Magazin Tumult 37/2011

Schriften zur Verkehrswissenschaft - Thema: Kein Halten mehr? Modelle der Letztbegründung

Tumult 37: Kein Halten mehr?
Tumult 37: Kein Halten mehr?

Spätestens mit der Finanzkrise 2007, der die Wirtschaftskrise auf dem Fuße folgte, hat der Markt als ultima ratio aller gesellschaftlichen Wahrheitsansprüche durch die Allmachtphantasien des frei flottierenden Finanzkapitals seine Glaubwürdigkeit bei mehr als drei Viertel der Bevölkerung Europas und der USA endgültig verloren so belegen es die Umfragen aller gängigen Institute.

TUMULT 37 verhandelt in Beiträgen prominenter, zeitgenössischer Autoren das Krisengeschehen unserer Tage.
Die Beiträger versammelten sich dazu mit Bazon Brock zu einem »Konklave der Stiftung Schloss Neuhardenberg« und widmeten sich den Ungeheuern unserer Vorväter, indem sie auf der Suche nach den Urgewalten den BELOMOTH beschworen und nach dem LEVIATHAN angeln gingen.

Erschienen
01.01.2011

Herausgeber
Frank Böckelmann und Walter Seitter

Verlag
Büchse der Pandora

ISBN
978-3-88178-537-2

Umfang
144

Einband
Frz. Brochur

Seite 74 im Original

Fininvest – Gott und Müll

Der „Atompilz, das Gehirn am Stengel“, verehrter Peter Rühmkorff, garantiert Ewigkeit: Gott ist nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern Synonym für den Begriff der Endlagerungssicherheit. 15.000 Jahre Kulturdauer (kleinste Halbwertszeit) hat bisher keine Macht garantiert, aber wir. Wir bauen Kathedralen für den strahlenden Müll mitten in unsere Städte. Das containment erproben die Museen, die Rituale entwickeln Performance-Künstler, die Liturgien entnehmen wir der Beteiligung an der universitären Selbstverwaltung. Winfried Baumann fertigte neue Modelle für die Kathedralen am Breitscheider Autobahnkreuz, Weinbrennerplatz in Karlsruhe und Düsseldorfer Ko-Teich. Wir bieten Tempelverkleidung für Müllwagen und Ritualgewandung für Müllmänner. Berlusconi macht klar: Kapitalismus ist Fininvest – so nannte er die Dachfirma seiner Unternehmungen. Die Auferstehung durch Untergang war und ist die probate Ideologie der Apokalyptiker; gnostisches Denken beherrscht die moderne Kunst. Also: Investieren wir freudig in unseren Untergang!

Im Theoriegelände präsentieren wir ein Gemälde des Künstlers Werner Büttner, das den Titel „Kottafel mit Spiegel und Spiegelung“ (1985) trägt. Die Kottafeln sind als unterscheidbare Farbfelder mit gewissem Anschein von Plastizität zu identifizieren. Zwischen ihnen ist ein ausgefranstes schwarzes Quadrat innerhalb des Rokoko-Rahmens eines Spiegels zu erkennen, das eine Vielzahl von Interpretationen erlaubt. Eine mögliche Auslegung hebt ab auf drei prominente Bärtchen-Pantomimen mit jeweils unterschiedlich geartetem Führungsanspruch, die allesamt Sprößlinge des Jahrgangs 1889 sind – Charlie Chaplin, Martin Heidegger und Adolf Hitler. Letzterer, der GRÖVAZ, der „größte Vermüller aller Zeiten“, dekretierte im Anschluß an Kaiser Wilhelm II.:

„Was Kunst ist, bestimme ich!“
(Brock, Bazon: Kunst auf Befehl. Eine kontrafaktische Behauptung: War Hitler ein Gott? In: Brock, Bazon; Preiß, Achim (Hg.): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München 1990.)

Hitler verlangte die Entscheidung für eine der vielfältigen Stilrichtungen der Moderne („heute Expressionismus, morgen Fauvismus, dann wieder Dadaismus oder Kubismus...“) als verbindlicher Kunstbewegung. Auf die von Hitler gegeißelte Kakotheoria diverser Kunstrichtungen spielt der Künstler Büttner mit seinen malerischen Kottafeln an. Bei seiner persönlichen Bewertung von Kunst konnte sich Hitler auf die allgemein akzeptierten Auffassungen unter der deutschen Professorenschaft stutzen, die schon Jahrzehnte vor dem Dritten Reich zu bestimmen suchte, welche Werke als „heil’ge deutsche Kunst“ zu gelten hatten (siehe Richard Wagners feierliches Finale von „Die Meistersänger von Nürnberg“).

Was man uns heutzutage permanent als „typisch nationalsozialistische“ Denkerei, Schreiberei und Bildnerei vorhält, zuführt und als Nazi-Unsinn stigmatisiert und damit zu bannen hofft, verdankt sich in so gut wie allen Fällen entweder exquisit gebildeten Gelehrten oder höchst kultivierten Großkünstlern des 19. Jahrhunderts, die mit den „Waffen der Begriffe“ in die mit der Nationalstaatbildung anhebenden Kulturkämpfe gezogen waren. Die seit 1872 vorherrschenden Ideologien in Wissenschaft und Kunst garantierten dem Führer des Nationalsozialismus und seinen Parteibonzen schlichtweg ihren Erfolg. Hitler nutzte nicht nur geschickt den seit Anfang des 19. Jahrhunderts ausgerufenen Primat deutscher Nationalkultur, sondern verwendete für seine politischen Propagandafeldzüge auch die wissenschaftlichen Belege zur Evolution der Rassen, die er zu einer Weltanschauung überhöhte. Zur Abgrenzung der sogenannten „Nazikunst“ von anderen Kunstrichtungen setzte er ab 1937 den Begriff der „Entarteten Kunst“ durch. „Entartung“ ist, wie nahezu alle anderen kulturpolitischen Kampfbegriffe der nationalsozialistischen Bewegung auch, keine genuine Erfindung von Theoretikern der faschistischen Weltanschauung, sondern so alt wie die Moderne selbst und wurde keineswegs nur zur Verfemung der Werke jüdischer Künstler angewandt.

Die Genese dieses Begriffs läßt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Er bezieht sich auf die evolutionsbiologische Bestimmung von Degeneration als Anhäufung unvorteilhafter Erbmerkmale. Es war jedoch nicht ein Nazi-Chefideologe, sondern ein deutscher Jude, ein Arzt und Schriftsteller namens Simon Südfeld, der unter dem „aufgenordeten“ Namen Max Nordau den aus der Biologie und Medizin stammenden Entartungsbegriff für die Künste aktivierte und 1892 den späteren Kampagnebegriff der „Entarteten Kunst“ in seinem Werk „Entartung“ in die Öffentlichkeit trug. (Zur Entwicklung des Entartungsbegriffs, siehe Clair, Jean: Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Aus dem Französischen von Ronald Voullie. Köln 1998, S. 66, Anm. 2.)

