Magazin Meinwärts

150 Jahre Else Lasker-Schüler

Meinwärts. 150 Jahre Else Lasker-Schüler, Bild: Wuppertal 2018..
Meinwärts. 150 Jahre Else Lasker-Schüler, Bild: Wuppertal 2018..

Erschienen
01.01.2017

Herausgeber
Hajo Jahn | Else Lasker-Schüler-Gesellschaft e.V., Wuppertal

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

ISBN
978-3-9812657-9-8

Umfang
68 S.

Einband
Broschiert

Seite 12 im Original

Vom Sturm zum Stürmer

Poesie des Lebens und Wahrheit des geschichtlichen Versagens

Dem Autor ist schwer vorstellbar, dass nicht schon mancher den nachfolgenden Verweis angebracht hätte. Stimmt’s? Denn es ist ebenso schwer vorstellbar, dass Else Schüler nicht schon während ihrer Kindheit und Jugend diverse Male Grimms Märchen von der klugen Else vorgesetzt worden wäre – erzieherisch mahnend und Widerstand herausfordernd. Der Grimm’sche Volksmund bietet ja eine ganz besondere, heute höchst zeitgemäße Variante der Kennzeichnung des Prometheischen und des Prophetischen.

Die Klugheit der Else besteht darin, besonders sensibel auf mögliche Gefahren in der Zukunft aufmerksam zu machen, also etwas Bedrohliches vorauszusehen, ohne ihm dadurch entgehen zu wollen. Ihre Schlussfolgerung ist fatal; sie hört auf, weiterhin lebendig zu agieren. Ihre Darstellung des möglichen Übels ist so suggestiv, dass sich die Mitmenschen ihr anschließen in der Vermeidung jeglichen weiteren, risikominimierenden Handelns. Stattdessen endet das Leben derer, die die gleiche Erwartung von Übeln zusammenhält, im gemeinsamen Weinen und Klagen. Damit entfremden sie sich vom Leben so weit, dass sie sich selbst nicht mehr als Menschen erkennen können.

Und in der Tat hat die kluge Lasker-Schüler auch zwiefach auf die Märchenweisheit reagiert. Zum einen durch quirlige Aktionsbereitschaft mit großer Vorstellungskraft und freudiger Erwartung der poetischen Expression ihrer Liebe zu den Dichtern; zum anderen durch Voraussicht von Schrecken der Zeitläufte, zum Beispiel in ihrem Faust-Drama, dessen Prophetien ihr Leben in den 30er und 40er Jahren in Palästina niederdrückten, ja zur Qual werden ließen.

Natürlich lieben alle die Musen, aber die Musen des Müssens gehen vielen auf die Nerven, ja auf den Geist. Kafka reagierte sogar recht ungehalten auf die Vitalitätsdynamik der Dichterin, weil er darin bereits den Keim der Ohnmacht vor der Unheilsgeschichte vermutete. Elses glühendster Protektor Karl Kraus dagegen entdeckte in seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ im Wiener Nörgler die saturierte Selbstgewissheit derer, die das Kommende zwar „sehen“, es aber gerade in seiner Zwangsläufigkeit akzeptieren, wie man die Wahrheit hinnehmen, ja begrüßen muss. Thomas Mann hat in den „diskursiven Herrenabenden bei Sixtus Kritwis“ („Doktor Faustus“) beide Positionen zur Einheit gebracht im topos der sich selbst erfüllenden Prophetie; dafür ein heute geläufiges Beispiel: Eine vorhergesagte Benzinknappheit tritt tatsächlich ein, wenn alle Autofahrer vorsorglich ihre Tanks und Reservekanister füllen. Gottfried Benn, geliebteste aller Else-Lieben, hat zur Selbstrechtfertigung seines Verbleibens im Deutschland der Nazizeit das „Dilemma der Geschichte“ im Gespräch mit dem Emigranten Peter de Mendelssohn beschworen und mehrfach variiert mit der Wucht der Weisheit „weißt du was, so schweig“, denn wer das Grauenhafte des Weltlaufs erkennt, darf damit seine Zeitgenossen nicht belasten, weil sie sonst den Lebenswillen verlören.

