Magazin Format 16/1968

Erschienen
16.04.1968

Issue
16. April 1968

Beispiele für offene Zeichensysteme - Zum Prinzip der nichtidentischen Übertragung

Arndt warnt vor Schilderwald

Vor einer weiteren "Aufforstung des Schilderwaldes" auf den Straßen hat am Montag der hessische Verkehrsminister Rudi Arndt gewarnt. Zur Eröffnung eines Studienkurses für die Verkehrssachbearbeiter aller hessischen Landkreise und kreisfreien Städte in Falkenstein im Taunus betonte Arndt, die Kraftfahrer würden immer häufiger durch die Vielzahl der Verkehrsschilder psychologisch überfordert. Ein Übermaß an Verkehrsschildern beeinträchtige die Sicherheit des Straßenverkehrs. Kaum eine Straßenführung sei heute so einwandfrei beschildert, daß sich der Kraftfahrer mühelos zurechtfinde. Die größten Mängel bestünden innerhalb der großen Städte. (Frankfurter Rundschau)

Die allgemeine Arbeit an Zeichen und Zeichensystemen hat heute meiner Ansicht nach folgende Tendenzen:

  1. Vereinheitlichung der Zeichenträger im Sinne einer Normierung.
  2. Vereinheitlichung der Zeichen im Sinne einer größer werdenden Redundanz, was zugleich heißt, daß die Zahl der Systeme zunimmt.
  3. Vereinheitlichung der Zeichensysteme durch die zentralisierte Systemkonstruktion, wobei Zentralisation zum Beispiel auch durch gestalterische Übereinstimmung als Vorherrschaft eines Geschmacks denkbar ist.

Ich bezweifle, ob dieses Vorgehen ausreicht, die anstehenden Probleme der Funktionserweiterung zu bewältigen. In diesen Tendenzen kommt die Notwendigkeit zum Ausdruck, Systeme als solche einer möglichst totalen Geltung zu beschreiben. Die einzelnen Systeme haben prinzipiell nur eine Bestimmung: sich selbst zu erhalten.

Die einzelnen Systeme unterscheiden sich zwar untereinander, insofern sie eben einzelne sind: aber sie sind alle als Systeme gekennzeichnet. Und das heißt, sie müssen in Richtung auf die Masse der Prozesse expandieren, die sich quasi noch in natura ereignen, die also noch nicht von der gesellschaftlichen Arbeit erfaßt sind und durch sie ersetzt wurden.

Die Zahl der Zeichensysteme nimmt zu, weil sich die einzelnen Systemmomente immer weitergehend gleichen müssen, um noch funktionell zu sein, und deshalb mehr Gesamtsysteme benötigt werden (die untereinander durch jeweils das gleiche Maß an Redundanz gekennzeichnet sind) und weil immer mehr Anwendungsbereiche zur Abbildung und Simulierung von Prozessen auftreten. Deshalb, weil immer mehr Prozesse mittels neuer Aneignungstechniken der Gesellschaft aus der natürlichen Irreversibilität herausgenommen werden.

Diese Aneignungstechniken haben Voraussetzungen. Eine von ihnen ist die, daß sich die Prozesse der Aneignung von Natur durch gesellschaftliche Arbeit als Formen der qualitativen Umwandlung verstehen lassen. Dazu aber ist notwendig, daß sich die Formen der produzierten Resultate dieses Umwandlungsprozesses von denen der Ausgangsbasis erheblich unterscheiden.

Viele Menschen leiden unter Vorstellungen von einer allmählich vollgestellten und verbauten Welt, weil sie annehmen, die Arbeitsprozesse führten zu Formen von zweiter Natur, die von denen der ersten nur unerheblich abweichen. Die Natur wächst ihnen da bildlich übern Kopf; allerdings die menschliche Natur. Diese Menschen scheinen nie die Stoffwechselprozesse ihres Körpers objektiviert zu haben, denn dann müßten sie doch verstehen, daß alle anderen Prozesse des Wechsels ähnlich verlaufen. Hinter dieser Furcht vor dem Neuen und qualitativ Anderen steckt eine Täuschung über das, was die Sache selbst ist.