Während man zu Zeiten des Kaiserreichs noch im Furor hochfliegender Spekulationen über den Fortschritt der Menschheit schwelgte, setzten im Dritten Reich euphorische Nazis Ideen und Utopien der optimalen Artung durch. Bezeichnend für Faschismus und Nazismus ist die rücksichtlose Erzwingung einer Realität aus Vorstellungen und Begriffen. Diese Regimes entfesselten die Potentiale geistiger Arbeit des 19. Jahrhunderts, die als Anweisungen für das konkrete Handeln, vor allem aber als kulturalistische Letztbegründungen für Welterlösungsentwürfe ausgelegt wurden – Entwürfe mit den Programmnamen „Der Neue Mensch“, „Die Klassenlose Gesellschaft“, „Das Parteienlose Parlament“. Aber die großen Konstrukteure von Ideenwelten wie auch die Destrukteure, das heißt die durch Zerstörung Schöpferischen, haben mit ihrem aggressiven Programm „Erlösung durch Untergang“ immerhin die Erfahrung belegt, daß selbst radikalste Vernichtungsversuche die Gegebenheiten der Welt zwar fundamental verwandeln, jedoch nicht in Nichts aufzulösen, also zu annihilieren vermögen. So ergab sich für die Zerstörer ein doppelter Triumph: Sie konnten ihren Vernichtungswillen ausleben und auch noch damit rechtfertigen, daß die Welt nicht zu vernichten sei. Heute steht zur Debatte, ob die Glorie der Annihilierung immer noch strahle! Ulrich Horstmann hofft auf die Wirkkraft der nicht mehr menschlichen Vernunft, die „anthropofugale Vernunft“, die auf die Selbstabschaffung des Menschen und seiner Welt durch den Menschen abzielt. Will man den großen Zerstörern und Vermüllern der Welt über den Befund hinaus, sie seien Psychopathen, zu entsprechen versuchen, dann damit, daß sie die Fraktion jener anführen, die die Größe des Menschen in seiner Widerspruchskraft gegen die Natur, also in seinem Auslöschungspotential sehen. Die andere Hälfte der Menschheit rekurriert in Gestalt ihrer schöpferischen Genien auf die menschliche Kraft des schaffenden Hervorbringens. Die Funktion der Vermüller in der kulturgeschichtlichen Positionsbestimmung liegt also darin, der Allmacht der Schöpfungsphantasten die Allmacht der teuflischen Vernichtungsphantasien entgegenzusetzen. Für Weltfromme bestünde die Synthese beider Positionen in der Entfaltung einer realistischen Erfahrung von All-Ohnmacht. (Horstmann, Ulrich: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Wien 1983.)

WISSENSCHAFTLER UND KÜNSTLER ALS MÜLLWERKER

Unser theoretisches Anschauungsobjekt der Müllpresse präsentiert auf der einen Seite der Wand Sedimente in einer Vielzahl von Schichtungen, zwischen denen bei näherem Hinsehen auch Scherbenreste und kleinste Keramiken zu erkennen sind. Die Ansicht dieser erdgeschichtlichen Ablagerungen soll Heinrich Schliemanns Ausgangsmaterial, genauer gesagt, die Schichtung „Troja 14“ simulieren. Der große Archäologe und Mitbegründer der „deutschen Ideologie“ versuchte, sich in einem Gelände zu orientieren, dessen Koordinaten einzig einer rein gedanklichen Konstruktion entsprungen waren, nämlich der Lektüre der „Ilias“ von Homer. Das Bedeutsame an der Entdeckung Trojas durch Schliemann war die Bestätigung, daß man nur einen fiktiven Text auf die Wirklichkeit zu projizieren brauche, um nach Hegel’schem Muster zu einem großartigen Resultat zu gelangen. Auf eine knappe Sentenz heruntergebrochen, lautet das betreffende Motto frei nach Hegel: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie nicht mit den Ideen übereinstimmt.“

Indem Schliemann sich auf die mythische Fiktion von Homers Dichtungen wie auf eine Anleitung zur buchstabengetreuen Erschließung der Geschichte einzulassen wagte, gelang es ihm nicht nur, die Wortwörtlichkeitsmethode weltwirksam werden zu lassen und die Trummer Trojas auszugraben, sondern zugleich die Macht der Mythologien in der Gegenwart unter Beweis zu stellen. (Siehe Metzger, Rainer: Buchstäblichkeit. Bild und Kunst in der Moderne. Köln 2003. Siehe Brock, Bazon 1986, S. 83 und S. 167–173. Das Thema „Exploitation“, das Ausgraben, das Ausnutzen und das Ausbeuten: Aus der Tiefe des Vergessens Nachlässe zu heben, ist der Traum eines jeden Wissenschaftlers, der in alten Kisten auf dem Dachboden Schatze zu entdecken wünscht, um zum ersten einen Mythos zu entdecken und zum anderen das Kollektive-Unbewuste nutzbar zu machen: „Sowohl Mythos als auch Monotheismus waren für Mann säkularisierungsfähige Konzepte, die sich leicht in moderne, nachchristliche Verhältnisse übersetzen ließen. Die moderne Form eines Lebens im Mythos ist für Thomas Mann das Leben des Künstlers, der in Spuren uralter Traditionen geht und die Quellen seiner Kreativität aus dem Unbewußten bezieht. Seine Beziehung zum Unbewußten ist nicht kolonisatorisch wie bei Freud, (...) sondern eher exploitatorisch: das Unbewußte ist für ihn eine Ressource künstlerischen Schaffens.“ In: Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006, S. 207.)

Die grundlegende Vermüllungswissenschaft, nämlich die Archäologie, stellt eine Entfaltung unseres wissenschaftlichen Denkens dar, mit deren extrem anspruchsvollem methodischen Rüstzeug es möglich ist, aus der neutralisierten Gestalt, dem chaotisch Gewordenen – und das heißt ja Müll – auf das Leben der Menschen, die diese Art von schöpferischer Vermüllung hervorgebracht haben, zurückzuschließen. Schöpferisch ist die Vermüllung deswegen, weil die prähistorischen Vorformen unserer Gemeinschaften nur noch in Gestalt des Mülls auf uns gekommen sind und aus dem Müll wiedergeboren werden. Kulturen haben allein durch die Tatsache überlebt, daß von ihnen Spurenelemente übrig blieben. Barbaren zerschlugen antike Skulpturen, so daß sie nichts mehr wert waren und, als Baumaterial genutzt, verschont blieben vor weiterer mißbräuchlicher Bekämpfung. Die Zerstörung erwies sich somit als Chance des Überlebens. Jede historische Übermittlung ist Fragment eines ehemals gegebenen Ganzen als Artefakt einer geschaffenen Lebenswelt von Menschen, die ihr Fortleben durch diese Art einer Zerstörungs- und Vermüllungssystematik tatsächlich zu sichern vermochten.