In der Tat: Auch ich, Bazon Brock, habe mich in die märchenhafte Gespenstigkeit gerettet, wenn es um das Bekenntnis zur Dichterin und Prophetin ging. Else Lasker-Schüler verwandelte sich in der unangemessenen, aber gerade darin zeittypischen Rezeption in ein Zwischenraumgespenst: Wo man sich poetisch entzücken lässt, sehnt man sich nach dem begründeten Urteil der philosophischen Arbeit. Aber gegen die stur positivistische oder leichtfertig dialektische Abhandelei rettet man sich allzu gern in die Poesie. Die Karriere Heideggers ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass seine philosophischen Trockenübungen jederzeit als reine Begriffspoesie gelesen werden können. Zur dominanten literarischen Haltung wurde damit der Essayismus als Einheit von Dichtung und Denkung. Dieser Ausweg war offensichtlich der klugen Zeitgestalt ELS verschlossen. Sie illustrierte die schwergewichtigen Gedanken mit poetischen Sprechakten, die auf dem Papier erstarren.

Generell lässt sich wohl gut begründen, was man als die bleibende Wirkung großer Bewirkender und ihrer Werke beschwört: Es bleibt kaum mehr als ein fünffingeriger Fächer von jederzeit aufklappbaren, sprichwörtlich gewordenen Formulierungen – nur bei Schiller sind es mehr als fünf und Goethes Namen kann man für so gut wie jede Interessantheit nennen. So schnurrt zum Beispiel Kants Leistung zu der Behauptung zusammen, er habe bewiesen, dass tatsächlich gilt, was jedermann immer schon wusste und weiß, nämlich: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Von Brecht weiß man: „Ja; mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“ Und etwa für Musil steht nur noch die Opportunismus rechtfertigende Zeitgestalt des „Mann ohne Eigenschaften“.

Und was erinnert man jederzeit von Else? „Die Wupper“, denn immer noch geht man sprichwörtlich über die Wupper und ist Wuppertal die bundesdeutsche Signatur des jwd und des Let's dance-Platzes der Pina Bausch. Dagegen kommen die Tatsachen nicht an, dass Wuppertal eines der großen deutschen Weltzentren ist, wo die Weltchemie erfunden wurde und das Aspirin; wo Gymnasiallehrer Fuhlrott den Neandertaler in die Evolutionsgeschichte einführte; wo die Weber’sche Vermutung der wirtschaftsfördernden Kraft des Protestantismus in allen Varianten bewiesen wurde von einem Dutzend agilster Glaubensgemeinschaften, die die Städte Elberfeld, Barmen, Cronenberg, Solingen und Remscheid zum Zentrum der ersten industriellen Revolution auf dem Kontinent werden ließen; wo sich der Widerstand gegen die nationalsozialistisch behauchte Kirche formierte; wo Mathematiker wie Carnap erblühten, Dichter wie Paul Zech explodierten und Bankiers wie die von der Heydts für die Künste namengebend wurden; wo schließlich Johannes Rau, Prophet des Ewigmenschlichen in der Sozialdemokratie, seine persönliche Höchstleistung mit der Gründung der Bergischen Universität vollbrachte, die ihm das mit Spitzenleistungen in der Mathematik, in der Physik, in großen Werkeditionen, in philosophischer Lebenskunde und Industriedesign dankte (siehe im Netz „Litanei für Wuppertaler“ von Bazon Brock).

Kurz, die erst 1929 durch preußische Verwaltungsmacht erzwungene Einheit „Wuppertal“ hat gegenwärtig als einzige Kommune die Misere durch zwei Schutzengelinnen zu überblenden vermocht, Else Lasker-Schüler und Pina Bausch. So viel ich weiß, hat ELS als Erste in den Schulterblättern der Frauen den Verweis auf die menschliche Doppelnatur als sich erhebenden wie fallenden Engel gefunden, ganz so, wie Goethe einst den Zwischenkieferknochen entdeckte.

Also: Else Lasker-Schüler, eine gespenstische Erscheinung wie alle mythischen Figuren. Redensartig zwischen femme fatale und der heiligen Mutter Teresa, schön und zerbrechlich wie Jugendstil- und Werkbund-Mannequins in einem, vital und unersättlich, ausdrucksberauscht wie ihre expressionistischen Dichtermänner, machtvoll und penetrant wie die Sturmgesellen Herwarth Waldens und William Wauers im Berlin der Vorkriegszeit. Ersterem, den sie als Lewin heiratete, gab sie den geistesaktivistischen Namen Walden (nach Thoreau, Emerson und Whitman genannte Figur des zeitgenössischen Alternativisten- und Aussteigerparadieses), dessen Leben in den Wäldern von Else als zeitgemäßes Leben im Großstadtdschungel verstanden wurde. Herwarth Walden und sein Programmatiker Wauer versammelten in Verlag, Galerie und Programm „Der Sturm“ vor allem Literaten, Maler, Architekten und Politaktivisten, die vom Walden-Konkurrenten Franz Pfemfert in einer Jahrhundertanthologie der expressionistischen Dichtung gewichtet wurden.

