hochschulen für Neue Medien die Erfahrung machen, dass ihnen weder die Institution Medienhochschule noch die Technologie selbst schon zu den Inhalten verhelfen.

Wenn wir medientheoretische Positionen betrachten, welche Spannweiten gibt es nach ihrer Meinung, in denen noch Gültiges hervorgebracht wird?

Stichwort Medialisierung. Das heisst wohl zunächst, was herkömmlich von Götterboten wie Hermes oder den Engeln in der Beziehung von Göttern zu Menschen geleistet wurde, soll jetzt von IT geleistet werden. Was bisher Rechtsanwälte in der Beziehung von Klägern und Beklagten vermittelnd zustande brachten, was Ärzte an Beziehungen zwischen Patienten und ihrem Körper stifteten, was Trainer, Moderatoren und Journalisten im Aufbau von Beziehungsgefügen zustande brachten, soll nun von Standardprogrammen der Medialisierung erwartet werden. Die Telemedien sollen die Vermittlung des Fernen als nah erreichen; die Computer die Beziehung zwischen Speichergedächtnissen und kreativer Erinnerung ermöglichen. Wenn das nicht leere Versprechungen bleiben sollen, muss man die Medialisierung schon theologisch fassen, um ihr etwas zuzutrauen, nämlich als Brückenbau ins Jenseits der Gegenwart und in die Parallelwelten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das ist das Spannungsfeld der Medialisierung?

Ja. Gerade die emphatische Medialisierung lässt in Wissenschaften und Künsten, in Wirtschaft und Gesellschaft längst überwunden geglaubte Positionen der wilden Theologie als Gnosis oder Kunstreligion wieder aktuell werden. Medienkunst ist bestenfalls Harry Potter für Leute, die nicht mehr lesen können oder wollen und deshalb behaupten, Bildchengucken sei genauso Erkenntnis stiftend. Im 15. Jahrhundert hiess diese Annahme: ut pictura poiesis (auch Bildende Künste stiften Erkenntnis über die Welt). Dann hiess es: ut scientia poiesis (auch wissenschaftliches Arbeiten mit Zeichengebungsmaschinen ist ein künstlerisches Tun wie Malen oder Skulptieren). Summa: ut technologia poiesis - das heisst auch das elaborierte Hantieren mit IT kommt nicht über die Leistungen des herkömmlichen Artefakte-Schaffens hinaus und verlangt nach kultischer Ritualisierung wie ein kirchliches Hochamt. Deshalb beruft sich alle IT-Kunst, Medienkunst auf performative Akte ihrer Präsentation.
Die Gestaltungsprogramme sind nur als zivile Religionen zu bewerten. Kurz: Medienkünstler übernehmen die Rolle von Priestern in der Vermittlung von Technologie, Steuerungsprogramm und Inhalt. Wenn Monika Fleischmann als Medienkünstlerin an einem Institut für Mathematik und Datenverarbeitung wirkte, dann tat sie das im Hinblick auf die modernste Formulierung der alten Theologie, nämlich die Mathematik. Derart mathematisch formulierte Aussagen gewinnen, zumal bei Laien, eine ungeheure Autorität.
In ihren axiomatischen Setzungen als reiner Geisteswissenschaft repräsentiert die Mathematik das Wunder, um das sich alle Theologien ranken: Wie lassen sich Resultate blosser, reiner Verstandestätigkeit des Menschen wie die Mathematik auf die empirische Welt beziehen, etwa als angewandte Physik, aus der ja auch IT hervorgegangen ist? Medienkünstler wie Frau Fleischmann wollen uns ihren fabelhaften, märchenhaften, wunderbaren, transzendentalen Brückenbau zwischen Mathematik als reiner Geisteswissenschaft und praktischer Operation mit Medien in ihrer Medienkunst vertraut machen.
Es geht darum, die Informatik in einen Dialog mit den künstlerischen, historischen, geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu bringen. Beispiele dafür gibt es seit Newton, der bekanntlich ohne jede Schwierigkeit das Kunststück fertig brachte, die mathematisch formulierte Schwerkraft mit gnostischen Theologien zu verknüpfen. Oppenheimer nannte sein Bombenbau-Projekt »Trinity« und meinte da nicht bloss die christliche Trinität oder die semiotische Trinität als Einheit des Zeichens in der Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem; er meinte vor allem die hinduistische Trinität, in die mit Shiva Zerstörung als Weltschöpfungskraft eingeführt ist, also die zerstörerische Kraft der Atomspaltung als zukunftsstiftend. In der Wirtschaftstheorie eines Professors Schumpeter hiess das »Schöpferische Zerstörung«. Dieser 1942, im Zweiten Weltkrieg, gleichzeitig mit Fermis Navigatoren-Modell entwickelte Begriff kennzeichnet heute sehr präzise nicht nur den Zusammenhang von Vergessen und Erinnern, von Selektion als Relation zwischen Löschen und Speichern, sondern auch die Produktzyklen in der allgemeinen Wirtschaftsdynamik. Für diesen Zusammenhang sind die Künstler seit 600 Jahren Spezialisten. Deswegen musste sich ein Hitler als Künstler ausgeben, um das gnostische Kernstück »Untergang als Auferstehung, Zerstörung als Erlösung« in Politik überführen zu können. Dagegen tritt das Ernstfallverbot an; der Krieg darf nur noch im Saale oder als Computerspiel stattfinden. Also unter Vorbehalt des ästhetischen Scheins in einem Sicherungskasten, in einem Kulturcontainment, wie es Museen darstellen. Sie allein könnten auch das Fortbestehen veralteter Medientechnologien garantieren, mit denen historisch gewordene Medienkunst überhaupt noch wahrgenommen werden kann.
Es ist ein grosses Problem für Museen und Archive, die Medienkunst zugänglich zu halten. Gerade deshalb sind mit den Online Archiven, wie sie hier im Buch vorgestellt werden, ganz neue Vermittlungs- und Präsentationsformen entstanden. Archivierung ist eine Funktion der umfassenden Musealisierung. Wobei das Ziel ist, vom Museum aus den Gesellschaften durch Musealisierung die Vergegenwärtigung aller historischer Zeiten und Kulturen zur Verfügung zu stellen. Fortschritt ist definiert als die immer weitergehende Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen; also der immer weitergehenden Stiftung von Gegenwart durch mediale Repräsentation der verschiedensten Vergangenheiten unserer wie möglichst aller anderen tradierten Kulturen. Im Museum versteht sich der verbotene Ernstfall, die Nulltote-Doktrin, das Reversibilitäts-Postulat von selbst. In Museen lässt sich auch experimentelle Geschichtsschreibung durch Wechsel der Kontexte, der Zeiten und Funktionen, der Waffen und Produktionsweisen, der sozialen und kirchlichen Kultformen sinnvoll betreiben. Die Kontextabhängigkeit jedes Zeichens in seinen Bedeutungen, war im Museum selbstverständlich, weil man wusste, dass es auf die Hängeordung ankam, also auf die kuratorische Stiftung eines Nebeneinander und Miteinander der Artefakte. Auch Medienkunst demonstriert im Wesentlichen solche Kontextstiftungen in den verschiedensten Dimensionen der Zuordnung von Zeichengefügen zueinander. Der Nutzer erhält im Werk selber nur ein Beispiel für seine eigene Möglichkeit, unter Nutzung von IT solche Bedeutungsketten durch Reihungsordnung oder Staffelungsordnung oder Überblendungsordnung herzustellen. Gestaltung kennzeichnet generell Anordnungsnotwendigkeiten, wie sie primitiv die Geometrie, anspruchsvoll die Architektur und in höchster Komplexität das neuronale Funktionssystem repräsentieren.

