Hering: Mit welchen Leitbildern bist du in deiner Kindheit und Jugend aufgewachsen? Was wurde dir von deiner Familie mit auf den Weg gegeben?
Leitbilder wurden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht von Familien produziert, sondern waren Schöpfungen des Staates, vermittelt vor allem durch die Wochenschau. Diese präsentierten uns das Leitbild des germanischen Kulturheroen im Abwehrkampf gegen die bolschewistische Bedrohung. Die Mission, die jeden Tag wiederholt wurde, lautete, das Abendland gegen den Osten zu verteidigen, als Kulturauftrag.
Lützenkirchen: Ist dieser „Auftrag“ damals bei Ihnen angekommen?
Geblieben ist mir daraus die Erfahrung, daß sich die Auftraggeber selber am allerwenigsten an diese Aufträge hielten. Wir haben im März und April 1945 in Danzig erlebt, wie sich die höheren Herrschaften des Heeres mit ihren Orden und ihrer Papageienuniform verdrückten, wenn es brenzlig wurde. Von Oliva und Zoppot standen damals vielleicht noch drei Schornsteine, keine Wand. Die Zivilbevölkerung lebte unter der Erde in der ständigen Furcht, verschüttet zu werden. In den wenigen Bunkern, die es noch gab, hatte sich das Militär in Sicherheit gebracht. Das Risiko trugen die Frauen und die Kinder – vor allem die Frauen. Ich habe damals gelernt, daß es unsinnig ist, sich an der Ausbildung zum Militärdienst vorbeizudrücken, wenn man kein Opfer werden will, denn dort lernt man am besten zu überleben.
Hering: Wie haben sich deine Eltern in dieser Situation retten können?
Mein Vater stand auf einer Proskriptionsliste der Russen, wie alle Leiter kriegswichtiger Betriebe. Ihm wurde nach dem Einmarsch der Sowjetarmee der Prozeß gemacht, und er wurde sofort erschossen. Meine Mutter konnte sich mit uns Kindern über die Ostsee nach Dänemark retten.
Hering: Wie ist es dir bis zur Flucht in der Schule ergangen? Gab es dort Leitbilder für dich?
Ich bin, bedingt durch Krieg und Flucht, erst wieder zur Schule gegangen, als ich 13 Jahre alt war. Vorher gab es keine Vorgaben durch die Schule für mich. Wenn es sie gab, so sind sie durch die Ereignisse, die darauf folgten, verschüttet.
Hering: Was für Ereignisse waren das?
Wir waren ab dem 9. März 1945 auf der Flucht. Das war ziemlich abenteuerlich. In dem dänischen Lager, in dem wir uns dann befanden, gab es keine Schule. Schließlich landeten wir in Holstein. Ich ging dort in eine einklassige Zwergschule mit nur sehr sporadischem Unterricht. Erst 1949 gelang es mir durch persönliche Kontakte, in das Kaiser-Karl-Gymnasium in Itzehoe aufgenommen zu werden. An dieser Schule unterrichteten eine Reihe erstklassiger Lehrer, die es in besonderer Weise verstanden, unser Interesse zu wecken.
Lützenkirchen: Wie haben sie das gemacht?
Die Lehrer haben uns im wesentlichen den Unterricht selbst gestalten lassen. Wir fuhren regelmäßig nach Hamburg, um die Universitätsbibliothek kennenzulernen, um Theateraufführungen zu sehen und Ausstellungen zu besuchen. Wir haben auch selber Theater gespielt, Literaturzirkel besucht und eine Schülerzeitung herausgegeben, in der wir unsere ersten eigenen Arbeiten veröffentlichen konnten. Die einzelnen Schüler wurden dazu angehalten, sich zu spezialisieren. Ich begann damals, mich intensiv mit Geschichte und Philosophie zu beschäftigen und habe unter anderem über den Universalienstreit im Mittelalter referiert; andere wurden Spezialisten für Kernphysik, für Mikrobiologie und so weiter. Die Lehrer hielten sich am Rande des Geschehens, ließen uns arbeiten und unterstützten uns nur auf Nachfrage. Dieser Schule verdanke ich unschätzbare Impulse zur Selbsttätigkeit – allerdings auch eine Abneigung dagegen, mich unterzuordnen, denn das wurde mir dort nicht abverlangt.