Auf der Rückseite unserer Müllpresse sind Ablagerungen einer Großstadt der letzten sechzig Jahre zu sehen: Vom Trümmerbruch der unmittelbaren Nachkriegszeit auf der untersten Ebene bis empor zum höherwertigen Zivilisationsschrott sind die fragmentierten Rückstände unseres konsumeristischen Systems in Schichtungen des Mülls – einer Müllhalde, eines Müllberges – abgelagert. Gerade das Kaputte beansprucht Interesse für sich, da es uns nicht nur das ziellos zerstörerische Walten von Naturgesetzen und Schicksalsmächten vor Augen fuhrt, sondern uns zur virtuellen Rekonstruktion eines nicht mehr real gegebenen Ganzen animiert. So verstanden, ist unsere heutige Verpflichtung zur Mülltrennung eine Form der antizipierten Geschichtsschreibung, aus der sich die Suggestion einer geschlossenen Lebenswelt ergeben soll. Nur in den Fragmenten lebt der Impuls zur Rekonstruktion der einen, ganzen, heilen Welt, die als solche niemals und nirgends als im Müll sichtbar werden kann. Diesen Zusammenhang von Fragmentierung und suggestivem Zwang oder Illusion des Ganzen nannte der Kulturphilosoph Theodor Lessing (1872–1933) „Sinngebung im Sinnlosen“. Geschichtsschreibung als Versuch der Menschen, Kontinuität in ihre Welterfahrung zu bringen, charakterisiert er deswegen als „Sinngebung des Sinnlosen“.

Mit den ausgefeilten Methoden und Mitteln eines Müllwerkers sollte jedermann dazu befähigt werden, eine Kultur- oder Evolutionsgeschichte, also eine Sinnstiftung im Sinnlosen nach Kriterien des Unterscheidens im Ununterscheidbaren, also im Müll, zu begründen. Orientierung hierfür bieten unter den Müllwerkern von heute insbesondere Archäologen, Physiker und Museologen als Vertreter der zur Bedeutungsstiftung berufenen Wissenschaften, welche uns zeigen, wie die Dinge durch Unterscheidung nach Kriterien so voneinander zu trennen sind, daß sie durch das Unterscheiden wieder vergleichbar werden und damit Bedeutung erhalten. (Siehe zu Fragen des Vergleichens nach Kriterien der Unterscheidung, Brock, Bazon: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986. In Zusammenarbeit mit dem Autor herausgegeben von Nicola von Velsen. Köln 1986, S. 15 ff.)

Die moderne Kunst hat an die Müllwerkerbewegung der Wissenschaften beizeiten Anschluß gefunden. Doch bis heute ist vielen Künstlern und Kunstbetrachtern der tiefere Sinn dieses Vorgangs verborgen geblieben, daß nämlich die Kunst des 20. Jahrhunderts vornehmlich als eine grandiose Verkörperung des Müllwerkgedankens aufzufassen sei.

Ein Künstler wie Dieter Roth hat sein Schaffen darauf ausgerichtet, uns auf Aporien zu verweisen, die sich aus dem Arbeiten mit Vermüllungsstrategien ableiten: Wenn ein Werk darauf abzielt, den Verwandlungsprozeß – etwa als Verdauung oder als Verwesung – zum Anschauungsthema zu erheben, hatte das die Konsequenz, daß das Werk sich im Maße seiner erfolgreichen Verwirklichung selbst aufhebt. Damit wäre die Wirksamkeit eines Werkes in seinem Verschwinden behauptet. Das Verschwinden des Werkes widerspricht aber den Gepflogenheiten des Kunstmarktes, der darauf bestehen muß, ein materiales Äquivalent für den Kaufpreis zu bieten. Also werden Besitzer von entsprechenden Roth’schen Werken Restauratoren beauftragen, die Aporie des Werkschaffens zu realisieren, nämlich zu sichern, daß der werkthematische Verfallsprozeß nicht an ein Ende kommen darf, sondern konserviert wird. (Der Artikel „Schön ist der Untergang einer Salamischeibe“ von Thomas Wagner in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 3. Januar 2004 stellt den Künstler Dieter Roth als Zauberer der Verwandlungen dar, der mit seiner „Literaturwurst radikal Textverarbeitung“ betreibt, indem er Hegels „Gesammelte Werke“ klein kriegt, würzt und in einem Darm verschwinden läßt. Zur Lebenskunst gehörte bei ihm „jene Fallhöhe, derer es bedarf, will man sich nicht zum Komplizen eines Gelingens machen, das alles in ihm tobende Mißlingen unterdrückt, überspielt, ignoriert (...). Gleichzeitig hatte er das Gefühl, das ,Kaputte‘, das ,Zerbrechen‘ entspreche eher seinen Fähigkeiten, wobei Gelingen und Mißlingen für ihn immer mit Scham und mit Moral verbunden waren. ,Die ersten Abfallbilder waren Bilder, in denen ich anderes – Zeichnungen oder kleine Gemälde, die mir mißlungen schienen, über die ich mich geschämt habe – zugeschüttet habe mit Speiseresten. Und dieses Fließen und das Schimmeln, das ist natürlich schön, sowieso, da kann niemand meckern. So daß ich die, mit einer Art automatischer Schönheit, einfach übergossen habe.‘“)

Die gesamte Geschichte der Kunst nach Duchamp besteht auf der Möglichkeit, in ein Geschaffenes den Selbstwiderruf und die Selbstaufhebung unmittelbar einzubauen.

Weshalb haben Dieter Roth, Joseph Beuys, Kurt Schwitters, Jean Tinguely, Pablo Picasso oder Arman e tutti eletti als Künstler große Anerkennung erfahren, obwohl sie wiederholt mit der demonstrativen Geste „Das ist alles bloß Müll“ die Betrachter ihrer Werke provozierten? Die Künstler stellten nämlich mit ihren Werken selbst die Frage, was denn daran Kunst sein solle, mit Vermüllungen, Sprengungen, Zerstörungen, Müllagglomerationen, Zerfließen, Zerlaufen und Zerfallen von Materialien zu arbeiten. Die Antwort lautet: Man evoziere gerade dadurch die Stiftung von Sinnhaftigkeit – vorausgesetzt, man biete entsprechende Unterscheidungskriterien dem Publikum an, um so die Bewertung der Sinnstiftungsversuche zu ermöglichen.

Die Wertschätzung von künstlerischen Arbeiten als Vermüllung stößt jedoch schon deshalb an natürliche Grenzen, weil Kunstbetrachter oft nicht anerkennen wollen, sich selbst auf die gleiche Weise zu begegnen wie den Vermüllungswerken. Auch Luther, höchste Autorität des reinen Herzens, fand wenig Anerkennung für seine wahrheitsgemäße Feststellung, daß unser Leib nichts anderes sei als ein stinkender Madensack, will sagen, daß auch die Krone der Schöpfung nur Bestandteil des großen Metabolismus ist: die Welt ein einziger Verdauungsapparat.

