Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 81 im Original

Band I.Teil 2.5 Science Fiction - Postindustrielle Handlungsräume

Nachwort zu: F. NOLAN (Hrsg.): ‚Die Anderen unter uns. Von Menschen und Pseudomenschen. Eine Science-Fiction-Anthologie‘, Melzer-Verlag, Darmstadt 1965, S. 411-438. Unter dem Titel ‚Androiden und Höhere Menschen‘ auch als Funkmanuskript für den Hessischen Rundfunk 1967. Das Thema des 1. Abschnitts wird u.a. in dem Beitrag ‚Die Reformation der Reformation – Zur Revolution des Ja‘, 1968, weiterentwickelt (in Teil 4, 4 dieses Bandes).

5.1 Geschichte, wie sie nie, wie sie nicht anders, wie sie auch hätte sein können

Die Zeiten für das Gewesene sind schlecht geworden: denn zu lange haben die Mächtigen uns gezwungen, die Einsichten aus dem Gewesenen als Rechtfertigung für das Gegenwärtige anzuerkennen.
Man lernte, um zu wissen, wie es gewesen sei, um zu wissen, wie man es macht. Und zu wissen, wie man es macht, hieß zu wissen, wie man Macht gewinnt (und bestenfalls auch ausübt, ohne dabei selber drauf zu gehen).
Jenseits dessen, was nun einmal so zustande gekommen war als Geschichte, gab es für die Betroffenen nur eine Möglichkeit, sich über das zu verständigen, was hätte anders kommen können und hätte anders sein können: im Märchen.
Das Märchen wird zur Geschichte, wenn wir von den Historikern immer wieder hören: das habe der und der nicht gewollt, er habe das und das gewollt; aber es sei anders gekommen, denn die Geschichte sei eben kein Märchen und die in der Geschichte wirkenden Kräfte seien andere als die des Märchens.
Die Geschichtsschreibung operiert dennoch nach dem Vorbild der Märchenerzähler. Sie will einen Erklärungszusammenhang bieten, der Die Geschichte sein soll, aber doch immer nur Das Märchen wird. Denn nur im Märchen läßt sich die Komplexität der Erscheinungen zur intendierten Geschichte, zur gewollten Verlaufsvorstellung ausbilden. Und das gerade dadurch, daß im Märchen ganz offen die Irrationalität der Zwischenglieder, der Leerstellen zugegeben wird als Zauber, Wunder usw.
Die Säkularisierungsversuche der Historiker, nämlich den Zauber und die Wunder als Fügungsgeschick, als göttlichen Willen, als Heilsgeschichte, als Vorsehung zu verstehen, haben wenig dazu beigetragen, Geschichtsschreibung von der Märchenerzählung zu trennen. Sie zeigen im Gegenteil, wie stark unser Interesse daran ist, das geschichtlich Vergangene in die Form des "es war einmal" verschwinden zu lassen.

  1. es war einmal … meint, es ist so gewesen, wie es nie hat sein können.
  2. es war einmal … meint, es ist so gewesen, also können wir gar nicht anders handeln als im Zwang durch das, was gewesen ist.
  3. es war einmal … meint, es ist zwar so gewesen, aber es hätte auch anders kommen können.

Die Positionen I und III werden entfaltet in der Technik der Märchenerzählung, abgedeckt von den Entlastungsfunktionen der Märchen.

Die Position II zeigt, was man unter den wissenschaftlich entwickelten Techniken der Geschichtsschreibung versteht; was sich als streng tatsachenbezogen ausgibt. Es ist aber verständlich, daß I und III sich doch auch in Position II noch durchsetzen: nämlich im Erklärungsversuch, im Versuch, Sinn zu konstituieren, die Bedeutung des Gewesenen zu beschwören.
Die Komplexität des Geschehens im Märchen ist gerechtfertigt als schließlich sich ergebende Folgerichtigkeit: aus allem, was sich auch noch so Unglaubliches ereignete, entstehen Folgen, die zur Lösung des Geschehenen beitragen, im Sinne der Erwartung des Geschichtenzuhörers. Für 'die Geschichte' ist die Erfüllung unserer Erwartung nicht ohne weiteres gesichert. Also muß die Enttäuschung unserer Erwartung um so mehr durch aufgezeigte Ursachen-Folge-Verhältnisse untermauert werden.
Die Rationalisierung des Geschehenen wird zur Historie. Der Versuch der Erklärung wird zum Sinn der Geschichte. Die Bestätigung der Erwartung im Märchen und die Erklärung der Enttäuschung unserer Erwartung in der Geschichte sind als einander gleiche gebunden an die Zeitrelation: Vergangenheit - Gegenwart, deren Zielrichtung jeweils aus der Gegenwart in die Vergangenheit geht.
Also rückwärts.

Indessen ist uns aber doch deutlich, daß sich die Bewegung der individuellen Leben in umgekehrter Richtung ereignet.
Also vorwärts.
Hinzukommt die Erkenntnis, daß sich die zwangsweisen Folgen aus dem Gewesenen zwar als objektive darstellen lassen für die Zeit, in der damals etwas geschah - aber nicht für die Gegenwart; oder daß sich die zwangsläufigen Folgen aus dem Geschehenen zwar für die Gegenwart objektiv darstellen lassen - aber nicht für das tatsächliche Geschehen zur damaligen Zeit. Mit anderen Worten: von den zwangsläufigen Ursachen-Folge-Verhältnissen bleibt in der Geschichte nur das übrig, was an ihr Märchen ist: Entlastung zu sein gegen den Druck, den die Gegenwart auf uns ausübt.
Das besonders schmerzliche aber daran ist, daß sich nur wenige dazu verstehen können, diese Entlastungsfunktion als den eigentlichen Ausdruck von Herrschaft über uns zurückzuweisen, weil sie uns um das bringt, was Gegenwart ist.
Zumindest waren es bisher nur wenige.
Inzwischen wächst ihre Zahl. Abziehen muß man von ihnen die Zahl derer, die sich vorwiegend mit Ernst BLOCH nur scheinbar in die Umkehrung der Zeitrelation fügen: die nur scheinbar das "es war einmal" mit dem "es wird einmal sein" vertauschen. Sie vertauschen die Blindheit der Verhältnisse des Gewesenen mit der Blindheit der zukünftigen Verhältnisse. Sie vertauschen das Wunder und den Zauber nur mit der Hoffnung. Sie hoffen nur darauf, daß die Märchen wahr werden. Aber die Wahrheit der Märchen ist eben ihre Unwirklichkeit im Gewesenen.