Lützenkirchen: Aus der Beschreibung wird deutlich, welch wichtige Rolle Kultur und Wissenschaft in der Schule gespielt haben – wie sah es mit Politik aus?
Die Politik kam durch die kritischen Berichte der Lehrer über ihre Erlebnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg ins Spiel. Wir lernten durch die Erfahrungen dieser Leute, der Politik keinerlei Weltverbesserung oder Heilsmission zuzutrauen. Das einzige Interesse, das diesen Lehrern im Hinblick auf Politik geblieben war, erschöpfte sich in der Gewährleistung formaler demokratischer Rahmenbedingungen. Darüber hinaus war ihre Botschaft: „Mach es selber oder es geschieht gar nichts.“
Lützenkirchen: War das damals auch Ihre Auffassung?
Meine eigene politische Haltung war vor allem durch eine physische Abneigung gegen Aufmärsche, Nationalhymnen und ähnliches gekennzeichnet. Das alles war für mich unendlich beladen. Selbst wenn bei uns die schleswig-holsteinische Landeshymne gesungen wurde, in der es nur um den Himmel und das Meer geht, habe ich beim Absingen bewußt an etwas anderes gedacht, zum Beispiel Lateinvokabeln repetiert.
Hering: Stammt dein Vorname Bazon aus dieser Zeit oder hast du ihn dir später zugelegt?
Der Name Bazon, im Griechischen der Schwätzer, stammt aus meiner Schulzeit. Ich bekam ihn in wohlwollender Absicht vom Oberstudiendirektor Max Thiessen zugewiesen, weil ich mich als Flüchtlingskind, das nichts vorzuweisen hatte, immer bemühte, alles besonders gut zu machen und mich besonders hervorzutun. Ich habe die Ambivalenz und Ambiguität der Kennzeichnung als Stammler und Stotterer aus Begeisterung und
Dauerredner aus Angst vor dem Aufhören aber erst später verstanden und konnte mich dann entsprechend damit identifizieren. Ich nahm mir vor, den Spottnamen in einen Ehrennamen zu verwandeln. Das war in der Zeit, in der ich mich auch entschlossen habe, Dramaturg zu werden, weil mir diese Rolle für einen Intellektuellen als zeitgemäß erschien: Der Dramaturg bleibt im Hintergrund, muß sich nicht rechtfertigen und kann bei dem bleiben, was er für richtig hält.
Hering: Wenn ich recht informiert bin, bist du zu Sellner an das Landestheater in Darmstadt gegangen. Haben sich deine Erwartungen an die Rolle, die du als Dramaturg ausfüllen wolltest, einlösen lassen?
Die Arbeit dort entsprach meinen Vorstellungen von avancierter Theaterarbeit. Bei Sellner fanden die Uraufführungen der Stücke statt, die uns interessierten. Claus Bremer war dort, den ich schon aus der Konkreten Poesiebewegung kannte, ebenso Daniel Spoerri und zahlreiche weitere Personen, die auch bei den Darmstädter Tagen für Neuere Musik engagiert waren, wo unter anderem Cage zum ersten Mal in Deutschland auftrat. Darmstadt war ein Zentrum, der ideale Ort, um all das durchzuspielen, was mir damals vorschwebte.
Hering: Wie hast du es geschafft, bei all diesen Aktivitäten gleichzeitig noch zu studieren?
An der Universität war damals, Ende der 50er Jahre, für uns nicht viel zu holen, wenn man mal von dem starken Einfluß absieht, den Adorno auf mich gehabt hat. Ich hatte damals unter anderem durch meine Zimmerwirtin in Frankfurt, bei der auch Alexander Kluge, Karl Alfred von Meysenbug, der Frankfurter Kulturmotor und Galerist Rochus Kowallek und viele andere gewohnt haben, die später bekannt wurden, Kontakte zu Leuten, die formal studierten, faktisch aber ihrem Lebensalltag eine andere Orientierung gaben. Das waren Künstler und Intellektuelle, durch die ständig neue Arbeitszusammenhänge zustandekamen, die bedeutsamer waren als das, was uns die Lehrveranstaltungen zu bieten hatten. Hundertwasser, Martin Walser, die Zero-Gruppe sind nur einige Namen, die zu diesem Netzwerk gehörten.