Wer sich aber auf die Anleitung der Künstler einläßt, gewinnt die unbezahlbare Einsicht, daß der Wert der Werke – Kunst oder Körper – sich nicht aus ihrer objektiven materialen Substanz ergibt, sondern aus dem Umgang mit den Werken und Körpern (Bazon Brock entwickelte 1967 in der Stadthalle Hannover das Experimentierfeld des Metabolismus unter dem Titel „Du sollst nicht stinken!“; dort lernte man, Verantwortung für die Produktionen des eigenen Körpers auf die gleiche Weise zu übernehmen wie für die Produktionen des eigenen Geistes. Später bot Warhol diese Einheit von körperlicher und geistiger Produktion in den „piss paintings“. „Wer nicht wahrhaben will, daß er ein Abfallprodukt ist und daß er keine Wahl hat, anders zu sein, der riskiert, eines Tages an der eigenen Scheiße zu ersticken.“ In: Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Kap 10. Scheiße, Abfall. Frankfurt am Main 1983, S. 289. In anderer, vielleicht noch zynischerer Hinsicht, ist der Mensch dazu verurteilt, sich selbst und das, was er unternimmt, als Müll zu begreifen: „Heute werden Abfälle übrigens bereits als solche produziert. Man baut riesige Bürogebäude, die für alle Zeiten leer stehen werden (Räume sind wie Menschen arbeitslos). Man baut totgeborene Bauwerke, Trümmer, die immer nur Trümmer sein werden und nicht einmal archäologische Fundstücke (in unserer Epoche werden keine Ruinen oder Überreste mehr produziert, sondern nur noch Abfälle und Rückstände).“ Baudrillard, Jean: Eine bösartige Ökologie. In: ders.: Die Illusion des Endes. Berlin 1995, S. 124.); letzteres fällt schwer, wenn man weiß, daß die Substanzen des menschlichen Leibes in jeder Drogerie für 18,90 Euro eingekauft werden können. Ein Grund mehr, bereits zu Lebzeiten den Müll wertzuschätzen; damit konnte man sich selbst auch als zukünftig ruinierter Person Bedeutsamkeit zugestehen – nicht nur mit Blick auf die postmortale Ausschlachtung kostbarer Rohstoffe, wie sie in Herzschrittmachern, Edelgebissen, Platinschienen enthalten sind. Vielmehr läßt sich Würde gewinnen durch den Beweis, daß ein so labiles Körperchen Träger geistiger Kräfte zu sein vermag, die das Aktionspotential des Leibes in schier unvorstellbarem Maße überbieten.

Vielleicht ist jedoch eine weitere, von Malern der Monochromie gebotene Herausforderung noch raffinierter als die der Anleitung zur Müllverehrung am eigenen Leibe. In der monochromen Malerei, etwa eines Robert Ryman, wird die allerhöchste Form der Unterscheidung im Ununterscheidbaren entwickelt. Vor Rymans Werken ist der Betrachter veranlaßt, die Unterschiede zwischen den Weisheiten eines monochrom-weißen Bildes in einem weißen Passepartout, das wiederum in einem weißen Rahmen auf weißer Museumswand installiert ist, wahrzunehmen. Ein solches Kunstwerk mutet uns aufs Delikateste die Aufgabe des Unterscheidens im Ununterscheidbaren zu. Im Vergleich dazu ist unsere gesetzlich begründete Bürger- und Konsumentenpflicht, Papier, Plastik, Nahrung und Sondermüll zu trennen, weiß Gott recht plump und geistlos.

FININVEST – LOGIK DES APOKALYPTISCHEN DENKENS

In besonderer Weise konzentrieren wir uns in der Konstellation unseres Theoriegeländes auf den Synkretismus von Mülltheorien und Appellen zum Fininvest. Diese synkretistische Vereinheitlichung sehen wir in der Logik des apokalyptischen Denkens gegeben, die gerade nicht auf das definitive Ende ausgerichtet ist, sondern auf die Begründung der Möglichkeit, daß jederzeit ein erneuter Anfang gemacht werden kann. (Siehe Brock, Bazon: Lustmarsch durchs Theoriegelände. Musealisiert Euch! Köln 2008, Kapitel „Das Leben als Baustelle – Scheitern als Vollendung“, S. 284 ff.)

Die heute bestvertraute Verschmelzung von Endzeitdenken in der Zerstörung und Vermüllung mit dem Appell „Weiter so bis in alle Ewigkeit“ trägt den Alltagsnamen „Kapitalismus“ und den Sonntagsnamen „schöpferische Zerstörung“, wie ihn 1942 der Nationalökonom Joseph Schumpeter in seinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ herausstellte. Uns scheint es völlig selbstverständlich, etwas abzuräumen, zu vermüllen, zu entsorgen, um etwas Neues an seine Stelle zu setzen, von dem versichert wird, daß es seinerseits über kurz oder lang abgeräumt, vermüllt und endgelagert wird. Die Zyklen der schöpferischen Zerstörung werden immer kürzer, so daß heute einem Menschen im Laufe seines Lebens zugemutet wird, mehrmals den kompletten Umbau einer Stadt samt ihrer Restaurants, Theater oder Wohnungsinterieurs mitzuerleben.

Diese Beobachtung führte Hannah Arendt zum Erstaunen vor der Tatsache, daß die einstmals von den Griechen „Sterblinge“ genannten Menschen zu den einzigen Trägern des Gedankens der Dauer wurden, weil die von den Alten im Vergleich zu den Menschen als ewig und dauerhaft angesehenen Häuser, Städte, Lebensumgebungen wie Tal und Berg in kürzester Zeit mehrfach umgestaltet werden konnten. Hannah Arendt sah die Umkehr von Sterblichkeit und Unsterblichkeit auf hervorragende Weise durch Rilkes Gedicht „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! / Sie zu halten, wäre das Problem“ ausgedrückt. In der dritten Strophe heißt es dort:

„Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; – aber auch in ihnen flimmert Zeit. Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit.“

Die kapitalistische Rechtfertigungsstrategie schöpferischer Zerstörung hat uns, worauf Arendt und Rilke verweisen, somit zu den ältesten menschlichen Vermutungen über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zurückgeführt. Zeitenthoben sind demnach nur die begrifflich gefaßten Gedanken und bildlich ausgedrückten Ideen, die beide die Orientierung der Menschen auf den Geist ihres Weltverständnisses verbürgen.

Die Kapitalistenparole „Fininvest“, scheinbar gerechtfertigt durch ihre Übereinstimmung mit der Logik der christlichen Orientierung auf die Apokalypse, führt jedoch in dem Maße, wie sie erfolgreich zu sein scheint, zum Widerstand gegen ihren Geltungsanspruch. Wie hemmungsloser Konsumerismus am Ende doch nur noch Widerwillen und Ekel erzeugt, so bewirkt der ebenso hemmungslose Hinweis darauf, daß man alles nur schaffe, um es zu zerstören, die Flucht in die Überlegenheit gegenläufiger Ideale. Sie sind bereits überraschend erfolgreich, sogar unter dem herkömmlich altbackenen Namen „Die Linke“.

Jeder Hanswurst kann mit Kapital und sozialer Intelligenz die Welt mit Produkten vollstellen. (Siehe den Eintrag „Abfall“ von Bazon Brock, in: Fliedl, Gottfried et al. (Hg.): Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer. Theoretische Objekte, Fakes und Souvenirs. Frankfurt am Main 1997, S. 129.) Obzwar hier und da Einwände gegenüber den Herren moderner Produktion laut werden, werden weiterhin die großen Schöpfergenien als Kulturheroen glorifiziert, die ohne Kontrolle ihres Tuns als Kreatoren des In-die-Welt-Bringens triumphieren. Bereits zu Zeiten, als man das Schöpferpathos noch hymnisch-naiv feiern konnte, war im Grunde klar, daß alles in die Welt Gesetzte auf irgendeine Weise neutralisiert werden müsse. Die große soziale Strategie des Kriegführens diente zur Tarnung einer allgemein akzeptierten Form des Vernichtungswillens als psychologischer Motivation, die Freud mit dem Begriff „Todestrieb“ umschrieb. Doch man ahnte bereits, daß dem In-die-Welt-Bringen von Artefakten immer ein Aus-der-Welt-Bringen entsprechen müsse. Sonst wäre die Balance zwischen Schöpfung und Erschöpfung nicht mehr gegeben und die Welt würde hoffnungslos verstopft, wie wir es unter den Zeichen allgegenwärtiger Vermüllung erleben. Die Auffassung, Kriege seien natürliche Formen des Widerrufs von Resultaten allgemeinen Schöpferwahnsinns, hat dazu geführt, daß wir den Triumphalismus aufzugeben haben, mit dem wir Mutwillen als Macht des Stärkeren auskosten. Manifestationen dieses Siegesgenußes als Triumphalismus sind aber immer noch allgegenwärtig: bei Motorradrowdies, die es genießen, brave Lärmschutzsensible mit dem infernalischen Getose aus aufgebohrten Auspufftopfen zu ohnmächtiger Wut zu reizen; bei Bikern in Großstädten, die es darauf absehen, die Macht des Ohnmächtigen zu demonstrieren, da bei jedem Unfall mit einem Fahrradfahrer davon ausgegangen wird, die Motorisierten seien per se schuld; oder bei Bürohengsten der Verwaltung, denen es Hochgenuß bereitet, jeden Antragsteller ihrer Herrschaftslogik unterwerfen zu können. Triumphalismus: Insbesondere festlich ist technische Intelligenz als Hinterlist.

ZERSTÖRUNGSPFLICHT DES KONSUMENTEN: BIG DASHER GEGEN BIG SPENDER

Bei der Müllentsorgung und den zerstörerischen Konsequenzen weiterer Vermüllung für die verschiedenen Lebenssysteme enden alle großen politischen und gesellschaftlichen Verfügungs- und Machtphantasien – außer man hieße Berlusconi, der in Neapel den Unrat zum Gold der Mafia verwandelte. Sein Firmenimperium Fininvest bezeichnet also die generelle Absicht, aus Zerstörung Geld zu machen. (Wie dringlich der Anspruch auf eine Ausbildung der Bürger zu Müllexperten ist, zeigt eine Vielzahl von Nachrichten aus den Gefilden des schönsten Scheins: „Eine Schande für ganz Italien“ titelte die „Süddeutsche Zeitung“ vom 14.01.2008.: Angesichts der Müllunruhen in Neapel wurde ein Müllnotstand ausgerufen. Die Müllkrise werde von der Camorra genutzt, um schnell an Aufträge zu kommen. Am 3.07.2008 heißt es in der „SZ“ in einem Artikel über „Die Seele des Mülls“, das Müllproblem habe sich mittlerweile dermaßen verschärft, daß die Neapolitaner des Großeinsatzes von Psychologen bedurften, um den Bewohnern zu souveräner Behauptung gegen die Müllmächte zu verhelfen. Hinzugezogen wurden die Zivilisationshelden der Freiwilligen Feuerwehr, des Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen, die in Zusammenarbeit mit den Neapolitanern den Müllnotstand zu bewältigen versuchten, indem sie seine Beseitigung als Geschäft der Mafia anerkannten.) Nicht das In-die-Welt-Bringen, sondern das Aus-der- Welt-Bringen entpuppt sich als grundsätzliches Problem des Wohlstands der Massen. Wie wird man das Zeug wieder los, das für uns geschaffen wurde? Antwort: Durch Verbrauchen, was nichts anderes heißt als: durch Zerstören und Vermüllen. Der Name für diese Berufung zum großen Zerstörer heißt „Konsument“ („big dasher“). Konsumenten sind diejenigen, die durch ihre Verschlingungs-, Vermüllungs- und Zerstörungsaktivität die Übermacht des in die Welt Gestellten weitestgehend zu neutralisieren haben.

Wir erinnern uns an die triumphale Auffassung des Schöpferischen in der alten Dichotomie des Kreatorgotts/ Demiurgen und seines Pendants, nämlich des teuflischen Zerstörers, der in allen Mythologien für das Gleichgewicht von In-die-Welt-Bringen und Aus-der-Welt-Bringen zu sorgen hat. Bei diesem Teufel als dem nützlichen, dem guten Bösen handelt es sich offensichtlich um eine allen Menschen sinnvoll erscheinende Vermittlung von zwei Prinzipien, die im Deutschen mit Jothen und Hejeln lauten: Jeder sei sowohl ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft, wie ein Teil von jener Kraft, die unbedingt das Böse will und doch das Gute schafft. Auf dem gegenwärtigen Stand des industriellen Fertigungsprozeßes ist dieser Zusammenhang als kreatives Recycling etabliert. Die Industrie berücksichtigt bei dem Entwurf der neuen Produkte bereits deren Bestimmung zum Recycling. Damit diese Bestimmung erreicht werden kann und zugleich profitabel ist, muß den neuen Produkten bereits mit Sollbruchstellen und Verfallsdaten der Übergang in den Status als kostbarer Müll verpaßt werden. Unterentwicklung manifestiert sich heute vor allem in der Unfähigkeit, die Bedeutung des Abfalls zu erkennen und ökonomisch wie sozial produktiv werden zu lassen.