5.2 Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn

Wenn im Märchen ein Mensch fliegt und wir heute tatsächlich fliegen können, so ist dieser Hinweis nicht stichhaltig dafür, daß die Hoffnung besteht, die Märchen könnten sich erfüllen, indem wir langsam lernen das zu tun, was vor langen Zeiten nur im Märchen möglich war. Das märchenhafte Fliegen ist nur gegenüber der endgültigen Feststellung wahr, daß Menschen nicht fliegen können. Wenn wir heute fliegen, so nur deshalb, weil die Menschen nicht mehr die Menschen sind, die sich Märchen erzählen mußten, um über sich etwas Wahres aussagen zu können: nämlich daß Menschen nicht fliegen können.
Zudem ist die märchenerzählende Phantasie stark gebunden an die Vorstellungen der Unmöglichkeit, der gegebenen Naturdeterminiertheit, der Endgültigkeit. Während inzwischen die Unmöglichkeit, die Determiniertheit, nur ein Kalkulationsfaktor geworden ist, ein Moment des schlechthin Möglichen.
Die Hoffnung akzeptiert und betont nur die Möglichkeit, soweit es Unmögliches gibt. Sie entlastet nur vom Druck des Unmöglichen.

Die Umkehrung der Zeitrelation vom "es war einmal" des Märchens und der Historie zum "es wird einmal sein" ist die Methode der Science-Fiction (S.-F.).
Mit der Umkehrung der Zeitrelation kehrt sich auch deren Bedeutung um. Während sie beim "es war einmal" unseren Wirklichkeitssinn stärken sollte und konnte, wird sie beim "es wird einmal sein" unseren Möglichkeitssinn stärken: nicht nur, daß etwas möglich sein kann oder könnte, sondern daß es auch sein wird, ja muß! Wenn es nicht auch wirklich sein muß, wenn es nicht auch wirklich ist, kann es überhaupt nicht möglich sein.
In der Hoffnung auf Änderung steckt die Beliebigkeit des "es könnte anders sein". Während in der Möglichkeit "es wird einmal sein" der Zwang zur Erscheinung, zur Realisation steckt.
Für die S.-F. gilt: was immer möglich ist, ist wirklich. Wenn auch zunächst nur so, daß es unsere Ziele bestimmt, unsere Ziele als Begründungen des Handelns einführt. So daß anstelle der eigentlichen Begründung und der Motivierung als selbständige Größen, die Verbindung des Ziels mit dem Weg zu ihm tritt. Erst beim Beschreiten des Weges läßt sich das Ziel formulieren, als hätten wir die Absicht, es zu erreichen. Der Weg wird das Ziel.
An die Stelle der Handlungsmotivierung tritt der Funktionszusammenhang.
Das Ziel ist nicht wie im Märchen die abgeschlossene Ferne und der statische Fixpunkt, sondern der nach Distanz und Blickschärfe offene Horizont. Für die Beziehung Ziel - Beobachter, Gegenwart - Zukunft gilt es, gleitende Gleichgewichte zu erstellen, in welchen jede Veränderung eines Momentes die Veränderung aller anderen Momente in eben dem Maße notwendig nach sich zieht, durch welches das Gleichgewicht aufrecht erhalten werden kann.
Das ist im Hinblick auf die Investitionen für eine Zukunft von großer Wichtigkeit.
Sonst sind allein aus Gründen unvermeidlicher Defizite die angenommenen Ziele nicht realisierbar. Und die allfälligen Projekte werden mit dem logisch erscheinenden Hinweis abgetan: wer soll das bezahlen?