Hering: Ich hatte bisher immer die Vorstellung, daß bis Mitte der 60er Jahre an deutschen Universitäten „ordentlich“ und zielstrebig studiert worden sei?
Ich kann mich nicht an einen einzigen Menschen erinnern, der damals zielstrebig studiert hat. Es bestand auch gar keine Notwendigkeit dazu. Niemand mußte schnell zum Abschluß kommen, der Arbeitsmarkt bot alles, was wir nur wollten. Die Universität war für uns nur der Ort, wo wir uns trafen und wo wir all die aktuellen Eindrücke, die wir durch unsere Reisen und Kontakte sammelten, sortiert und verortet haben.
Lützenkirchen: Wie sah dieses Sortieren und Verorten aus?
Wir haben damals versucht, uns von der uns vorgegebenen Auffassung zu lösen, daß die Kultur das Hohe, Reine und Ideale ist, während Tätigkeiten im Bereich der Wirtschaft, Politik und Technik nur für minderbemittelte Geister erträglich sind. Ich habe dieser Auffassung entgegengewirkt, indem ich zum Beispiel nach 1965 in meinen Lehrveranstaltungen an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg Speiseeis verkauft habe, um das Rezeptionsniveau zu erreichen, das jede Kinovorstellung bietet.
Wir wollten die Diskrepanz zwischen Kultursphäre und Alltagsleben aufheben, um die Bewährungsprobe für die Kultur zu ermöglichen.
Hering: Was hat euch so am Alltag fasziniert?
Wir hatten begriffen, daß sich in der sogenannten Hochkultur nichts anderes abspielt als in der Alltagskultur. Ich habe zum Beispiel die Aufregung über Heidegger nie begreifen können, denn mein Onkel, der Drogist, erzählte genau denselben Unsinn. Es ging uns also darum zu zeigen, daß in der Alltagspraxis keine anderen Problemstellungen und Reflexionsmuster zu finden sind als in den philosophischen Diskursen der Wissenschaft.
Hering: Du hattest in Hamburg eine Professur für nichtnormative Ästhetik, wie kam es zu dieser für die Nachgeborenen höchst ungewöhnlichen Formulierung?
Es sollte von vornherein klar sein: Hier galt kein Systemanspruch und kein philosophisches Kunstkonstrukt.
Wir wollten die Ästhetik aus ihrem Dasein als Appendix der Philosophie befreien, weil die Philosophen gezeigt hatten, daß sie nichts damit anzufangen wußten. Sie hatten keinen Einfluß auf die aktuelle Kunstdebatte, keinen Einfluß auf die Wirklichkeit, wie sie sich in der Alltagspraxis darstellte.
Lützenkirchen: Der Zusammenhang sollte aber vermutlich nicht in solchen Vorhaben wie „Kunst am Bau“ bestehen?
Derlei hatten wir nicht im Blick.
Unsere Formel war die der negativen Affirmation, also die hundertfünfzigprozentige Übertreibung, welche den Kulturkämpfen, wie sie etwa damals in Vietnam ausgetragen wurden, eine auf die Alltagspraxis gerichtete Zivilisationsstrategie entgegenstellte:„Werft Lippenstifte statt Bomben ab, fahrt Kühlschränke statt Panzern auf!“ Der linken Kritik, die darauf erfolgte, haben wir entgegengehalten, daß der Konsumerismus, die Werbeschauen, einen wesentlich größeren politisierenden Einfluß ausüben als die Flugblättchen der politischen Gruppierungen. Gleichzeitig haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß die Konsequenz aus diesem Wirkungszusammenhang die Relativierung der Werbeschauen zu sein hat, da
zunehmend offensichtlich wird, daß die Waschmittelreklame nichts mit dem Waschmittel zu tun hat. Die Kritik an der Ideologie der Kulturkämpfe war deshalb für uns das eigentlich Politische, während uns der Triumph von Ho Chi Min ebenso erschreckt hätte wie der von Lyndon B. Johnson.
