Eine Essenz

Zwei deutsche Akademiker kämpften als Offiziere im Ersten Weltkrieg Seite an Seite. Der eine war Jude, der andere nicht, oder, nach Wagners Typologie, der eine war „undeutsch“. Der Undeutsche zog den Deutschen bei einem Granatenangriff aus der Gefahrenzone, schleppte ihn zum Verbandsplatz und rettete ihm damit das Leben, ohne daß er erfahren hätte, wie und mit welchen Folgen der Kamerad verwundet worden war. Nach 1939 begegnen sich die beiden wieder, der deutsche Offizier als Lagerleiter eines KZs und der undeutsche Offizier als KZ-Insasse. Die Situation ist für beide hochnotpeinlich. Der Lagerleiter bietet an: „Wenn du mir sagen kannst, welches meiner Augen falsch ist, lasse ich dich laufen. Denn ich habe damals in der Schlacht ein Auge verloren. Die besten jüdischen Augenärzte Berlins habe ich aufgesucht. Sie haben tadellose Arbeit geleistet. Bisher hat kein Mensch feststellen können, daß ich überhaupt ein Glasauge trage. Nun frage ich dich: Welches ist das falsche – und wenn du das richtige Auge errätst, lasse ich dich laufen!“ Der Angesprochene reagiert nach einem langen Blick in die Augen des Gegenübers: „Das linke Auge, Herr Kommandant.“ Der ist perplex: „Es ist tatsächlich das linke, – aber wie bist du darauf gekommen?“ Der Jude antwortet bescheiden: „Es war ganz einfach, Herr Kommandant, das linke Auge blickt so gütig.“
Quelle

Kunst als Evidenzkritik – Erkenntnisstiftung durch wahre Falschheit – Abschnitt in:

Lustmarsch durchs Theoriegelände

Lustmarsch durchs Theoriegelände

Buch · Erschienen: 10.10.2008 · Autor: Brock, Bazon

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