Aus den eben angedeuteten Gründen wird verständlich, warum langfristige Prognosen gegenüber kurz- und mittelfristigen soviel schärfer und genauer sein können, obwohl man doch eigentlich annehmen sollte, daß es genau umgekehrt sich verhalten müßte.
Zur kurz- und mittelfristigen Prognose gehört die sehr genaue Kenntnis der Umstände, die die nächsten Schritte bestimmen. Wenn aber die nächsten Schritte ausschließlich unter der Kontrolle der Zielvorstellung stehen, kann bei Annahme eines statischen Gleichgewichts der Faktoren die Bedeutung der nächsten Schritte nur ungenau, nur durch negativen Ausschluß bestimmt werden: dessen, was nicht eintreffen darf als Folge dieser Schritte unter dem Primat der Zielvorstellung.
Die Schärfe der kurzfristigen Prognosen wird unmöglich, weil die Prognose nicht zum Bestandteil des realen Verlaufs wird. Die Prognose bleibt äußerlich und aufgesetzt. Und zwar in dem einengenden Verstande, daß sie als Planung von normativer Geltung auftritt. Die Prognose wird zum Fahrplan, dessen einzelne nicht eingehaltene Stationen jeweils zum Fiasko in den Folgeerscheinungen für alle anderen, auf strikte Einhaltung konzipierten Stationen wird. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunftsforschung, der Gesellschaft klarzumachen, daß sie die erarbeiteten Prognosen nicht konkretistisch verengen darf. Die Tendenz besteht, einfach eine solche Prognose als Antizipation zu formalisieren, und dann enttäuscht zu sein, wenn es nicht gelingt, die einzelnen Positionen als erwartungsgemäß eingetretene auf dem Fahrplan abzuhaken. An diesen Schwierigkeiten laborieren die Vertreter eschatologischer oder sozialutopischer Vorstellungen. Heilslehre der Christen und Marxismus sehen sich in gleicher Weise jeweils dann zur Ohnmacht des bloßen Gründesuchens verurteilt, wenn sich der Realverlauf der Geschichte nicht an der Distanz messen läßt, die zwischen Utopie und Gegenwart abgebaut wurde. Infolgedessen werden gerade von dieser Seite immer wieder Bemerkungen gemacht, die den Unterschied zwischen 1867 und 1967 auf null zusammenschrumpfen lassen; es habe sich Wesentliches nicht geändert.
Natürlich hat sich gegenüber dem Ziel, dem Endzustand, nicht viel in 100 Jahren geändert. Aber immer natürlich nur, wenn man die statischen Gleichgewichte betrachtet. Und wenn man eben glaubt, auch Langzeitprognosen wie die Sozialutopien und die Erlösung als Fahrplan einer Entwicklung verstehen zu können, der sich die geschichtlichen Verläufe nur nachzuarbeiten hätten, um sie zu erreichen. Innerhalb der gleitenden Gleichgewichte hingegen werden an den Vorstellungen endlich zu erreichender Zustände immer Veränderungen nötig, weil sonst das Gleichgewicht nicht aufrecht erhalten bleiben könnte. Realverlauf und Erwartungsverlauf können nicht aneinder gemessen werden. Denn innerhalb solcher Gleichgewichte verschieben sich die brauchbaren Meßwerte notwendig.
Daß in der Aufgabe der Kontrollmöglichkeiten durch Aufrechterhalten der Ausgangsbasis zugleich ein Abbau an Geschichtlichkeit liegt, ist nur denen bedauernswert, die lieber auf der Unmöglichkeit, lieber auf der Nichterreichbarkeit der Ziele beharren, als ihre geschichtlichen Ausgangsbasen aufzugeben. "Man müsse doch Mensch bleiben", formuliert der Volksmund.
Man müsse bleiben, was man ist, aber dennoch nach den Veränderungen verlangen. Da die so schlechthin nicht leistbar sind, wird das als Widerlegung des Ziels und als Widerlegung unserer Möglichkeit zu handeln mißbraucht. Dann wird in der Tat auch das, was die Zukunft bringen kann, nur zu einem Märchen, wie das, was die Vergangenheit nicht brachte.
Die Zukunft ist kein Märchen.
Die Zukunftsforscher sind keine Märchenerzähler.
Was die Autoren der S.-F. als Zukunftsforscher einer bestimmten Forschungsrichtung tun, sind keine Beschreibungen von Märchen, sondern Möglichkeitsbeschreibungen, deren Gegenstände für sie ebenso wirklich sein müssen, wie sie das für die Historiker in der Geschichtschreibung sein müssen; wenigstens für die Zeitrelation Zukunft - Gegenwart, wenn also die Gegenstände und Verhältnisse einer zukünftigen Menschengesellschaft so geschildert werden, als befände sich der Erzähler oder Schreiber mitten in diesen Verhältnissen. Nahezu alle S.-F.-Geschichten werden in dieser Zeitrelation abgehandelt. Erst allmählich beginnen die Zukunftsforscher, auch die Zeitrelation Gegenwart - Zukunft auszubauen mittels der Techniken der Voraussage. Während die S.-F.-Autoren sich wesentlich der Techniken der Antizipation, der Darstellung von zukünftigen Zuständen als schon erreichten bedienen.

5.3. Science Fiction als Fiction rezipiert

Eines ist jedoch ganz und gar unumgänglich: die Verkehrung der Zeitrelation muß deren Bedeutungsverkehrung berücksichtigen und das heißt, die Techniken der Märchenerzählung und die der Geschichtsschreibung sind nicht anwendbar auf die Zukunftsschreibung.
Für sie sind auch die Techniken der Rezeption, der Betrachtung und Verarbeitung nicht anwendbar, die wir an historischem Material und ihrer Beschreibung oder an den Märchen gewonnen haben.

Bezeichnen wir hier die Techniken der Rezeption von Märchen als die der Literaturwissenschaft und die der Geschichte als Konstatierungswissenschaft, werden die Fehler bisheriger Betrachtung der S.-F. deutlich.

Bisher ist die S.-F. folgendermaßen rezipiert worden:

  1. als Literatur; darin wieder unterschieden als große Literatur von der Art der Staatsromane und als solche einer herabgekommenen Trivialliteratur.
    Soweit die Staatsromane und die wenigen Klassiker des utopischen Romans aus dem neunzehnten und dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von ihr untersucht wurden, hat sich die Literaturwissenschaft zu einigen wohlwollenden Bemerkungen herbeigelassen; im Wesentlichen darauf gestützt, daß es sich eben um historisches Material handele, mit dem man allein deshalb nicht einfach umspringen dürfe.
    Für den Rest der S.-F.-Literatur kennt hingegen die Literaturwissenschaft nur den Ausdruck trivial. Sie filtert das Urteil aus dem Kategoriengeflecht einer Ästhetik, in die sich solche S.-F.-Literatur nur deshalb schicken muß, weil es sich bei ihr um eine bestimmte Form des geschriebenen Wortes handelt.
    Die Anwendbarkeit ihrer Verfahren auf S.-F. hat die Literaturwissenschaft niemals angezweifelt. Sie hat sich nur bereitgefunden, sich durch die Erweiterung ihrer Kategorienskala etwas besser dem Gegenstand anzupassen: also genauer sagen zu können, was die Kriterien für Trivialliteratur gegenüber der Hochliteratur seien: romantische Vorstellungen vom Helden, Schauerdramatik, Sterilisierung der Sprache, Ausdrucksarmut usw.
    Um diesen Irrtum durch Vorwärtsstürmen verdecken zu können, geht nunmehr die Literaturwissenschaft dazu über, auch Regierungsverlautbarungen, Nachrichten, Agenturmeldungen, Reklametexte, Lehrbücher, Fahrpläne usw. als ihren Gegenstand zu untersuchen, natürlich nur zur Abgrenzung ihres Heiligsten gegen diese quantitativ überlegenen Formen des geschriebenen (oder auch gesprochenen) Wortes.
    In diesem Fall ist es dankenswert, daß sich die Betrachter und Konsumenten solcher Sprachformen nicht an die Rezeptionsweisen der Literaturwissenschaft halten, sich nicht um sie kümmern. Dafür zahlen sie mit schlechtem Gewissen, das sich auch in Überbetonung und Forschheit der S.-F.-Zuneigung äußern kann. Denn natürlich fällt es den Wissenschaftlern leicht, der Gesellschaft Sanktionsmodelle anzupreisen, unter welche diejenigen fallen sollen, die die S.-F. wie Literatur offen genießen oder heimlich sich ihrer bemächtigen. Da solche Sanktionen angedroht sind, haben die Dennochleser ein schlechtes Gewissen, das sie überspielen, indem sie ihrerseits S.-F. und Trivialliteratur als die allein bedeutsamen Literaturgattungen darstellen.
  2. wurde die S.-F. bisher von etwas fortschrittlicheren Literaten rezipiert als Material für ihre literarische Praxis. Zu diesen Literaten gehört z.B. Michel BUTOR. Die technischen Verweisungszusammenhänge, Schaltmuster, Gebrauchsanweisungen und Konstruktionen werden in die Literatur übertragen, wobei im Wesentlichen die Verfremdungsenergien von Begriffen oder Worten genutzt werden. Noch nach vielen Jahren des gebrauchssprachlichen Umgangs mit 'Muttern' und 'Nuten' und 'Hähnen' usw. Iassen sich die in diesen Worten oder Begriffen angesammelten Bedeutungsabweichungen und Bedeutungserneuerungen für die Gewinnung literarischen Appeals ausnutzen. Und es lassen sich die Koppelungsvorgänge von Geschehensabläufen, die in der S.-F. beschrieben werden, als Schnittmuster für neue literarische Texte gebrauchen.
  3. wurde S.-F. bisher verstanden als populärwissenschaftliche Versuche, einen komplizierten Zusammenhang darzustellen. Diese Versuche sind stets der Kritik ausgesetzt gewesen. Es wurde eingewandt, daß die komplizierten technisch-wissenschaftlichen Zusammenhänge bloß spekulativ fabulierend gelöst und dargestellt würden. Der einfach angenommene Stand künftiger Technik lasse keine Kontrolle darüber zu, was die S.-F.-Darsteilungen eigentlich leisteten. Der spekulative Charakter der Sujets werde in der S.-F. unterschlagen, wodurch alle Aussagen falsch würden. Die S.-F.-Autoren hätten nach dem Verfahren populärer Darstellungen wissenschaftlich gesicherter Zusammenhänge auch Darstellungen dessen gegeben, was nicht wissenschaftlich gesichert ist.
  4. wurde die S.-F. bisher verstanden als ein Katalog von Vorstellungen, die freiphantasierende Subjekte in einem krankhaft zu nennenden Zustand hervorbrächten. Man versuchte, aus diesen Vorstellungen die weniger phantastischen herauszuklauben und als vielleicht anregend zu betrachten. Dieses Verfahren wurde zum Gesellschaftsspiel, ließ es doch die besten Kontrollen über die Vorstellungsabweichungen anderer zu, die man mit einem "da gehst Du aber entschieden zu weit" zurückpfeifen konnte. Außerdem konnten jederzeit die Kanons der Bekenntnisse abgespult werden, in deren Rezitation jederzeit die gesellschaftliche Rolle der Einzelnen bestärkt und gesichert werden konnte.
  5. wurden die S. -F. betrachtet als Projektionen einer Gesellschaft, die es nicht zulassen kann, solche Vorstellungen als die auf sie zutreffenden anzuerkennen, also als Geschichtsschreibung.
    S.-F. wurden als List betrachtet, die einzelne Autoren anwandten, um über den gerade gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft Aussagen machen zu können, die anders nicht erlaubt waren.