Es ist nicht nur ein Treppenwitz der Geschichte, sondern ein Aspekt der historischen Wahrheit, dass die Kunstprogrammatik des „Sturm“ mit der Machtergreifung der „Stürmer“ liquidiert wurde. In vielen Hinsichten überschnitten und überschneiden sich ja linksradikale und rechtsextreme Positionen in auffälliger Weise; der einzige, aber gravierende Unterschied dieser Weltrettungsprogrammatiken liegt im Verhältnis von Mittel und Zweck. Für die einen rechtfertigen nur die Mittel den Zweck, für die anderen lassen die großen Zwecke jedes Mittel recht sein. Nicht viele Namen von Frauen sind überliefert, die sich nicht dem Pathos der hohen Ziele ergaben, sondern unnachgiebig die Mittel werteten, mit denen vornehmlich ihre männlichen Kollegen den Fortschritt zu befördern vorgaben. Dazu gehört auch die Frage nach den dichterischen und denkerischen Mitteln, mit denen Männer wie Frauen sich aufs Werkeschaffen konzentrieren, die einerseits unmittelbar sozialpolitisch und sozialpsychologisch, also tagespolitisch wirksam werden sollen, andererseits vorrangig ästhetischen und moralischen Rigiditäten des Werkeschaffens gerecht werden sollten.

Elses Faust-Drama als zeitgemäße Variante zum Nationalepos der deutschen Humanisten darf man getrost als Zeichen dafür lesen, dass die in Tel Aviv und Jerusalem zur Nazizeit geführten und von Schocken und Scholem dominierten Diskussionen keine neuen Hoffnungen zu Tage brachten, Hoffnungen auf die Wirkung von Philosophie und Literatur auf den Weltlauf. Im Gegenteil, Professor Leibowitz, Gründerfigur der israelischen Wissenschaftsinstitutionen, späterer Staatsfeind Israels Nr. 1, schien darauf abzuheben, dass National- wie Universalsozialisten, Linke wie Rechte, Juden wie ihre Feinde, gute wie schlechte Künstler den Resultaten geschichtlicher Prozesse mal in die eine, mal in die andere Richtung folgen wollten und dass es totalitäre inhumane Tendenzen auf allen Seiten gibt. Den einzig wirklichen Trost, so schwach er, aufs Ganze gesehen, sein mag, bieten die wenigen und dennoch so überzeugenden Gerechten, die den Weltlauf nicht leugnen oder ideologisch drapieren, sondern sich unbeirrbar an das halten, was ihnen Vernunft und Gewissen als Gerechtsamkeit gebieten. Der Wille zur Gerechtigkeit zählt am Ende in geschichtlicher Sicht mehr als alle Poesie und essayistische Interessantheit. Leidenswilligkeit und Leidensfähigkeit gewinnt man aber nur in der Arbeit am Begriff und dessen poetischer Transzendierung. Erst das dichterische Werk und der Wille zur Geistesgegenwart in der Begriffsbildung lassen evident werden, was jeweils als recht und billig verpflichtend wird. Wer das nicht weiß, dichtet und denkt zum Privatvergnügen. „Aber, wenn wir gelitten haben, war es dann gut?“, fragte Benn seine in morgenländischer Exotik glänzende geliebte Kollegin Lasker-Schüler. Ihr Werk gibt als Ganzes die Antwort: „Ja!“ Bis heute tun wir uns schwer mit dieser Antwort und folgen mehrheitlich Benn, der die aus der formfordernden Gewalt des Nichts geschaffenen Werke der Literatur über alle Autorität des Leiden setzt. Tatsächlich sprengt Leiden alle Formen der Erinnerung, der Programmatik. Gemütskalte, „hinterlassungsfähige“ Form gegen Formen sprengende Gewalt des Leids – das eben ist das Dilemma der Geschichte. Hat Else Lasker-Schüler dieses Dilemma heroisch ausgehalten oder wurde sie zu dessen Opfer?

siehe auch: