Der Text hieß ursprünglich ‚Die singende Leiche‘ und entstammt dem Katalog ‚Happening & Fluxus‘ (herausgegeben von Harald SZEEMANN und Hanns SOHM), Kölnischer Kunstverein, 1970. ‚Da er sich argumentativ vor allem auf das Verhältnis von Kunst und Geschichte bezieht, die Form des Hapenings als Zeit-Kunst hierbei nur zum anlaß nimmt, wurde der Artikel diesem Kontext und nicht dem ‚Theaterband‘ (Band IV) zugeordnet. Die Anweisung sah vor, ihn auf den bekannten STEIN’schen Kulturfahrplan aufzukleben.
Kritische Position der Jetztzeitler:
"Dies ist eine Friedhofskultur und die Historiker sind Leichenschänder. Kulturfritzen beschäftigen sich mit dem, was sich nicht mehr wehren kann, was nichts mehr zu sagen hat, vor allem nichts Gegenteiliges. Die Kulturfritzen sollten sich begraben lassen."
Wie denke ich darüber?
Wir sind Verelendete und Vergessene, wenn wir vergessen. Wer sich verpflichtet fühlt, über die Zukunft nachzudenken, sollte zunächst dafür sorgen, eine Vergangenheit zu gewinnen. Gerade weil für die meisten von uns gilt, daß sie eine große Zukunft hinter sich haben.
Wie weit dieses Verfahren trägt, zeigt das Werk VOSTELLs als eine wirklich erstaunliche Konstruktion der Vergangenheit als Zukunft. Vergangenheit kann zur Zukunft werden, wenn sie nicht stattfand.
Wenn beim Essen der Salat zwischen den Zähnen knirscht, erinnert man sich daran, daß er im Garten wächst.
Unter den zahllosen historischen Zeugen der Geschichte von Happening, Fluxus und agit pop sind ebenso zahllose, die von nichts anderem erzählen können, als was sie waren. Sie jetzt sprechen zu hören, erregt Schauder, denn Leichen singen, Türen schlagen flappend, das Käuzchen krächzt.
Werde ich heute als Zeuge der Geschichte von Happening, Fluxus und agit pop mit deren Spuren konfrontiert, wie sie in der Sammlung SOHM aufgehoben sind, entfährt mir - durch willentliche Anstrengung kaum beeinflußbar - immer erneut jenes tröstliche und zukunftsvolle "das kann doch nicht wahr sein". Und es ist nicht wahr, was da als Geschichte des Happening usw. ausgegeben wird. Aber gerade deshalb ist es Geschichte.
Einwände zu Unternehmen wie Happening-Ausstellungen in Köln sind hinfällig, weil erst sie ermöglichen, daß Happening, Fluxus usw. als etwas Gewesenes, und zwar mit Grund Gewesenes, also Historisches verstanden werden können. Je eindeutiger das Gezeigte hinter dem zurückbleibt, was heute vielleicht die Einzelnen denken und tun, desto eher läßt sich, was sie taten, verstehen. Nur wenige haben eine eigene Geschichte, weil sie von Anfang an nicht sie selber waren, sondern jemand, den andere so oder so oder noch anders sehen und verstehen wollten. Wer keine eigene Geschichte hat, weil er nie Gegenstand der Aufmerksamkeit, der Arbeit, der Wünsche und Wutausbrüche anderer war, wird es als hilfreich empfinden, in einer solchen Ausstellung seine eigene Geschichte zu konstruieren, wobei er die Chance hat, anderen nahezutreten, die vermuten, fremde Geschichte sei ihre eigene Geschichte: sagt doch selbst der Volksmund, daß einem nichts auf dieser Welt so sicher ist wie die Erinnerung.
Aber eben die Erinnerung an das, was nicht war, sondern was hätte sein sollen.
In rechten und schlechten Ausstellungen von Kunstwerken in Gestalt von Bildern und Plastiken erfährt man bestenfalls, daß diese Bilder eine Geschichte haben, aber nicht Geschichte sind. Ein Kunstwerk verharrt gerade, wenn es bedeutend ist, auf der Stufe unmittelbarer Gegenwart. Es hat immer und immer noch etwas zu sagen.
Das bedeutende künstlerische Werk ist a-historisch und damit inhuman. Was aber, wie die Relikte von Happening, Fluxus und agit pop, so sehr seine Bedeutung hinter sich läßt oder nur als Gewesenes dokumentiert, ist Geschichte. Gute Vergänglichkeit. Menschenwürdig.
Was als Einzelnes, als in sich Bedeutendes in der Geschichte untergeht, wird zur Geschichte. Nicht umsonst haben Historiker es zumeist nur mit Bruchstücken, Rudimenten, Spuren und Vermutungen zu tun: mit dem Bedeutungslosen, mit dem Vergangenen, das aber, weil es vergangen ist, uns gegenüber seine Gewalt als Geschichte beweisen kann. Nie sah ich etwas Bedeutungsloses und total Allgemeines mit solcher Gewalt sich als Geschichte präsentieren wie die von polnischen Studenten auf dem Gelände von Auschwitz ausgegrabenen Löffel, Haarspangen, Bleistifte, Schuhschnallen, Zigarettenkippen, Tassenhenkel, Stoffetzen und Knöpfe.
Ich möchte nicht behaupten, daß die in der Happening-Ausstellung gezeigten Papierfetzen, Holzstücke, Bindfäden, Drähte schon in gleichem Maße historisch sind wie jene Knöpfe. Wohl aber möchte ich sagen, daß sich auch aus diesem Material erschließen läßt, wie weitgehend die, die es hinterließen, Opfer waren. Und nur Opfer sind historische Charaktere.
Der Unterschied zwischen der Konstruktion in der Vergangenheit und der in der Zukunft liegt darin, daß die eine uns als Opfer, die andere uns als Sieger zeigt. Nur Geschichtchen präsentieren Helden der Vergangenheit. Die Geschichte aber ermöglicht Heroen in der Zukunft. Im Vergangenen erfährt der eigene Wille zur Tätigkeit keine Korrektur. Nur im Vergangenen lassen sich Ziele erreichen. Nur im Vergangenen erscheint ein Sachverhalt mit seiner Konsequenz. Nur im Vergangenen hat, was geschieht, auch Folgen. Die Angst vor der Folgelosigkeit, vor der Sinnlosigkeit, der Vergeblichkeit läßt sich nur bannen, wenn wir an Beispielen, die Wirkung und Sinn belegen, entlang tasten. Die Angst vor der Sinnlosigkeit und Folgelosigkeit läßt sich nur beheben in einer Konstruktion, die Vergangenheit beinhaltet. Künstler, die sich an der Kölner Ausstellung beteiligen, wollen vorsorgen gegenüber ihren begründeten Vermutungen, daß das, was sie jetzt tun, sinnlos und folgenlos bleiben könnte. Wer Neues tut, ist gezwungen, fürs Gewesene zu sorgen.