Gesellschaftliche Stoffwechselprozesse mit der Natur und die der Menschen untereinander sind auf Abbildbarkeit und auf Simulierung angewiesen, auf Wiederholbarkeit und die Möglichkeit, sie rückgängig zu machen. Diese Probleme sind nur durch Übertragung in ein Drittes zu bewältigen, durch sogenannte "identische" Übertragung. Das heißt, der Vorgang der Übertragung des Problems auf dem Wege seiner Lösung soll schon ein Teil der Lösung sein. So wie manchmal die Mathematisierung eines Problems schon ein Teil seiner Lösung ist oder wie auch die Lösung des Verkehrsproblems nur durch Übertragung in ein Zeichensystem lösbar wird, weil durch diese Übertragungen bestimmte Bedingungen des Problems erkennbar werden: zum Beispiel die nicht ausreichende Normativierung.

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich die Prozesse der Umwandlung erster in zweite Natur und die der weitergehenden Umwandlung naturunabhängiger, bedingungsloser Produktionen vornehmlich in Systemen von Zeichen abbilden. Zeichensysteme sind Verkürzungen des Bezugsrahmens für reale Umwandlungsprozesse. Wobei ziemlich deutlich unterschieden werden kann zwischen Zeichen und Bezeichnetem.
Jedoch: entscheidend würden die Zeichensysteme erst dann werden, wenn sie selber Momente der realen Transformation wären; wenn also die Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem unmöglich würde und wenn sich der Prozeß der Umwandlung auch in der Veränderung des Zeichens ausdrücken würde, also in nichtidentischer Übertragung.

- Am Beispiel der Verkehrszeichen: Das Bestimmungsmoment ist hier das Qualitativwerden der Entfernung, die im Verkehr zurückgelegt wird. Zwischen zwei statischen Zuständen ist Bewegung notwendig, um sie miteinander zu vermitteln, sie miteinander in Verbindung zu bringen. Der Grad der Vermittlung nimmt zu, je weiter die Punkte auseinanderliegen. Das Moment der Vermittlung liegt in der Kennzeichnung des Vollzugs des Prozesses. Der wird aber im Verkehr heute an den Verkehrszeichen gemessen. Ihre Bedeutung wird also umso größer, je weiter man reisen will.

Es müßten mehr Zeichen in Abspruch genommen werden; je größer die Zahl der zurückgelegten Kilometer ist, desto wichtiger wird die Kennzeichnung dieser Tatsache auf dem Zeichen. (Es gibt zahlreiche Bilder, auf denen Polarexpeditionen mit Wegzeichen zu sehen sind, auf denen die Entfernungen nach Rio oder Alaska oder Rom oder Kairo angegeben werden.)

Die Problemlage ist identisch übertragen ins Zeichensystem. Ein Moment realer Transformation ist das Verkehrszeichen bei weiten Strecken manchmal, wenn es nicht nur die Bewegung im Vollzug kennzeichnet und ablesbar werden läßt, sondern wenn es auch die Zielausrichtung der Bewegung bestimmt. Dies wird zumeist "modernen" Menschen vorgeworfen: sie betriebon nur "Kilometerraserei", weil sich bei ihnen erst im Vollzug des Bewegungsverlaufs die Bestimmung der Bewegung ergibt; sowohl Ausgangspunkt wie Ziel werden durch die Bewegung aufgehoben. Die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem schwindet oder mit einem Witz: der Wegweiser geht tatsächlich den Weg selber, den er anzeigt. Er zeigt die notwendige Bewegung an, nicht das willkürliche Ziel.

Die Transformation im Bewegungsprozeß soll nicht nur zwei statischen Zuständen gelten, sondern der Art der Zustände. Da das nicht von außen, fremd, geschehen kann – unter Zufuhr von Bestimmtheitsformen, wie es Befehle etwa sind –, muß durch nichtidentische Übertragung innerhalb des Systems das nötige Maß an Bewegungsmotivation gewonnen werden. Systeme, die sich durch nichtidentische Übertragung erweitern, nenne ich "offene Systeme".

siehe auch: