Magazin FILM 12/1965

Eine deutsche Filmzeitschrift

Film 12/65
Film 12/65

Erschienen
01.12.1965

Verlag
Erhard Friedrich

Erscheinungsort
Velber bei Hannover

Issue
12/1965

Seite 47 im Original

Zum neunten Male: Bazon Brock:

Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt

Der künstlerische Avantgardist als gesellschaftlicher Reaktionär [Teil 1]

Oriane Fallaci sagte: „Mrs. Mansfield, geben Sie zu, daß Sie einen akademischen Grad haben?“ Mrs. Mansfield ist bestürzt, ratlos, den Tränen nahe. „Oh, no, sagen Sie das niemand, schreiben Sie das nicht!“
Ihr Mann, Mike Mansfield-Hagarty, kommt hinzu. „Jane, mein Gott, was ist los, was haben sie Dir getan?“
„Sie hat gesagt, ich sei eine intellektuelle Frau, wird das schreiben und mir schaden, sie wird meine Karriere ruinieren. Man wird mich nicht mehr lieben!“

Junge Menschen kamen, um ihrem zufälligen Leben die Weihe der Philosophie zu geben. Sie Wollten es vertiefen. Sie boten sich den Philosophen an, aufs Wort zu gehorchen. Als sie aber hörten, wie Bloch und Ardorno konzentriert über die Operette plauderten und über das zufällige Leben, als die so Allotria zu treiben schienen, verloren die jungen Menschen das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Philosophie als Siegel der Bedeutsamkeit dessen, was sie sich als Leben vorgenommen hatten. Sie wünschten sich ein nichtaffiziertes reines Bewußtsein, den Zuspruch von Nichtbetroffenen, die sie nötigen wollten, ihre Identität durchzuhalten.

Die in diesen beiden Beispielen erhellte Furcht, seine Identität nicht durchhalten zu können, quasi sein Markenzeichen zu verlieren, scheint einem kulturkritischen Theorem vom Untergang des Individuums beispringen zu wollen. Es hieße aber, dieses Theorem unkritisch zu benutzen, wollte man das in ihm Ausgesagte nur beklagen und nicht auch aus ihm verstehen, wie notwendig es ist die objektive Unwahrheit von Subjektivität in einer entfalteten Industriegesellschaft anzunehmen. Und das nicht, um den Rückzug des Jahrhunderts auf das bürgerlich autonome Subjekt rückgängig zu machen, sondern um gerade diesen Rückzug ausnutzen zu können. Denn nichts scheint heute solcher Subjektivität schwerer, als in ihrer angenommenen Wahrheit sich dem objektiven Schein verlorenen Lebens, des bürgerlichen, auszusetzen; denn diese Subjektivität spürt, wie sie bei einer solchen Konfrontation ihre Selbstaufhebung riskieren würde. Ist doch ihre Wahrheit nur angenommen, wie man Eigenarten, kennzeichnende Züge annimmt. Zwar gilt das Bekenntnis dieser Wahrheit auch heute noch als Symbol des sozialen Ranges, und die Religion vergesellschaftet diese Wahrheit im Glaubensbekenntnis. Doch das Bekenntnis ist erzwungen. Nun handelt es sich aber bei der bedrohten Identität der autonomen Subjekte nicht um gebildete, erarbeitete Identität des Nichtidentischen, sondern nur um die Identität des ohnehin schon mit sich selbst Identischen. Gerade aber darin, dass Subjektivität trotzig ihre Identität gegen den durchschauten Schein behaupten will, verliert sie sie auf die unglücklichste Weise: ihrer wie durch einen Dieb beraubt worden zu sein. Die Psychoanalyse lehrt, wie aus solchem Behauptungswillen Krankheiten entstehen. Das Fatale ist dann aber nicht die Krankheit des Individuums, sondern die Tatsache, daß sich im Gesellschaftlichen für dessen Reproduktionsprozesse merkwürdig rasch eine Rückimitation des individuellen Krankheitsbildes, d. h. seiner Äußerungsformen einstellt. Das wird für das Individuum zu einem doppelten Unglück, denn das eingesehene Falsche gewinnt normative Kraft, weil das Individuum seinen Fall als den gesellschaftlich notwendigen mißverstehen kann.

Das scheint heute bestimmend zu sein für die Rezeption von ästhetischen Gegenständen: obwohl dem Einzelnen als falsch durchschaubar, gewinnen Kategorien der Ästhetik normative Kraft, weil sie gesellschaftliche zu sein scheinen. Aber leider nur eben die einer Gesellschaft, deren Leben das falsche und neurotische nur mit sich selbst identischer Subjekte ist.