Hering: Damit habt ihr euch aber im Gegensatz zur Auffassung aller damaligen politischen Gruppen befunden?
Das läßt sich so nicht sagen. Mit Fritz Teufel zum Beispiel habe ich nie Schwierigkeiten gehabt. Teufel war ja der Affirmatiker schlechthin. Auf die Aufforderung im Gerichtssaal „Stehen Sie auf!“ zu sagen, „Bitteschön, wenn’s der Wahrheitsfindung dient“ – das war die Quintessenz der negativen Affirmation. Aber es gab auch genügend verbiesterte Leute, die uns der affirmativen Kulturpraxis bezichtigt haben. Und es gab auch Kontroversen in den eigenen Reihen, etwa mit Vostell, der sich aufgeregt dagegen verwahrte, daß etwa Demonstrierende leere Plakate an Stöcken vor sich hertrugen und damit seine Erfindung plagiierten und mißbrauchten.
Mein Ansatz war indessen, mich zu freuen, wenn das Theater von der Kunstbühne heruntergeholt und angeeignet wurde: Ich habe in Berlin Theatersessel am Straßenrand aufgestellt und Eintrittskarten verkauft. Denn ab 1967 war das, was sich in Berlin auf den Straßen abspielte, interessanter als das, was auf den Bühnen geboten wurde.
Die Leute sollten sich an dem faszinieren, was die Realität ausmacht. Die linkische Kritik, die da behauptet, die Welt bestehe nur noch aus Signifikatsverkettungen, Zeichen und Bezeichnetes seien nicht mehr zu unterscheiden – das ist doch alles Unsinn!
Lützenkirchen: Trotzdem läßt sich nicht bestreiten, daß der Einfluß der Medien ständig steigt?
Alle Formen der Aneignung sind Vermittlungen. Sicher gibt es Möglichkeiten, die Verfeinerung der Wahrnehmung durch Lernprozesse zu steigern. Das betrifft aber die Grundunterscheidung zwischen Wirklichkeit und Wahn nicht. Die Behauptung, es gebe nur vermittelte Wirklichkeit, unterstellt ja, es gehe um die Befreiung von dem Vermittlungszwang. Vor allem suggeriert es, der Kritiker sei in der Lage, unvermittelt zu urteilen.
Hering: Was heißt dann Lehren und Lernen? Etwa auf der documenta Besucherschulen abzuhalten?
Wenn man anfängt zu lehren, entdeckt man, daß Didaktiken kein Instrument der Infiltration von Schülerhirnen sind, sondern den Lehrern selbst eine geschlossene Konstruktion von Aussagen ermöglichen. Sie sind eine Chance, sich unter kommunikations-ökonomischen Bedingungen zu behaupten. Ich habe nie geglaubt, daß man Studenten oder Schüler – selbst in der besten Absicht – indoktrinieren soll oder kann. Man kann ihnen nur ein Beispiel geben. Auch das Prinzip der Besucherschulen ist so aufgebaut:
Ich stelle mich hin und zeige, wie ich mich als erster der Ausstellungsbesucher mit den Exponaten beschäftige. Dieses Vorgehen birgt ein hohes Risiko des Scheiterns, wenn an dem Beispiel deutlich wird, daß man selber auch nicht weiterkommt als jeder andere – obwohl auch dieses Scheitern ein wichtiger didaktischer Faktor sein kann. Die übliche Reaktion: „Wozu brauchen wir Sie denn eigentlich, wenn Sie selbst nicht weiterkommen?“, verweist ja nur auf das Dilemma eines verfestigten Glaubens an die grundsätzliche Möglichkeit von Problemlösungen. Die Fragen, für die es eine Lösung gibt, kann jeder x-beliebige Experte bewältigen: Problem erkannt, Problem gebannt.
Ich muß mich dagegen mit den Dingen beschäftigen, für die es keine Lösung gibt.
Hering: Hast du außerhalb dieser Lehr- und Lernprozesse Vorstellungen gehabt, was oder wen du erreichen willst?