„Konsument sein“ sollte als Ausbildungsberuf auf gleiche Weise anerkannt werden wie der des Produzenten. Die professionellen Konsumenten hatten die Rolle des Auflösers, Zermalmers, Zerstörers oder eben Vermüllers zu übernehmen, um das Kernproblem aller konsumeristischen Aktivitäten problemadäquat behandeln zu können – die Neutralisierung des Geschaffenen qua Vermüllung. Daher lautet die Aufgabe an uns Zeitgenossen: Wir müssen zu professionellen Müllmännern werden, um auf sinnvolle Weise Vermüllung zu betreiben.

Aus dieser Einsicht entwickelten wir bereits Mitte der 60er Jahre das Konzept zur Professionalisierung von Konsumenten, die zu lernen hatten, wie man Testzeitschriften, Wirtschaftsnachrichten, Strategien kommunaler Abfallwirtschaft sinnvoll für die eigenen Kaufentscheidungen und für die Formen des Umgangs mit den Produkten nutzt. Um den Gedanken der Professionalisierung der Konsumenten mit Blick auf die Einheit von In-die-Welt-Bringen und Aus-der-Welt-Bringen zu stärken, ihm also Bedeutung zu verleihen, haben wir während unserer Lustmarsch-Prozessionen vorgeschlagen, allen Müllmännern ein Ehrendoktorat zu verleihen und sie zu Mitgliedern der Akademien archäologischer Wissenschaften zu ernennen. (Siehe DVD „Lustmarsch durchs Theoriegelände“, die „Gott & Müll“-Märsche.) Während wir im Karlsruher ZKM und später in Leipzig den Lustmarsch präsentierten, streikte zeitgleich die örtliche Müllabfuhr, was wir durch unsere kleinen Prozessionen unterstützten. Wir haben jedoch für die Müllabfahrer statt vierprozentiger Lohnerhöhung eben jene Statuserhöhung gefordert, die sie tatsächlich verdient hatten. Denn als Müllwerker sind sie Archäologen und Theologen, die auf der Grundlage des Mülls Unterscheidungen gleichsam aus dem Nichts hervorbringen.

Parallel zur Professionalisierung der Konsumenten hatte die universitäre Ausbildung der Patienten, der Wähler und der Rezipienten der Künste stattzufinden. Sie alle müssen zu wahren Partnern der produzierenden Unternehmer, schöpferischen Künstler, weltbildenden Politiker und der Ärzte als Propagandisten von Lebenskraft werden. Damit die Einheit von In und Out, von Angebot und Nachfrage, von Werk und Wahrnehmung, von Potentialität und Aktualität wie von Konstruieren und Dekonstruieren überhaupt denkbar wird. Das Ziel unserer Beschäftigung mit den herrschenden Logiken der Vermüllung besteht darin, das Gleichgewicht zwischen der Produktsphäre und der Rezeptionssphäre, zwischen den Produzenten und den Konsumenten herzustellen, indem man die Konsumenten, die Patienten, die Rezipienten und die Wähler professionalisiert. (Bazon, Brock: Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens. Kritik der Wahrheit. Wie man wird, der man nicht ist. Gesammelte Schriften 1991-2002. Köln 2002, S. 181 u. 721.)

Anfang der 70er Jahre entwickelte Michael Thompson seine wunderbare Mülltheorie. (Thompson, Michael: Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten (Rubbish Theory, 1979). Neu herausgegeben von Michael Fehr. Essen 2003.) Darin skizziert er das merkwürdige Phänomen, daß etwa Jugendstil- Artefakte, die zwischen 1900 und 1914 einen hohen Stellenwert besaßen, in den 50er Jahren auf dem Müll landeten. So konnten findige Leute damals hochrangige Jugendstil-Gestaltungen am Straßenrand als Sperrmüll aufsammeln. Heute werden die gleichen Objekte zu Höchstpreisen gehandelt. Thompson zeigt, auf welche Weise höchstgeschätzte Artefakte nach einer bestimmten Geltungsdauer ihrer Wertschätzung einen Prozeß des Entwertens und der Neutralisierung durchlaufen, um dann später aus dem Status des wertlosen Flohmarktplunders zu kostbaren Antiquitäten zu werden.

Bekannt ist das Problem, daß wir uns kaum von Dingen zu trennen vermögen, die unsere Wohnungen besetzt halten, aber längst nicht mehr zur Bewältigung des Alltagslebens herangezogen werden. Offensichtlich bedarf es psychologischer Schulung, um sich selbst vom Plunder zu trennen. Deswegen bot Bazon Brock in Berlin 1965 ff. Kurse zur „Gymnastik gegen das Habenwollen“, um gemeinsam mit den Wohnungsinhabern die „Wegwerf-Bewegung“ zu üben. („Tägliche Übung bringt weit. Man fängt bei sich selber an, seinen Schuhen, Möbeln, Kleidungsstücken, Utensilien, öffnet das Fenster zum Hof und auf geht’s. Es liegt nahe, Gegenstände dafür zu benutzen, die schon ihrem Charakter nach zum Wegwerfen bestimmt sind wie Papierkleider, Papiermöbel usw. Die Brock’sche Wegwerfbewegung zielt nach vorne, denn wir wollen nicht an die Dinge unsere Erinnerungen binden, sondern an uns selber: an unsere Gesten, unseren sprachlichen Ausdruck, an Mimik und Verhalten. Wer nur sein Leben auf seine jeweilige Umgebung projiziert, der wird bald nichts mehr in den Händen haben. Die meisten Leute machen deshalb nur etwas aus ihrer Wohnung, nichts aber aus sich selbst.“ In: Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Hrsg. von Karla Fohrbeck. Köln 1977, S. 997.)

KATHEDRALEN FÜR DEN STRAHLENDEN MÜLL – SO IST ZUKUNFT WAHRSCHEINLICH

Die folgenden Überlegungen gelten der Tatsache, daß wir Lagerstätten für die Resultate der schöpferischen Zerstörung, also Müllhalden, auf die gleiche Weise mitten in unseren Lebensräumen schaffen müssen, wie wir dort den Kräften der schöpferischen Hervorbringung Kultbauten widmen: Moscheen, Synagogen, Kathedralen. Es gilt also, Kathedralen für den Müll, für die Kultur begründende Kraft der Entsorgung zu schaffen – zumal dann, wenn der Müll aus seiner Eigenschaft heraus eine Beachtung erzwingt, die wir bisher nur den Göttern entgegengebracht haben. Gemeint ist der atomar strahlende Müll.