5.4 Science Fiction als Non-Fiction rezipiert

Hieran anknüpfend kann man versuchen, eine Betrachtungsweise der S.-F. zu entwerfen, die angemessener als die oben zitierten ist.
Ihre gattungsgeschichtliche Form als Novelle oder Essay im Blickfeld der Literaturwissenschaft ist der S.-F. ganz und gar äußerlich. Sie hängt von ihr nicht ab. Heute jedenfalls ist der überwiegende Teil der S.-F.-Autoren nicht Literat von Hause aus, sondern Wissenschaftler. Allerdings ließen sich Gründe dafür finden, daß sich diese Wissenschaftler in keiner anderen Form zu den von ihnen beschriebenen Problemen äußern können als in der literarischen. Und das heißt immer auch in Unverbindlichkeit und Nebensächlichkeit. Als literarische können Abhandlungen über Dinge gestattet sein, die sonst nur in Geheimdossiers der Regierungen und ihrer Funktionsträger anzutreffen sind. Und als literarischen kommen diesen Abhandlungen auch nicht Gewichtigkeit und Gefährlichkeit von Untersuchungen wie den Forschungsberichten zu, weil sie bloß der subjektiven Vorstellungskraft Einzelner entspringen. Für eine angemessene heutige Betrachtungsweise der S.-F. muß aber angenommen werden, daß es sich bei den Vorstellungen der S.-F.-Autoren nicht mehr um individuelle handelt. Man muß verstehen, daß sich die so produzierende Phantasie oder Vorstellungskraft längst kollektiviert haben.
Zwar gibt es auch noch so etwas wie Stile der einzelnen S.-F.-Autoren, wie die Unterscheidung und Bevorzugung durch die Leser anzeigt. Indessen sollte man diese Unterschiede aber eher als sachgebundene Eigentümlichkeiten der Vermittlung der Sachverhalte verstehen denn als literarischen Stilwillen.
Schließlich ist es sehr schwer, bei der neueren S.-F. überhaupt noch solche Unterscheidungen zu treffen. Die Notwendigkeit, für die ständige Erweiterung der angebotenen Vorstellungsinhalte zu sorgen, führt zwangsläufig zur Angleichung, weil eben das kollektive Reservoir allein noch als Quelle für solche Vorstellungen infrage kommt. Ein einzelner Autor hat wenig Chancen, dem Leser noch etwas bieten zu können, was für ihn Innovationswert hätte, was vom Charakter der Neuigkeit wäre. Und nur auf diese Innovation hin liest der heutige Leser die S.-F.
Was sich also als literarischer Stilwille anzubieten scheint, ist im wesentlichen ein Problem des Innovationsniveaus, der Dichte der Neuigkeiten, die den Fortgang der Handlung ermöglichen. Ist dieses Innovationsniveau gering, so muß der Autor des öfteren zurückgreifen auf Erfahrungen und Kenntnisse, die der Leser bereits hat und die er vor allem meistens aus dem hat, was er für Literatur hält. Die Eigentümlichkeit der Darstellung im S.-F. kann in dem die Geschichte bedingenden Verlauf beschrieben werden durch Innovation und Einfallslosigkeit, durch Neuigkeit und Rückverweisung oder Rückfall in Schonbekanntes.
Das jedoch ist kein literarischer Stil.
Für eine angemessene Betrachtungsweise der S.-F. ist es aber wichtig zu wissen:
Die S.-F.-Autoren bedienen sich dieses Mediums und seiner Form, um Vorstellungen zu publizieren, deren Publikation als offizielle, gesellschaftliche Kollektivität repräsentierende nicht möglich wäre, in der Form subjektiver, also privater Literatur, noch dazu als Fiction, jedoch zugelassen wird.
Die Vorgabe der subjektiven Phantasie und die der individuellen Ausdrucksformen ist eine Abschwächungsform, weil nur so abgeschwächt die vorgestellten Möglichkeiten erträglich und verständlich werden. Individuelle Ausdrucksformen sind nicht Resultate des Willens der S.-F.-Autoren, sich in ihrer Schreibweise zur unverwechselbaren Identität als Autor zu erheben, sondern Bezeichnungen ihres mehr oder weniger großen Vermögens, ein Mindestniveau an Innovation durchzuhalten.
Darüberhinaus sollte es für eine heutige angemessene Betrachtungsweise der S.-F. als sicher gelten, daß die S.-F.-Autoren als Wissenschaftler anzusprechen sind. Und das heißt, sie sind in der Lage, pointillistisch angedeutete oder beschriebene Phänomene in einen Zusammenhang miteinander zu bringen, der nicht nur die einzelnen Phänomene als begründete aufwertet und rechtfertigt. Einem Wissenschaftler ist es möglich, Einzelphänomene auch als gegeneinander unabhängige zu betrachten. Entscheidend aber ist, ob es ihm gelingt, Zusammenhänge so zu konzipieren oder zu erkennen, daß sich aus ihnen die Auffindung neuer, bisher noch unbekannter ergibt. Der aufgefundene Zusammenhang der Einzelmomente muß ein Verweisungszusammenhang sein, in dem sich die Bedeutung der einzelnen Momente abwägen läßt. Mit der bloßen Ergänzung zur kompletten Vorstellung ist es nicht mehr getan. So. erweiterten die S.-F.-Autoren ihre Fähigkeiten als Wissenschaftler um die des Literaten. Für die angemessene Betrachtung der S.-F. sollte also gelten: Die wissenschaftliche Ausbildung der S.-F.-Autoren ist Bedingung für die Beschreibung der zukünftigen Verhältnisse, damit diese Verhältnisse nicht nur als Ergänzungen zu heute bereits bestehenden bewertet werden können, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Stabilität als Gesamtheit, als System. Die wissenschaftliche Ausbildung ist jedoch keine ausreichende Bedingung, sondern bedarf des literarischen Gesamtentwurfs.
Drittes Fazit: Die Verweisungszusammenhänge sind in der modernen S.-F. so dicht, daß sich alle S.-F.-Geschichten gegeneinander kontrollieren. Das kann soweit gehen, daß Leser den Anschluß verlieren, wenn sie einzelne Glieder dieser Kontrollen durch Auslassen einiger Fortsetzungskapitel verpassen. (Daran sind die deutschen S.-F.-Serien aus den frühen sechziger Jahren gescheitert.)
Anstelle der gesellschaftlich-praktischen Realisation und der dafür benötigten Zeit tritt als Kontrolle der Publikationszwang zu bestimmten Terminen, weil die größere Zahl der S.-F. in Serien erscheint. Widerrufe, Umdenken, Verwandlung der Ansätze und Verarbeitung unvorhergesehener Konsequenzen sind nur durch die Hervorbringung neuer kompletter S.-F.-Serien möglich. Hier liegt eine Gefahr für die Erstarrung der S.-F. zur zukünftigen Geschichte, die gar nicht erst gelebt zu werden braucht. Denn die Umstellung der Serien ist ein Finanzierungsproblem, das die S.-F.-Verleger oft nicht schnell genug lösen können oder wollen. Die Autoren überholen sich selbst. Ihre Schwierigkeit liegt im schnellen Veralten der Vorstellungen, wenn sie gezwungen sind, dem Serienanspruch auch gegen ihre Einsicht gehorchen zu müssen.
Immerhin hat die Form der Serienpublikation auch etwas Unerwartetes für sich: die Zeit zwischen Hervorbringung der Vorstellungen durch den Autor und ihre Publikation ist denkbar kurz: viel kürzer als in jeder wissenschaftlichen Publikationsweise. Die Wirkungsmöglichkeit der S.-F. ist dadurch besonders groß, wenn auch die Auswirkungen relativ lange auf sich warten lassen, denn die von den Wissenschaftlern den S.-F. entnommenen Vorstellungserweiterungen werden als konkrete Verwirklichungen manchmal Jahrzehnte hinter dem Zeitpunkt der ursprünglichen Hervorbringung herhinken. Auch das ist ein Investitionsproblem. Deshalb sind die Amerikaner nunmehr dazu übergegangen, alle Vorstellungen der S.-F.-Autoren, soweit sie wissenschaftlich genutzt werden könnten, zentral zu katalogisieren, und zwar doppelt nach Zeit- und Sachgruppen.
Es ist jedoch anzunehmen, daß die von der S.-F. hervorgebrachten Vorstellungen in sehr hohem Maße durch die Wissenschaftler ausgebeutet werden, ja daß sie sogar schon größere Bedeutung für die Erfindung neuer technischer Lösungsmöglichkeiten erhalten haben als die aus den sachimmanenten Forschungsarbeiten der Wissenschaftler hervorgehenden Lösungsmöglichkeiten. Die S.-F. hat der Wissenschaft die Planbarkeit des Zufalls und der aus dem Zufall entstehenden Lösungsmöglichkeiten demonstriert. Die unkontrollierten zufälligen Lösungsfindungen kraft Inspiration und Genie einzelner Wissenschaftler verlieren an Bedeutung. Die Techniken der Hervorbringung von neuen Vorstellungen und auch deren konkrete Inhalte im S.-F. sind unleugbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Forschungs- und Findungsarbeit. In welchem Maße die S.-F. gar die psychische Konstitution der Wissenschaftler und Techniker bestimmt, um ihnen die Kraft und das Vertrauen in die Richtigkeit und Durchführbarkeit ihrer Arbeit zu geben, ist fast schon nicht mehr abzuschätzen. Die Außerungen der amerikanischen Astronauten belegen das.