Jeder Intellektuelle sah sich in den vergangenen 200 Jahren als potentieller Berater der Machthabenden. So wollte Heidegger der Führer des Führers werden. Nachdem aber die Geschichte gezeigt hat, daß noch nie ein Nero auf seinen Seneca gehört hat, bleibt nur die Perspektive, sich an das Volk zu wenden. Das tut man mit großem Eifer und unerschöpflichem Engagement. Nach drei Stunden der Ausführungen sagen einem die Volksvertreter: „Sie haben völlig recht, ich bin auch der Meinung...“ und geben das Gegenteil von dem wieder von sich, was man gerade gesagt hat. Man ist total desillusioniert vom Führer und vom Volk. Folglich bleibt dann nur noch die eigene Gruppe der Intellektuellen und der Künstler, und da habe ich immer eine gewisse Wirkungsmöglichkeit sehen wollen. Unter Kollegen kann man versuchen, Dinge klar zu machen, obwohl ich auch da extremes Scheitern erlebt habe. Also Führer nicht, Volk nicht und die Genossen zumeist auch nicht, vor allem, wenn man kein Parteigänger ist. Solo dei gloria gilt auch nicht mehr, nachdem ich nach der Kairoer Konferenz aus der Kirche ausgetreten bin.
Hering: Was ist denn das Motiv, das noch bleibt?
Es gibt noch ein grundlegendes Motiv, und das habe ich von Beuys gelernt.
Der hat mir gesagt: „
Du mußt kapieren, daß es eine sensationelle Gnade ist, daß dir jemand zuhört.“ Ich konfrontiere mich also mit anderen Leuten und versuche, möglichst viel aus dieser Konfrontation an Selbstfesselungsstrategien herauszuziehen. Das heißt, ich bemühe mich, meine Impulse zu zügeln, um nicht doch noch Terrorist zu werden und Bomben zu schmeißen. Das gegenseitige Verstehen ist nicht möglich, man muß froh sein, sich verständigen zu können.
Hering: Aus deiner gesamten Entwicklung ist das Mißtrauen gegen Ideale ablesbar?
Für mich war immer nur das Eingeständnis der Ohnmacht glaubhaft. Ich kann mich nur auf Leute verlassen, die wie ich der Unterstützung bedürftig sind. Wer in irgendeiner Weise Macht hat, verspürt in keiner Weise das Bedürfnis, sich sozial zu verhalten.
Und wer vom Faschismus, von der Inhumanität der anderen redet, ist für mich von vornherein unglaubwürdig. Da braucht man gar nicht hinzuhören, das ist nichts anderes als Exkulpation. Wer da nicht von sich selbst spricht, ist gar nicht ernstzunehmen.
Erfahrungen sind nur wertvoll, wenn sie aus dem Gefühl der Ohnmacht herrühren. Solidarität und Gemeinschaftsgefühl kennen keine Machthaber.
Lützenkirchen: Für Extremsituationen wie Krieg und Flucht läßt sich das nachvollziehen. Aber wie sieht die Sache denn aus, wenn wieder die Normalität eintritt?
Das ist ja gerade der Haken, daß eine Gesellschaft wie die unsere das Gefühl der Normalität gar nicht mehr kennt. Deshalb kommt es ja auch zu solchen Auswüchsen etwa auf dem Theater. Für die Kulturheroen unserer Tage, wie dem Leiter der Berliner Volksbühne, Frank Castorf, ist die Normalität zu langweilig geworden. Aber für Leute, die Mangel kennen, ist die Normalität das Höchste. Als ich von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in der Schweiz den Ehrendoktor verliehen bekam, habe ich zur allgemeinen Verwunderung eine Laudatio auf die Fähigkeit der Schweizer, in der Normalität verharren zu können, gehalten. Denn
für mich ist das ereignislose Dasein das eigentlich Erstrebenswerte. Meine Heiligung der Filzpantoffel bedeutet nicht „nichts tun“, sondern „nicht tun“. Es handelt sich um eine Ästhetik der Unterlassung.
Hering: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Kultur?
Der Mensch muß zivilisiert werden gegen die Anmaßungen der Kulturen.
