Die große Hamburger Linie

Action Teaching mit Lehrkonzept von Bazon Brock und gemeinsame Aktion von Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser, realisiert in der Klasse Hundertwasser an der Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld, 1959

Plakat zur Hamburger Linie von Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser mit angehängtem Textleporello, 1959, Bild: Foto © Barbara von Woellwarth.
Plakat zur Hamburger Linie von Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser mit angehängtem Textleporello, 1959, Bild: Foto © Barbara von Woellwarth.
Bazon Brock während der Ziehung der Linie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1959, Bild: © Hundertwasser Archiv Wien / Photo-Graphik-Witting, Hamburg.
Bazon Brock während der Ziehung der Linie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1959, Bild: © Hundertwasser Archiv Wien / Photo-Graphik-Witting, Hamburg.

Die große Hamburger Linie war ein beispielhaftes Nichtwerk:

Während unserer Exerzitien in der Klasse 213 wollte ich mit Lesungen, Projektionen, Schreibtafeldemonstrationen und chorischen Wiederholungen bei den Studierenden nachhaltige Unterweisung erreichen. Zentrale Bedeutungsfelder bildeten die Linien des Lebens, der Faden der Parzen, die Spur in der Wüste, das von Stacheldraht umzäunte Lager, die Windwellenmuster am Strand, die Ackerfurchen, die Notenschriften, die Zebrastreifen, die Sträflingskleiderstreifen, die Linienkombinationen als kinästhetische Gestalten, auf den Strich gehen, eine Verbindung schaffen mit Verkehrslinien, Vermessungslinien wie die um den Globus verlaufenden Längen- und Breitengrade. Ich las entweder entsprechende Passagen aus dem „Handbuch des Aberglaubens“ vor, das ich aus der Staatsbibliothek am Dammtor neben dem Gebäude der alten Universität entliehen hatte, oder aus dem Alten Testament, aus der Apokalypse des Johannes oder aus den Schriften der Herren Noack, Paetzold und Trunz, deren Vortragskunst im Hörsaal mir noch im Kopfe nachklang.

Geplant war, vom 18. Dezember bis zur Weihnachtsnacht in der Hundertwasserklasse der Hochschule kontinuierlich gemeinsam zu arbeiten – Tage und Nächte ohne Unterbrechung, wie das etwa im industriellen Umfeld für die Betreuung von Hochöfen erforderlich ist. Jahrhundertelang hatten Menschen gelernt, etwa als Schiffsbesatzung, als Klostergemeinschaft oder als Kampftruppe, sich über größere Zeiträume hinweg einer gemeinsamen Aufgabe zu widmen. Diese Fähigkeit und Bereitschaft schien den auf den 8-Stunden-Tag getrimmten Zeitgenossen abhanden gekommen zu sein. Wir wollten uns daraufhin prüfen, ob wir den Anforderungen einer Klausur in Bunkern oder Lagern gewachsen wären.

Alles verlief nach Plan, ja weit darüber hinaus. Junge Leute beteiligten sich, die wir zuvor nicht gesehen hatten. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war geweckt durch etwas boulevardeske Berichte in den Zeitungen. Wir legten großen Wert auf die Erinnerung an das Motiv: „Während die Bürger schlafen, brennt im Kreml, in der Reichskanzlei, im Vatikan jeweils noch Licht, das die unermüdliche Fürsorge der Führer anzeigt.“
Gerade durch die Aufmerksamkeit der Hamburger Zeitungen und ihrer Leser fürchtete Direktor von Oppen, zumal er nicht vor Ort weilte, die Skandalisierung seiner Anstalt und verlangte deshalb, die Aktion nach zwei Tagen und zwei Nächten abzubrechen, damit die Hausordnung seines Instituts wieder durchgesetzt werde. So geschah es.

In der von Bazon verfassten Programmankündigung (Din A1 mit angehängtem Textleporello von gut einem Meter Länge) war die Fortführung der Linienziehung außerhalb der Hochschule vorgesehen: durch die Grünanlagen, Straßen und über die Alster hinweg… Diesen Teil der Aktion galt es jetzt der Phantasie der Bürger zu überlassen: die Stadt als Kollektivkörper, durchzogen von einer täglich anwachsenden Zahl roter Äderchen, den Bewegungsspuren der Bewohner, das Notat ihrer Lebensläufe, ein Beziehungsdiagramm in nicht mehr durchschaubarer Größe.

Aus: Theoreme. Köln 2017. S. 76 ff.

Text von Plakat und Leporello abgedruckt in: „Die endlose Linie – theoretisches Objekt“, in: ÄAV, S. 979 ff.

Action Teaching & Reenactments

  • Die endlose Linie

    Die große Hamburger Linie

    Theoretisches Objekt · Termin: 18.12.1959, 15:11 Uhr · Veranstaltungsort: Hamburg, Deutschland · Veranstalter: Staatliche Hochschule für Bildende Künste

  • Aktion

    Die Linie des Lebens

    Aktion · Termin: 17.10.2012, 15:11 Uhr · Veranstaltungsort: Bremen, Deutschland · Veranstalter: Kunsthalle Bremen · Veranstaltungsort: Kunsthalle Bremen, Am Wall 207, 28195 Bremen

  • Action Teaching

    Reenactment der Hamburger Linie (1959)

    Action Teaching · Termin: 18.02.2020, 12:00 Uhr · Veranstaltungsort: Wien, Österreich · Veranstalter: Leopold Museum · Veranstaltungsort: Leopold Museum, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Österreich

  • Action Teaching

    Être artiste par oublier de l’être. Un bond en avant vers une esthétique de l’omission !

    Action Teaching · Termin: 31.01.2022, 09:00 Uhr · Veranstaltungsort: Metz, Frankreich · Veranstalter: Centre Pompidou-Metz · Veranstaltungsort: Centre Pompidou-Metz, Galerie 3 / 1, parvis des Droits-de-l’Homme / CS 90490 / 57020 Metz Cedex 1

Texte zur Linie