5.5 Möglichkeitsbeschreibungen - die Welt der Androiden

In dem S.-F.-Sammelband "Die Anderen unter uns" werden sehr spezielle Themata aus dem Bereich der S.-F. abgehandelt. Allen Geschichten gemeinsam ist das Problem der Menschmaschinen: der Androiden.
Historisch gesehen entstammen sie ihrer Erscheinung nach dem Rechenautomaten, der Marionette und dem Problem der Automatisierung von Produktionsabläufen.
Ganz sicher sind sie ihrer Begründung nach verbunden mit dem Problem der abgeschafften Sklavenarbeit. Die Griechen hatten sich Rechtfertigung dafür erarbeitet, daß es sich bei den Sklaven um Menschen einer anderen Kategorie und Lebenshöhe handele, die als Arbeitsautomaten die Grundbedingung für die Existenz der griechischen Gesellschaft waren. Der Begriff der schöpferischen Arbeit und des Denkens und somit des menschenwürdigen Lebens war für die Griechen an die Tatsache gebunden, daß die Menschmaschinen als Sklaven die zur Reproduktion der Menschen notwendige Arbeit verrichteten.
Diese Begründung wird heute wieder aufgenommen als Möglichkeit der Befreiung der Menschen aus der Arbeitsteilung und ihren historischen Konsequenzen. In der Tatsache, daß die Roboter Menschengestalt erhalten, liegt die Erinnerung an den Ursprung ihrer Existenz. Die Mechanik der gesteuerten Arbeitsverrichtungen der menschlichen Sklaven (gesteuert durch Befehl) überträgt sich in die Konstruktionsprinzipien der Roboter als mechanische Sklaven. Schon sehr früh hat es z.B. mechanische Roboter gegeben, die musizierten oder tanzten oder auch Schach spielen konnten.
Auch wenn heute nicht mehr die Mechanik die Konstruktionsprinzipien der Roboter ausmacht, wird der Bau von Robotern dennoch unter dem Gesichtspunkt der künstlichen Hervorbringung von Sklaven betrieben. Das ist jedenfalls ein Zweig der Entstehungsgeschichte der Androiden.
Der zweite ist der Weg über den Austausch von Organen in lebenden Menschen, eine Mechanisierung der Menschen von innen. Für die schließliche Realisierung der Vorstellung von den Androiden scheint dieser zweite Weg wichtiger und aller Wahrscheinlichkeit nach auch derjenige zu sein, den man beschreiten wird.
Der Grad ist noch nicht festgelegt, bis zu welchem die Organe eines lebenden Menschen gegen künstliche ausgetauscht werden können. So weit es sich abschätzen läßt, gibt es dafür überhaupt keine Grenze. Nieren-Herz-Lungen-Einheiten als tragbare Organe sind bereits in der Konstruktion. Die Systeme der Blutzirkulation in festen Bahnen sind bereits weitgehend durch künstliche ersetzbar. Der Abstand zwischen den Vorstellungen der S.-F.-Autoren und den Realisationsmöglichkeiten dieser Vorstellungen ist nur noch sehr gering.
Alle Autoren des genannten Bandes gehen davon aus, daß das Problem nicht mehr die Verwirklichung künstlich (mechanisch) konstruierter Menschmaschinen ist, sondern die Existenz und Ko-Existenz lebender Menschmaschinen, der Androiden.
An erster Stelle in dieser Problematik steht die Frage nach der Identität der Androiden. Es gibt unter ihnen zwei Entwicklungsstufen. Erstens diejenigen, die nur selbststeuernde Systeme sind, ohne die Möglichkeit der Veränderung; und zweitens diejenigen die selbststeuernde und selbstreproduzierende Systeme sind mit der Möglichkeit, Mutationen zu durchlaufen, also Veränderungen ihres Bauplans selber durchzuführen.
Für die ersteren ist die Frage der Identität noch verhältnismäßig einfach zu lösen: sie wird ihnen nach der Art ihrer Programmierung ein für allemal zugeteilt. Und sie haben sich an diese Identität zu halten als Arbeitsandroid, Unterhaltungsandroid usw. Die Identität liegt noch im Begriff der Menschmaschine und wird aus ihm abgeleitet.
Für die andere Gruppe der mutierenden Androiden ist das nicht mehr möglich. Und hier beginnt sich die Problematik abzuzeichnen, aus der in Relation zu uns die Autoren ihre Geschichten entwickeln. Denn die Identität der Androiden höherer Klasse kann nicht mehr gegen die der Menschen abgeteilt werden. Die Menschen verlieren die Möglichkeit, die Androiden zu kontrollieren, wenn sie sie nicht mehr als bloße Konstruktionen unter spezieller Aufgabenstellung verstehen.
Hatte man bisher die technischen Veränderungen als künstliche Mutierung der Menschen selber verstehen können (etwa das Auto als Mutation der Beine), so werden die Androiden höherer Stufe zu Formen der mutierten Menschen als Gattung. Die höhere Form der Entwicklung der Menschen ist dann der Android.
Daß die Menschheit in der entwicklungsgeschichtlichen Reihe ihrer Entstehung immer noch mutiert, ist wohl unbezweifelbar. Und daß darunter nicht nur die Veränderung des genetischen Materials selber zu verstehen ist, ist auch unbezweifelbar. Denn die extragenetische Vererbung als Kulturgeschichte der Menschen hat längst die Bedeutung der genetischen in den Schatten gestellt.
Für die S.-F.-Autoren ergeben sich daraus neue Konfliktsituationen, die nicht einmal so sehr von den uns bisher bekannten abweichen.
Als eine Konfliktsituation könnte man den zu erwartenden neuen Klassenkampf zwischen den unterprivilegierten Androiden und den Menschen bezeichnen. Die Androiden höherer Stufe vermögen selber abzuschätzen, welche Konsequenzen innerhalb der Gesellschaft zu erwarten sind, wenn sie zum Beispiel ihre Arbeit einstellen würden. Da diese Konsequenzen das Überleben der Menschen infrage stellen würden, leiten sie daraus ihren Anspruch ab, selber mit den Menschen gleichgestellt zu werden. Viele Geschichten zeigen solche Auseinandersetzungen.
Es ist klar, daß uns schon sehr bald solche Probleme in etwas weniger drastischer Weise beschäftigen werden. Wenn die Organverpflanzungen und die Möglichkeiten der künstlichen Ersetzung ganzer Organeinheiten in gewisser Breite gegeben sind, werden wir darüber zu entscheiden haben, ob zum Beispiel ein Mann mit einem künstlichen Herz-Lunge-Nieren-System Bundeskanzler werden kann. Oder ob es möglich ist, Entscheidungsgewalt an jemanden zu delegieren, der seine und anderer Leute chemische und elektrische Steuerungs- und und Speichervorgänge künstlich beeinflußt, angefangen vom Rauschgift bis zur chemischen Veränderung der Langzeitspeicherfunktionen bestimmter Zellen. Noch problematischer wird der in den Geschichten angedeutete Entwicklungsverlauf, wenn die Menschen erkennen müssen, daß sie als Gattung nur noch in Gestalt der Androiden überleben werden. Wenn also die höhere Anpassungsfähigkeit der Androiden, ihre überlegene Intelligenz, ihre billigere Reproduktion, ihre größere Unabhängigkeit von der Versorgung usw. sie als den Menschen deutlich überlegene Wesen ausweist. Dann ist der Zeitpunkt nicht fern, an welchem die Führung und Ausübung der Macht auf die Androiden übergehen wird.
Es ist fast rührend zu sehen, wie die Autoren unserer Geschichten immer wieder versuchen, diesen Moment abzuschwächen. Wie sie versuchen, den Konsequenzen ihrer Erkenntnisse aus dem Wege zu gehen, wie sie die Tätigkeit der Androiden in die Form einer Geheimbündelei kleiden, die das Gelingen ihrer Pläne wahrscheinlich nicht ermöglichen wird. Oder aber wie sie den Androiden höherer Stufe gar notwendig die Vorstellung zusprechen, sich gegenüber den unterlegenen Menschen einer gewissen menschlichen Ohnmacht nicht enthalten zu können und immer den Mangel an Schwäche, an menschlichen irrationalen Reaktionen und Handlungsweisen verspüren der sie dazu verführt, ihre über die Menschen hinausgehenden Fähigkeiten nicht zu entfalten. Sie lassen sich zu Ungerechtigkeiten, zu Haß und Brutalität verleiten, nur um den Menschen ähnlicher zu werden, denen sie doch weit überlegen sind.
Aller Wahrscheinlichkeit nach aber haben diese Autoren sich zu solchen Abschwächungen nur hinreißen lassen, weil sie erstens daraus in der Vorgegebenheit der Erzählform Momente der Erzählungsgestaltung ableiten (Spannung, Dramatik) und zweitens so dem Verbot entgehen, das als gesellschaftliche Kontrollfunktion verschiedentlich institutionalisiert ist und das die Auflhebung des bestehenden Gleichgewichts verhindern soll. Auch innerhalb nicht statischer, sondern gleitender Gleichgewichte sind solche Kontrollen notwendig, sonst würde es möglich, daß die Antizipationen der letzten Konsequenz als Druckmittel benutzt werden könnten, denn immer noch lassen sich die Menschen am leichtesten durch Furcht zur Unterwerfung zwingen. Es muß aber doch verstanden werden, daß die gechilderten Konsequenzen eben nicht die uns unmittelbar drohenden sind; unsere Fähigkeiten, mit solchen Konsequenzen fertig zu werden, werden sich auch geändert haben bis zur Erreichung des Zustands, in dem diese furchteinflößenden Konsequenzen wirklich werden. Aber eben nicht mehr als furchtbare.
Was alle Geschichten in einem weiteren Zusammenhang gemeinsam haben, ist der Hinweis darauf, daß die Menschen sich davor fürchten, den durch sie selber entwickelten Vorstellungen von einem erfüllten Leben nahe zu kommen, sie verwirklicht zu sehen. Aber auch das ist eine Täuschung - denn es geht ja nicht um die fahrplanmäßige Realisation der Endzustandsvorstellungen. Es läßt sich über den Augenblick der Verwirklichung nichts aussagen, weil die dafür notwendigen Basiswerte dann nicht mehr vorhanden oder anwendbar sind.
Der wesentlichste Gesichtspunkt der Thematik der Androiden aber ist, daß die Menschen die Gewichtigkeit aller ihrer Probleme in Bezug auf die Androiden immer nur in Bezug auf die Tatsache verstehen, daß sie selbst sterben müssen. Daß ihr individuelles Leben begrenzt ist. Die Androiden aber zeigen eine Möglichkeit, diesen Faktor auszuschalten. Sie sind nicht mehr auf die Vermittlung der individuellen Existenz in das Fortbestehen der Gattung angewiesen. Sie brauchen nicht zu sterben. Und wenn wir die Androiden als eine höhere Mutationsform des jetzigen Menschen verstehen, so sind die Möglichkeiten außerordentlich günstig, alle diese Probleme in einer gewissen Gleichgültigkeit verschwinden zu lassen, weil es auf sie dann nicht mehr ankommt, da sie nicht mehr zu sterben brauchen.