Jede Kultur ist bellizistisch, sie arbeitet notwendig mit Grenzziehungen, mit Ausgrenzungen. Das führt zu einem fortgesetzten Morden und Schlachten. Deshalb auch mein Kampf gegen das Modell der multikulturellen Gesellschaften, das auf der Vorstellung beruht, jedes Volk, jede Gruppe hätte das spezielle kulturelle Erbe zu wahren, seine Kuchenrezepte, seine Strickmuster. Dagegen hat die Aufklärung das Zivilisationsmodell gesetzt, das durch seine Errungenschaften zusammenführt und verbindet, anstatt die Kulturen aufeinanderzuhetzen.
Lützenkirchen: Ist diese Ablehnung der multikulturellen Gesellschaften nicht ein sehr konservativer Standpunkt?
Die Rechten und die Linken argumentieren doch in diesem Fall völlig übereinstimmend! Beide gehen von dem Jedem das Seine aus. Nur die einen wollen die Kulturen in ihre nationalen Grenzen verweisen, die anderen wollen sie gemeinsam in unserer Nachbarschaft ansiedeln. Erstere erzeugen damit internationale Auseinandersetzungen, letztere innere Konflikte von erheblichem Ausmaß.
Lützenkirchen: Hinter dem Modell der multikulturellen Gesellschaften steht aber doch auch der Gedanke der Toleranz?
Haben Sie schon mal eine Kultur kennengelernt, in welcher der Begriff der Toleranz vorkommt? Da werden Sie vergeblich suchen in den 5000 Jahren Menschheitsgeschichte.
Toleranz ist ein Produkt des Zivilisationsdenkens! Kultur und Zivilisation sind in der europäischen Geschichte immer antagonistisch angetreten: königlich/kaiserlich, ständisch/imperial, regional/internationalistisch. Alle Kulturen sind regionalistisch, ständisch, auf Führerfiguren, auf Stammeskönige ausgerichtet, während die kaiserlich-imperiale Ebene – wie auch alle internationalistischen Orientierungen – immer zivilisatorisch geprägt waren. Die katholische Kirche war in diesem Zusammenhang zwar auch eine universale Instanz, aber immer unter dem Primat christlicher Kulturvorstellungen, insofern abgrenzend und bellizistisch.
Hering: Wie sieht es mit den USA aus? Die Amerikaner haben das Zivilisationskonzept am weitesten vorangetrieben, trotzdem sind sie bellizistisch.
Die USA, die als melting pot in unserem Jahrhundert am überzeugendsten das zivilisatorisch-universalistische Konzept vertreten konnten, sind inzwischen auch zu einem „Multikultiland“ geworden.
Daß man den Amerikanern von europäischer Seite immer Kulturbanausentum vorgeworfen hat, war das höchste Lob, das man ihnen zollen konnte. Sie waren nämlich ausschließlich an zivilisatorischen Fragen interessiert, von der Kaffeemaschine bis zur Menschenrechtsdiskussion, einem der Kernstücke des Zivilisationsgedankens. Seit die USA ihren Kulturauftrag entdeckt haben, die Freiheit verteidigen zu müssen, hat Amerika – ehemals Land der Freiheit – praktisch keine ideelle Bedeutung mehr für den Aufbruch ins 21. Jahrhundert.
Lützenkirchen: In welchem Verhältnis steht die Kunst beziehungsweise der Künstler zur Kultur?
Unter dem Druck der herrschenden Kulturauffassung muß sich der Künstler zu einem Monster stilisieren, um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu finden. Ohne Syphilis oder Rauschgift kein enthusiastisches Publikum. Die harmlose Form davon ist die Bohème: Da reicht es, lange Haare zu haben, öfter mal zu saufen und draußen zu grölen. Die ganze deutsche Freiheitskultur besteht im Prinzip aus Bohèmiens und schlagenden, saufenden Studenten. Die 68er Generation macht da keine Ausnahme: Die sind davon ausgegangen, daß ein neues Outfit und abweichende Verhaltensweisen schon die Legitimation dafür sind, all diesen Spießern Verachtung entgegenzubringen, deren Sehnsucht die Normalität ist.
Hering: Das Anliegen der 68er war es aber doch vor allem, hinter der Normalität die Schuld zu entdecken, die von der Elterngeneration verdrängt wurde.
Das ist nur teilweise richtig.
Die Schuld- und Sühnegemeinschaft, welche die Deutschen in der Nachkriegszeit bildeten, schuf sich durch die Konfrontation mit dem eigenen Scheitern vor allem die Legitimation, sich wirtschaftlich zu erneuern, Geld zu verdienen, Kapital zu bilden, das man ja zur Wiedergutmachung, so die Formel damals, dringend brauchte. Das Wirtschaftswunder wurde zum Inbegriff all der Anstrengungen, die nötig waren, die ungeheuren Berge von Trümmern zu beseitigen. Und die Omnipotenzrhetorik, die sich aus dem wirtschaftlichen Wiederaufbau entfaltete, haben die Linken keineswegs entlarvt, sondern selber benutzt: Da wir so unermeßlich reich sind, können wir doch für alle Welt sorgen und verteilen und unterstützen.
Lützenkirchen: Das sah in der Tat damals so aus.
Die Zukunft ist verfrühstückt und das konnte man damals bereits sehen, wenn man bereit war hinzugucken. Omnipotenzphantasterei, Realitätsverlust und das Abstreifen jeglichen Verantwortungsgefühls kennzeichnete in den 60er und 70er Jahren die Positionen rechts wie links. Man begriff sich als Verteilungsgesellschaft mit vollen Taschen und gedeckten Schecks. Wir Deutschen sind die Größten, wir haben Butterberge und die harte Währung. Nichts dergleichen! Wir haben eine Staatsverschuldung, die politische Entscheidungen der kommenden Generation praktisch unmöglich macht.
Hering: Ist das nur ein deutsches Phänomen?
Es gibt zwei große deutsche, historisch entstandene Begabungen: Das eine ist der deutsche Begriffsrealismus, die Begabung, den Begriff für die Wirklichkeit zu halten, die schon Heinrich Heine als deutschen Hang zum Wolkenkuckucksheim karikiert hat. Das zweite ist die Begabung für kontrafaktische Erzwingungsstrategien, die deutsche Neigung, vor der Wirklichkeit nicht zu kapitulieren.
Wenn Idee und Wirklichkeit nicht miteinander übereinstimmen, verstärkt sich bei den Deutschen der Impuls, an der Idee festzuhalten – jetzt erst recht!! Etwa Goebbels, der gesagt hat: „Wir müssen den Krieg gewinnen, weil wir ihn nicht verlieren dürfen.“ Und auch in diesem Punkt haben die 68er keine Ausnahme gemacht. Anstatt die Wahnhaftigkeit von Ideologien zu kritisieren, haben sie diesen nur eine neue Ideologie entgegengesetzt.
Lützenkirchen: Ist das nicht das Ende aller Utopie?
Keinesfalls. Es kommt darauf an, was für einen Utopiebegriff man hat. Wenn Utopie nur als Bündel kontrafaktischer Wahnhaftigkeiten betrachtet wird, als Hirngespinst, als ausgemaltes Bildchen, dann natürlich. Aber so war Utopie nicht gemeint. Utopie ist die Konsequenz des historischen Denkens. Im 14. Jahrhundert, um Petrarca als einen der ersten Theoretiker zu nennen, bis ins 17. Jahrhundert hinein, bei Bacon und Campanella, heißt utopisch denken, mit der Zukunft zu rechnen. Insofern hieß und heißt Utopie nichts anderes als vergegenwärtigte Zukunft.
Vergangenheiten sind die Zukünfte von ehemals, Gegenwart ist die zukünftige Vergangenheit. Historisch zu denken, führt zu der Einsicht, daß es Zukunft nur als eine vergegenwärtigte gibt. Wenn wir heute unserer Zukunft ansichtig werden, wissen wir, was wir an unserem gegenwärtigen Handeln zu kritisieren haben. Utopie ist Potential der Kritik an behaupteten Wahrheitsansprüchen von Zeitenlenkern und -gestaltern.