Magazin Der SPIEGEL 45/1999

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Der SPIEGEL, 45/1999

Erschienen
08.11.1999

Verlag
Axel Springer

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
45/1999

Damnatio oder Apotropeion?

Diese Dynamisierung der Geschichte als eines Fluchtorts steht freilich in Konkurrenz zu dem apotropäischen Gebrauch der Graffiti-Zeichen. Das Apotropeion ist ursprünglich das Feldzeichen mit den eroberten heraldischen Zeichen der Gegner, die im Tympanon eines Tempels angebracht oder eingemeißelt werden. Wir verwenden den Ausdruck im Sinn einer magischen Abwehr. Sie betreiben solchen Zeichengebrauch, wenn Sie bei unsicherem Wetter mit einem Regenschirm aus dem Haus gehen, weil Sie hoffen, daß es dann gewiß nicht regnet: der Regenschirm funktioniert als Apotropeion gegen den Regen.

Es ist häufig gefragt worden, ob sich die Sprayer in aller Radikalität der egalisierenden Damnatio, der Inthronisierung der Wahrheit gegenüber den angemaßten Individualitäten von Unternehmern und Firmen wirklich ihrer Handlungen bewußt sind – oder ob sie nicht vielmehr das Zeichen ausschließlich apotropäisch im Sinne eines Abwehrzaubers benutzen. Das könnte schon zutreffen, allerdings nicht in dem naiven Sinn wie der geschilderte Regenschirmgebrauch. Der Gebrauch eines Apotropeions birgt natürlich wie jede Form von magisch-animistischem Denken ein ungeheures Risiko. Es zieht geradezu die abzuwehrenden selbstzerstörerischen Kräfte wie Angst und Furcht auf sich selbst.

Die Geschichte der Tätowierung in den unterschiedlichsten Kulturen bietet für die animistische Abwehr durch Zeichen die besten Beispiele. Hier – wie überhaupt in der gesamten Tradition des ornamentalen Gestaltens – wird der Aspekt der Damnatio ganz offensichtlich. Geht man nicht nur von den Seemannsweibchen auf der Brust aus, sondern von den ernstzunehmenden Mustern der Tätowierungsgraffiti, dann läßt sich zeigen, daß sie eine Camouflage vor der Autodestruktion sind: Es geht darum, vor sich selbst unsichtbar zu werden. Die Tätowierung ist wie ein Tarnnetz, das man sich über den Körper streift. Man verwandelt den Arm in den Zweig des Lorbeerbaumes, sich selber in die florale Ornamentik, in die Topographie der Wüste, des Gebirges etc. Hier finden wir eine sehr eindeutige Form der Anonymisierung, des Unsichtbarwerdens, des Auslöschens eines Individualisierungsanspruchs, den der normale Alltagsmensch nicht erfüllen kann und gegen den er um so radikaler vorgeht, als wenige andere ostentativ bekunden, Individualisierung erreicht zu haben.