Es besteht kein Zweifel daran, daß die Abschaffung des Todes möglich ist. Die Zeit, die es noch dauern wird, bis wir dazu in der Lage sind, ist ausschließlich abhängig von der Intensität, mit der wir gesellschaftliche Arbeit in die Lösung dieses Problems investieren. Da es sich aber bei der Abschaffung des Todes um das Grundproblem für die Lösung aller anderen handelt, sollte es doch denkbar sein, daß sich die vielen nationalen Gesetzgeber überzeugen lassen, Mittel bereitzustellen, die dafür notwendig sind. Nach neuesten Schätzungen ist dazu ein Kapital von 800 Milliarden Dollar nötig. Darin sind nach heutigen Maßstäben alle Zeit- und Personalkosten enthalten. Aber innerhalb der Entwicklung, innerhalb der gleitenden Gleichgewichte besagt das natürlich wenig. Wenn man heute eine solche Zahl sieht, scheint sie einem sehr groß und demzufolge das Problem nicht lösbar. Das ist eine Täuschung, der wir uns leider immer noch hingeben. Vielleicht ist es den S.-F. bei größerer Verbreitung möglich, die Vorstellungserweiterungen der Menschen allgemein soweit zu treiben, daß sich diese Täuschung allmählich verflüchtigt.
Daß wir darauf angewiesen sind, uns von unseren Täuschungen durch die angeblichen Lügengeschichten, Phantastereien und Märchen der S.-F. befreien zu lassen, ist beschämend. Für intelligente Menschen der früheren Zeiten mag es und ist es genauso beschämend gewesen, sich von den Täuschungen über den jeweils gegenwärtigen Zustand ihrer Gesellschaften durch die Märchen befreien zu lassen. Märchenlesen wurde zur größten Aufklärgebärde.