Wenn wir jetzt noch einmal den Aspekt Ausstellen von Medienkunst betrachten: Wie können traditionelle Häuser Medienkunst präsentieren?

Indem sie klar machen, dass von jetzt ab die Museen für technische Artefakte, Produkte als Waren, Kunstwerke, wissenschaftliche Erkenntnisvermittlung eine Einheit bilden müssen. Zum Beispiel muss das Museum die veralteten Geräte und ihre Betriebssysteme mit technik-ärchologischen Kenntnissen funktionstüchtig erhalten. Also permanent diese Dinosaurier der Technikevolution reanimieren oder vergegenwärtigend »rückerfinden« (da haben wir wieder die klassische Avantgarde-Funktion). Zugleich müssen die Museen durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen die Aufarbeitung der Medienkunstwerke leisten und zwar auf den verschiedensten wissenschaftlichen wie den populärwissenschaftlichen oder rezeptionsgeschichtlichen, also alltagsästhetischen Ebenen. Dazu wird von der Medienkunst vor allem verlangt, endlich auch die wirklich entscheidenden Konzepte unserer Lebensbewältigung, die der Technologien, auf jener Ebene bildwürdig werden zu lassen, auf der bisher etwa die Malerei die Bildwürdigkeit von historischen Ereignissen, von portraitierten Personen, von Formrelationen und Farbklimata museal demonstrierten. Medienkunst hat die wichtige Aufgabe, etwa einen Chip auch als visuellen Attraktor auf dem Anspruchsniveau eines Tizian-Gemäldes zu demonstrieren. Durch die Medienkunst haben die verborgenen Funktionslogiken unserer technisch-medialisierten Lebenswelt zu gewinnen, gleichsam Schaltmuster als Weltbilder, inklusive der neuronalen Schaltmuster zur Entwicklung der Technologien wie ihrer weltbildlichen Bedeutung.

Was heisst dann Medienkompetenz?

Durch Ausbildung und kreative Aneignung muss man Kompetenz zur Fälschung, zum Unterlaufen und zum Überbieten entwickeln. Die Hacker sind da ein Vorbild für bewiesene IT-Kompetenz, ebenso wie die Virenproduzenten und E-Banking-Gangster. Natürlich können wir nicht die Gaunerprüfung für Medienkompetenz einführen. Die Kunst lehrt, wie man zunächst dominierende kriminelle Fälscherenergie in Erkenntniskraft überträgt. Fakes sind Artefakte, die bewusst zur Stiftung von Differenzen als Grundlagen jeder Erkenntnis anhalten. Bilderfälschungen werden dann nicht mehr aus blosser krimineller Betrugabsicht entwickelt, sondern um zu zeigen, worin denn heute ein Wahrheitsanspruch, ein Echtheitsanspruch, ein Schönheitsanspruch, ein Gutheitsanspruch begründet werden kann, wenn niemand tatsächlich die Wahrheit kennt oder weiss, was Schönheit oder Gutheit ausmacht. Im Fake als erklärtermassen Falschem, in der Hässlichkeit als erklärtermassen Unschönem, in der Bösartigkeit als abwesender Gutheit wird man denknotwendig oder in der Anordnungsnotwendigkeit des Begriffsgebrauchs darauf verwiesen, vor dem Falschen das unbekannte Wahre begrifflich anzusprechen; sich vor dem tatsächlich gegebenen Hässlichen auf das Schöne als der anordnungsnotwendigen Klärung des Begriffs Hässlich zu beziehen etc. In diesem Sinne ist Medienkompetenz Fälschungskompetenz in theoretischer, nicht mehr krimineller Absicht.