Die kultische Hingabe an die Kraft des Hervorbringens, an die Kraft des Schöpfergottes steht im Zentrum jeder Kultur. Die Formen der Hingabe sind durch die Erfahrung geprägt, daß Menschen nur durch Verehrung bannen können, was sich durch keine andere Weise der Einflußnahme beherrschen läßt. Der göttliche Wille ist eben ein solcher, weil er nicht zum Willen der Menschen gemacht werden kann. Alles, was unsere Kraft zur willentlichen Einflußnahme oder gar zur Beherrschung überschreitet, nennen wir Wirklichkeit. Wer nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit anzuerkennen, wird in Allmachtsphantasien schwelgen, die selbst bei fürchterlichsten Folgen für unzählige Menschen, wie zum Beispiel durch Mord und Terror in KZs und GULags, vor allem Dummheit demonstrieren. Für die heutige Menschheit ist die mächtigste, weil gefährlichste Herausforderung durch die Wirklichkeit im Umgang mit dem atomar strahlenden Müll gegeben, weswegen es notwendig wird, diese Macht der Wirklichkeit durch kultische Verehrung zu bannen. Leider werden die Versuche dazu immer noch in möglichst unzugänglichen Weltengegenden versteckt, obwohl längst alle wissen, daß sich das Problem nicht verstecken läßt. Deshalb wird die einzig vernünftige Reaktion auf die Zumutungen der atomar strahlenden Wirklichkeit darin bestehen, daß man in die Zentren des menschlichen Zusammenlebens auch Kultstätten für die Verehrung der destruktiven Kraft als Wirklichkeit baut. Mitten in die Gemeinden hinein sind die Kathedralen für den strahlenden Müll zu errichten und die Bevölkerung zu entsprechendem Dienst an der Bannung dieser Wirklichkeit zu erziehen. Müllkult hat gegenüber den bisherigen Gotteskulten einen unübersehbaren Vorteil. Kulturelle Gotteskulte haben es in Israel, desgleichen in China oder in Altägypten auf höchstens 3.000 Jahre Verehrungsdauer gebracht. Im Vergleich dazu stiften die Kathedralen für den atomar strahlenden Müll kultische Fürsorgepflicht für den Zeitraum von mindestens 15.000 Jahren Halbwertszeit. Müllverehrung ist also, von unserer Gegenwart aus gesehen, von größerer Wirkmächtigkeit als Gottesverehrung – zumindest wird im allergünstigsten Falle Gottesverehrung nur solange gelingen wie die Müllverehrung. Denn wenn die kultische Bannung des atomar strahlenden Mülls nicht gelingt, wird es keine Menschen mehr geben, die ihren Göttern dienen könnten.

Im Unterschied zur permanenten Aufforderung der verschiedensten Kulturen, sich, im Namen des Geltungsanspruchs ihrer Götter, Religionskriege und Kulturkämpfe bis zum bitteren Ende zu liefern, hat die kultische Müllverehrung den Vorteil, die Mitglieder aller Kulturen gleichermaßen zum Dienst an der Abtragung von Ewigkeitskosten menschlicher Schöpferkraft zu beteiligen, da vor der Gefahr der atomaren Strahlung alle Menschen gleich sind und ihre kulturell-religiösen Bekenntnisse unerheblich werden. Müllverehrung hat also den stärksten uns bisher bekannten Zwang zur Entwicklung einer einheitlichen Weltzivilisation jenseits aller Kulturen zur Folge. Welcher Zweck stünde höher als die Bannung der Gefahr eines Untergangs der Menschheit? Also wurden die Kathedralen für die Verehrung des atomar strahlenden Mülls als Kultstätten die höchste Auszeichnung unter allen konkurrierenden Kultstätten zugesprochen erhalten müssen.

Vor diesem Ereignishorizont begreifen wir erst die Dimensionen des Konsumerismus: Wirklichkeitsangemessenes Konsumieren hieße, sein gesamtes Handeln als Befreiung der Welt von dem Allmachtswahnsinn der Produzenten zu verstehen, indem man sich den Konsequenzen des Geschaffenen, also der Vermüllung der Welt als schlußendlich unlösbarem Problem stellt. Neuartig in der Kulturgeschichte der Menschheit ist die Dimension der zerstörerischen Kräfte des menschlichen Schöpfergenius’. Diese Dimension läßt sich als bisher beste Entsprechung zu den Begriffen „Ewigkeit“ oder „Uchronie“ werten. Also stiftete die kultische Bannung der strahlenden Zerstörungskraft zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine von niemandem zu verleugnende Orientierung all unseres Handelns und unserer Verhaltensweisen auf Ewigkeit. Die nannte man bisher das Reich Gottes.

Unsere Verpflichtung auf Bewahrung des Mülls für Minimum 15.000 Jahre Halbwertszeit macht jetzt bereits alles zeitliche Handeln zu einer Verwirklichung von Ewigkeit. Wir stiften Ewigkeit. Die feuilletonistischen Gepflogenheiten, unsere Zeit als kurzatmig, neuigkeitssüchtig, ereignisflüchtig, oberflächlich, relativistisch und als haltlos darzustellen, erweisen sich vor den Anforderungen an unsere Wirklichkeitstauglichkeit, also der Akzeptanz einer realistischen Zeitperspektive von 15.000 Jahren, ihrerseits als Ausdruck von Haltlosigkeit und weltflüchtigem Kulturrelativismus.

Vorbildlich agieren bereits Atomphysiker als zeitgemäße Tempeldiener in strikter Erfüllung der Vorschriften für den rituellen Umgang mit der tödlichen Kraft. (Gott- und Müll-Mitteilung: An der TU Clausthal wurde ein neuer Studiengang eingerichtet – Management radioaktiver und umweltgefährdender Abfälle.) Um unversehrt in die Nähe der strahlenden Kraft zu gelangen, beachten diese Priester höchst artifizielle und exakt abgestimmte Annäherungsmodulationen, die im Umgang mit dem Tod verheißenden Material notwendig sind. Damit Zukunft wahrscheinlich wird und die potentielle Zerstörung des genetisch verankerten Reproduktionsprogramms des Lebens verhindert werden kann, sind also bestimmte Formen der fürsorglichen Verehrung des endzeitgelagerten radioaktiv strahlenden Mülls zu entwickeln. Wenn es uns nicht gelingt, die tödliche Wirklichkeit einzuhegen, also die Natur, vor allem auch die Natur des Menschen zu besänftigen, haben wir keine Chance, ein bereits drohendes Schicksal abzuwenden.

Dazu wollen wir mit der Entwicklung von Modellen für Kathedralen des strahlenden Mülls beitragen. (Brock, Bazon: Gott und Müll. In: Kunstforum International, Theorien des Abfalls, Bd. 167, Nov.-Dez. 2003, S. 42 f.; siehe Brock, Bazon: Gott und Müll. In: ders., 1990, S. 281 ff.) Seit 1986 begleite ich Winfried Baumann bei seinen Bauprogrammen für die Müllkathedralen. Nach den Proportionsschemata des Kölner Doms oder der Aachener Pfalzkapelle oder der Hagia Sophia oder der großen Al-Aksa-Moschee beziehungsweise entsprechender Synagogenbauten, das heißt in Übernahme von architektonischen Würde- und Pathosformen, entwarf Baumann Kathedralen für den Müll. Sie erfüllen alle Anforderungen der Sicherheitstechnik, übertreffen sie aber gerade durch das Sichtbarmachen des Atomkults, dessen entscheidendes Problem ohne jeden Zweifel die Endlagerung des atomaren Mülls darstellt.

Baumanns containments sind so ausgelegt, wie das zehn Jahre nach unseren Initiativen auch amerikanische Künstler und Wissenschaftler forderten, etwa Don DeLillo, der in seinem Roman „Unterwelt“ Müllhalden als Zentren, als Sacrum, als Allerheiligstes jeder zukünftigen Zivilisation einforderte. ( „[...] den giftigsten Müll isolieren, das ja. Dadurch wird er großartiger, bedeutungsvoller, magischer. Aber gewöhnlicher Hausmüll sollte in den Städten, wo er entsteht, gelagert werden. Bringt den Müll an die Öffentlichkeit. Die Leute sollen ihn sehen und respektieren. Versteckt eure Müllanlagen nicht. Baut eine Architektur des Mülls. Entwerft traumhafte Gebäude, um Müll zu recyceln, ladet die Leute ein, ihre eigenen Abfälle zu sammeln und an die Pressrampen und Forderbänder zu bringen. Lerne deinen Müll kennen. Und das heiße Zeug, die chemischen, die atomaren Abfälle werden zu einer fernen Landschaft der Nostalgie. Bustouren und Postkarten, jede Wette.“ DeLillo, Don: Unterwelt. Köln 1998, S. 336; siehe: „Wir entwarfen und betreuten Landaufschüttungen. Wir waren Müllmakler. Wir organisierten Giftmülltransporte über die Weltmeere. Wir waren die Kirchenväter des Mülls in all seinen Wandlungen.“ In: Ebenda, S. 122.)

Aber unsere Konzepte entwickeln nicht nur Bezüge zu zukünftigen Zivilisationen. In der Kulturgeschichte wird auf vielfätige Weise von Versuchen berichtet, durch Bauten die menschliche Verpflichtung auf Ewigkeit zum Lebenszentrum zu erheben. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der Entschluß zum ersten Bau eines Tempels in Jerusalem durch König David und seinen Sohn Salomon. Bis zur Zeit Davids transportierte das jüdische Volk das Heiligtum stets in einem tragbaren Reise-Schrein. Das Heiligtum bewahrte vor jedem äußeren zerstörerischen Einfluß die Zeichen des Bundes, den Gott mit dem Volk Israel schloß. Die Schrein-Mobilie mußte zur Immobilie als Tempel werden, weil dadurch ein besseres containment für das Bündniszeugnis geboten werden konnte, auch als containment gegen die zerstörerische Kraft des intellektuellen Zweifels und der ungewollten Häresie.

Es leuchtet ein, daß der Tempel Salomons einen besseren Schutz gegen die Kraft der Zerstörung zu bieten vermochte als ein fragiler Tragealtar in offener Landschaft.

Wir bieten mit den Kathedralen für den Müll die zeitgemäße Definition des ausgegrenzten Bezirks, also eines Templum- Bereichs, zu dem Zutritt nur durch einen portalartigen Einlaß mit besonderer Lizenz gewährt wird. Beim Übertreten der Schwelle des Tempels hochgefährlicher Kulturaktivitäten müssen die rites de passage, eine Verwandlung der Eintretenden vollzogen werden, die dann bekennen, jeden Mutwillen, alle Eigenmächtigkeiten zu unterlassen. Dante spricht im „Inferno“ seiner Göttlichen Komödie im Geiste christlicher Demutsdeklarationen beim Eintritt in die Vorhölle: „Laßt fahren alle Hoffnung, die ihr hier eintretet.“ Wählten wir das entsprechende Motto für den Eingang in die Kathedrale des strahlenden Mülls, so lautete die Übersetzung des Dante-Mottos: „Jeder, der hier eintritt, hat alle noch so geringen Zeichen von Eigenmächtigkeit oder Willkür zu unterlassen. Hier gilt’s den Tod!“ Unter dem Motto „Hier gilt’s der Kunst“, der heiligen Schöpferkraft, der alle Naturwirklichkeit übergipfelnden techné wurde die Welt zur Müllhalde, die sich stündlich vergrößert, denn in immer kürzeren Takten werden schöpferische Leistungen des Menschen auf den Müll geworfen.

An dieser Stelle bringe ich noch einmal meinen Vorschlag in Erinnerung, der bereits 2006 bei unseren „Lustmarsch“- Aufenthalten in Karlsruhe (ZKM), in Frankfurt am Main (Schirn Kunsthalle), in Hannover (kestnergesellschaft) und schließlich in Leipzig (Museum der bildenden Künste) lautete, eine Art von „Schweizergarde der Kathedralen für den strahlenden Müll“ zu bilden. Die Teilnehmer an den „Gott & Müll“-Prozessionen folgten im rituellen Wechselgesang unserem mit Tempelverkleidung versehenen Müllwagen durch die Zentren der Städte. Die sogenannte „Memorialmiliz“, die militia coelestis der antizipationskräftigen Müllverehrer in gelbem Ritualkostüm, knüpfte an Sängerscharen der alttestamentarischen Tradition König Davids an (siehe 1 Chronik 25 und 2 Chronik 2–3) und wurde somit zum lebendigen Ausdruck der „Gott & Müll“-Hoffnung. Als Bestandteil der „Gott & Müll“-Aktionen huldigten wir der antik-römischen Göttin der die Zivilisation begründenden Kanalisation, der Cloaca Maxima. (Brock, Bazon 2002, S. 195; siehe die Veröffentlichung: Dionysos Hof 1:1. Hrsg. v. Paola Malavassi und Kasper König, Köln 2006. Dazu die Aktion vom 1. Mai 2006 am Dionysos-Brunnen, die der Huldigung des Müllkults, des Dionysos Zagreus als des zerrissenen und wiederauflebenden Gottes, aber vor allem der Etablierung des Kölner Orakels in residence und des Delphi-Clubs diente.)

In summa, wir Müllmänner der Geschichte demonstrierten die Fähigkeit, im Anderen uns selbst zu sehen, nämlich das Häufchen Elend, das bißchen Müll, den Rest mit oder ohne Spur. Wer von Beuys und Roth noch nicht zur Verehrung des Drecks und Bruchs überredet wurde, erhielt auf dem Lustmarsch die Initiation in den Müllkult. Der hat bereits für unseren Alltag Folgen, wie die Häufung von Spurenarchäologie in den Krimis der TV-Programme beweist: Jeder Vogelschiß kann H5N1 enthalten, jedes Staubkörnchen radioaktiv strahlen und jede Zigarettenkippe die DNA des Täters verraten. Begegnet mit Respekt den Hohepriestern des Müllkults, in Quarantänestationen, in kriminologischen Instituten, in den Endzeitlagerungsstätten! Übt den Gesang der Memorialmilizen, wie wir ihn immer wieder intonierten: „Bei Don DeLillo, Winckelmann, Unterwelt, Überwelt, Diesseits, Jenseits, Abseits! Eintreten!“