Die durchgehaltene Identität in der Leere der analytischen Urteile, etwa in dem Satz von Gertrude Stein „eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ – solche durchgehaltene Identität zu knacken, die Gleichmacherei dem Ungleichen zu konfrontieren, den kleinen Unterschied hochleben zu lassen – gilt es.

Das gilt den Rezipienten von Kunstwerken, weil deren Produzenten, die Künstler, sich nicht zur Einhaltung ihrer Identität zwingen lassen wollen. Womit sie zugleich versuchen, das Publikum aus seiner unglücklichen Rolle, aus der Fixierung auf das, was ihm vorgesetzt wird, zu befreien. Die Künstler fordern, daß man ihren Gedanken nicht über den Weg traut, daß man sich hütet, den Tatbeständen Glauben zu schenken. Sie fordern auf, nicht dem objektiven Schein nobler Wissenschaftlichkeit und Kunstansprüchen zu verfallen, sondern in sich den Gedanken ans immer Andere, ans Ausgelassene, ans Fremde zu mobilisieren – ja selbst, Ressentiments, private Interessen und Bedenken ins Spiel zu bringen. Denn das Interesse ist dem Erkennen notwendig, soweit das erste und zwingendste Interesse auf die Mündigkeit des Publikums ausgeht und man sich nicht der gegebenen Mündigkeit durch die Flucht in eine mittelalterliche Ontologie begeben will.

Solche Hinweise der Künstler liegen noch vor der zu entfaltenden Problematik von Moralität und Erkenntnis, vor der Ambivalenz von Erkenntnis und Interesse. Diese Hinweise sind ganz funktionell zu verstehen, fast behavioristisch, und wollen nur darauf aufmerksam machen, sich nicht als Objekt anzubieten, auch nicht als formales. Man weiß, daß das Publikum nur zu bereit ist, sich in einem Hörsaal, Theater oder Kino den trainierten Verhaltensweisen zu unterwerfen in der Art, wie es sich auf seinem Sitzplatz für die Dauer einer Veranstaltung festbinden läßt und wie es seinen gestischen Fundus einschränkt auf die Beantwortung von Appellen.

So gehen denn heute vielen künstlerischen Demonstrationen Ermunterungen wie die folgende voraus:
nehmen Sie teil an unserem Gegentraining. Wechseln Sie ihren Sitzplatz häufig. Bleiben Sie eine Weile stehen. Schatten Sie das Aufmerksamkeitszentrum durch Weghören, Rückwärtsschauen und Sichhinlegen ab. Versuchen Sie das, was Ihnen hier geboten wird, zu reproduzieren, indem Sie sich vorstellen, Sie wollten die Demonstration filmen. Im auferlegten Zwang zur Reproduktion von Geschehen, in der Notwendigkeit, dabei im Hinblick auf das filmische Medium ununterbrochen die Einstellungen zu wechseln, den Reproduktionsformen das Äußerste abzuverlangen, um den tödlichen Eindruck von Unmittelbarkeit zu vernichten, – in dieser reproduzierenden Tätigkeit werden Sie vielleicht am ehesten in die Lage versetzt, Ihre Identität nicht einzuhalten. Sie werden Fremdem zu begegnen wissen, ohne ihm zu verfallen. Das schließlich sind Fähigkeiten, die jedermann heute schon abverlangt werden, wenn er auch nur Verkehrsteilnehmer sein will. Sollte es nicht billig sein, solche Fähigkeiten erst recht jedermann abzuverlangen, wenn er an weit differenzierteren Verkehrsformen der Gesellschaft, etwa an denen der Künste teilnehmen will?

Um dem Publikum eine solche Möglichkeit des Gegentrainings zu erläutern, stellt der Künstler ein Foto von sich aufs Podium und begibt sich unters Publikum, um von dort seine Vorlesung fortzusetzen.

Die Geschichte des verfertigten Bildes ist im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vor allem die Geschichte der Rezeption des Bildes. Die Kategorien der Konstituierung eines Bildes als Kunstwerk sind gesellschaftliche und damit eben die der Rezeption. Zwar werden diese Kategorien scheinbar stets von der Position des Künstlers her gefunden, ausformuliert aber werden sie von den Rezipienten, den Betrachtern. Mit der häufig zitierten Entwicklung der Künste vom einzigartigen Anspruch des Künstlers, auf einmalige Weise sich und seinen Ausdruck im Kunstwerk zu identifizieren – bis zum materialgerechten Arbeiten im Sinne eines Fachmannes – mit dieser Entwicklung verlagert sich die Bestimmung des Kunstwerks von seinem Kunstanspruch zur Bestimmung von seiten seiner gesellschaftlichen Vermittlung. Wobei natürlich die Bestimmung des Kunstanspruchs auch in das Kategoriengefüge gesellschaftlicher Vermittlung aufgenommen werden kann. Das dürfte aber schwerfallen in einer Gesellschaft, die in ihrem Bewußtsein nicht dem Stand ihrer Produktivkräfte hinterherhinkt.

Vorläufig darf der Betrachter für sich in Anspruch nehmen, ja, er muß für sich akzeptieren, zur Entfaltung des Werkcharakters eines Bildes zumindest genau so viel beizutragen, wie der Künstler zum Materialcharakter des Bildes beiträgt. Denn die Arbeit, die das gesellschaftliche Subjekt zur Reproduktion seines Lebens zu leisten hat, erstreckt sich auch auf die Künste, da sie nicht länger der notwendigen Reproduktion nur als Entlastungsmotiv dienen wollen oder zu dienen genötigt werden. Die künstlerische Produktion hat sich ganz unabweislich in die Reproduktionsformen des allgemeinen Lebens versenkt.

Es ist kaum mehr möglich, gesellschaftliche Arbeit und die der Künste gegeneinander verstellt zu sehen – es sei denn, in dem dialektischen Verstande, daß alles, was durcheinander vermittelt ist, auch noch die Spur eines vergangenen Kampfes beider Momente bewahrt. Die Spuren dieses früheren Kampfes der Herrschaftsansprüche von Gesellschaft und Künsten bewußt werden zu lassen und als Drohung zu tilgen, ist der mögliche Ansatz theoretischer Arbeit von heute. Denn beließe man es bei der bloßen Verdrängung der Spuren, fiele die Theorie dem Verdrängten anheim und würde ideologisch. Die Spuren der Gewalt als die Zeichen der geschichtlichen Positionen dürfen uns nicht davor zurückhalten, das Unterdrückte selber wieder erscheinen zu lassen. Nach Habermas ist das eine der wichtigsten Bestimmungen historisch kritischer Wissenschaft. Doch soll das Unterdrückte nicht um einer voreiligen Versöhnung willen erscheinen, sondern um dem immer drohenden Rückfall auf frühere kulturelle Stufen vorzubeugen.

Diese Vorbeugungen können auch als Erfahrungen formuliert werden, die die moderne Subjektivität zu machen hat. Sie hat sie vornehmlich im Hinblick auf ihre Interessen zu machen. Ihre Interessen können dabei nicht die pragmatischer Erkenntnis sein, um nur den Boden möglichst sicher zu halten, um nur die Intersubjektivität so abzusichern, daß das Individuum bei sich zu bleiben vermag und im Bestehenden zu beharren. Die Ethik Kants hat zwar postuliert stets so zu handeln, daß die Maxime des Handelns willentlich die eines Gesetzes werden könne, unter das man auch selber fällt. Doch ist dazu die verblödete Privatheit des Individuums nur allzu gern bereit, da es doch nichts von sich aufzugeben braucht und noch dazu die Sicherheit hat, daß alles unter seinen Anspruch gezwungen wird. Solche Subjekte geraten tatsächlich nur vor der Polizei außer sich. Die Schwierigkeiten des Individuums liegen heute nicht mehr darin, bei sich selbst alles aufzufinden und die Affektionen des Ichs zu erkennen, sondern darin, außerhalb seiner die Bestimmungen arbeiten zu wissen. Zugegebenermaßen kann es schwierig sein zu verstehen, daß Bestimmendes seinerseits wiederum bestimmt ist und daß man nicht ohne weiteres die Kette der sich bestimmenden Momente bis zu ihrem Anfang oder Ende zurückgehen kann. Denn es hat sich erwiesen, daß es eine Notwendigkeit gibt, Gedanken nicht bis zu ihrem Ende zu denken.

Film Zeitschrift 12/65 Text S.47
Film Zeitschrift 12/65 Text S.47
Film Zeitschrift 12/65 Text S.48
Film Zeitschrift 12/65 Text S.48

siehe auch: