Diese Haltung des ironischen Weltzugangs habe ich als „kabarettistische Vernunft“ bezeichnet. Seit 1900 übernimmt der Kabarettist die Rolle desjenigen, der seinen Zeitgenossen vermittelt, was Fortschritt und Rationalität im Angesicht der Gegenwart überhaupt noch bedeuten können und löst damit den Philosophen in seiner Wirksamkeit ab. Er kann das, weil er in höchstem Maße zur Selbstreflexion verpflichtet ist und dadurch alles von ihm Behauptete umgehend auf den Prüfstand stellt, also einer Kritik durch Witz und Übertreibung unterzieht. Das Kernmoment der kabarettistischen Vernunft ist die Polemik, wobei der griechische Begriff polemos nicht „Krieg“ bedeutet, wie immer wieder falsch übersetzt wird, sondern „Meinungsstreit“ als Auseinandersetzung um einer Sache willen. Denn konstruktives Vorankommen kann nur dann gewährleistet sein, wenn sich zwei Positionen zum radikalen Meinungsstreit treffen und ihren jeweiligen Geltungsanspruch behaupten.
Stimmen aus der Gruft oder die Auferstehung der 68er aus dem Geiste der Jetztzeit – Abschnitt in:
Flashes of the Future: Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen
Buch · Erschienen: 2017 · Herausgeber: Beitin, Andreas | Gillen, Eckhart
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Mathias Bergmann
09.06.2019, 00:00
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