Es ist zwar richtig, daß wir heute solche Aufklärung nur noch durch die S.-F. erhalten können. Befriedigend aber ist es nicht, weil wir zuviel Zeit verlieren. Und noch haben wir diese Zeit nicht in unbeschränktem Maße.

Es bleibt zu überlegen, ob man nicht andere Veröffentlichungsformen finden sollte als die der S.-F., um allen Mitgliedern der Gesellschaft der Menschen dieses Problem als das sie unmittelbar betreffende darzustellen und daraus die notwendigen Tathandlungen zu gewinnen, um endlich frei zu werden von der Unabwendbarkeit des Todes.

5.6 Zukunft - am Modell trainiert

S.-F. hat uns gelehrt, darüber nachzudenken, daß wir nicht scheitern müssen. Daß wir nicht allemal Scheiterer sind. Obwohl das den Mächtigen gerade so genehm wäre. Entgegen landläufigen kulturistischen Bedenken passen die S.-F. den Mächtigen durchaus nicht. Denn es führt kein Weg und keine künstliche Rezession zurück hinter die Vorstellungen der S.-F. Die Mächtigen müssen sich ihrer anbequemen. Und da wir in der Gesellschaft die Mächtigen sein sollten, müssen wir uns den Vorstellungen der S.-F. anbequemen. Sonst werden wir nur wieder die Opfer ihrer Verwirklichung sein. Denn wenn es sich bei den durch S.-F. vermittelten Inhalten, Vorstellungen und Gedanken um solche handeln soll, die unseren heute allgemein im Schwange befindlichen etwas voraus haben, so wahrscheinlich doch das eine, sich weniger zwanghaft gegen uns zu behaupten, als es die Realitäten des Augenblicks tun.

Zwang 1: Der Zwang, sich den Vorstellungen, die jemand heute hat, unterzuordnen, wenn man sich daran beteiligen will, sie zu realisieren. "Jetzt gehen wir mal gleich an die Arbeit, alles weitere wird sich finden." Es findet sich indessen nicht, weil wir es längst aufgebrummt bekommen haben. Denn das Einverständnis, das wir bekunden, wenn wir uns beteiligen wollen, wird schlankweg als Unterordnung verstanden. Was wir zu unserer Sache machen wollten, indem wir helfen, sie zu realisieren, wird zur Möglichkeit des anderen, uns zu domestizieren. Unterordnung als Mittel zum Zwecke der erst zu begründenden neuen Ordnung. Und wenn wir sagen: "Ja, ich verstehe, was Sie meinen, ich finde es richtig. Ich möchte mich daran beteiligen, es zu verwirklichen", so sind wir gezwungen, den anderen es so verstehen zu lassen: "Sie anerkennen, daß ich Ihnen überlegen bin, daß ich über Mittel verfüge, derer Sie sich bedienen wollen, um auch den anderen zu zeigen, wie überlegen ich ihnen bin." Aber natürlich sagt er nicht Ich - er sagt, das System, das ich beherrsche, oder unsere gesellschaftliche Gesamtstruktur. Und da also wir alle diesem System stillschweigend unsere Existenz verdanken (sagt man), ist das Einverständnis leicht zu haben: es wird erschlichen durch Trugschluß. Überlegen soll man, was früher war, die Henne oder das Ei. Überlegen soll man, ob sich nicht zuerst alle unsere ökonomischen Basisbedingungen ändern müßten, bevor sich in unseren Vorstellungen etwas ändern läßt usw.
S.-F. befreit aus diesem Zwang, sich das Einverständnis abschleichen zu lassen, weil sie zuerst unsere Vorstellungen verändert, bevor wir uns leichtfertig vermeintlichen Notwendigkeiten beugen.

Zwang II. Die S.-F. verzichtet darauf, sich als literarische Gattung per se zu verstehen, oder als Literatur schlechtweg. Es ist ihren Autoren gleichgültig, wofür Literaten das halten, was die S.-F.-Autoren schreiben. Demzufolge ist niemand (auch wir hier nicht) gehalten, sich bei dem Versuch, über die S.-F. zu sprechen, an Verfahrensweisen zu halten, wie sie von den Literaturwissenschaftlern entwickelt wurden, um der Literatur einige Gedanken abzuluchsen.
Wenn man über die S.-F. nachdenkt, schreibt man das vielleicht auf (wie ich hier), ohne mehr geschrieben haben zu wollen als das, worüber man nachgedacht hat. Wenn ich mich mit einer Sache, die, ihrem Inhalt nach, mich verweisen will auf etwas anderes als das, was ich kenne, nur so beschäftige wie mit dem, was ich schon kenne, so ist das offensichtlich merkwürdig.
Wenn es mich genau solche oder mehr Anstrengung kostet, von etwas zu sprechen, was leichter zu ertragen sein soll als meine jetzigen Verhältnisse, so ist es merkwürdig, sich diese Mühe zu machen.
Wenn ein Zusammenhang wie die S.-F. darauf hinweist, daß unsere Verhältnisse, wie sie jetzt bestehen, gegenüber einem späteren Zustand recht beiläufig erscheinen, so sollte man mit eben jener Beiläufigkeit seinerseits über solche Verweisungszusammenhänge sprechen, wie sie durch die S.-F. dargestellt werden.

Richtig über die S.-F. zu sprechen heißt also beiläufig von ihr zu sprechen. Ich hoffe, das getan zu haben.

siehe auch: