Magazin MusikTexte
Zeitschrift für Neue Musik
Zeitschrift für Neue Musik
Seite 41 im Original
Bazon Brock im Gespräch mit Stefan Fricke und Johannes S. Sistermanns
SF: Herr Brock, wann haben Sie begonnen, künstlerisch mit akustischen Phänomenen zu arbeiten?
Es war wahrscheinlich Helmut Heißenbüttel, der damals in Stuttgart beim Süddeutschen Rundfunk die Essay-Abteilung leitete, die er von Alfred Andersch übernommen hatte. Heißenbüttel hatte dann die Idee, aus dem Material, das dort abgehandelt wurde, eine übergeordnete Einheit für ein Kulturfestival zu machen. Daraus entwickelte sich die Experimenta in Frankfurt. Der Sender konnte sich aber dann, glaube ich, nicht beteiligen, weil es das Hoheitsgebiet des Hessischen Rundfunks war. Jedenfalls wurde daraus nichts für Stuttgart, sondern für Frankfurt. Und dann sagten Karlheinz Braun, der den Theaterverlag der Autoren gegründet hatte und bei Suhrkamp für die Theaterabteilung zuständig war, und Peter Iden, der bei der Frankfurter Rundschau Feuilletonredakteur war – zur gleichen Zeit 1956 hatten sie die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste gegründet: „Wir machen das für die erste, dann auch zweite und dritte Experimenta in Frankfurt.“ Da habe ich dann bei verschiedenen Firmen wie Siemens die Klinken geputzt und gefragt: „Könnt ihr uns nicht für jeden Quadratmeter der Großraum-Beschallung einen entsprechenden Lautsprecher zur Verfügung stellen? Wir machen selbst die Schaltung.“ Damals gab es keine Elektronik für so etwas, das musste alles durch ein Ehepaar, das ich noch in Stuttgart über Heißenbüttel kennengelernt hatte, geregelt werden. Der Kernimpuls war, dass man damals zum ersten Mal begann sich vorzustellen, wie denn in einer Vierundzwanzig-Stunden-Umweltverschmutzung durch Lärm Zonen des Schweigens errichtet werden könnten oder wenigstens so etwas wie geschlossene Räume des Schweigens innerhalb des städtischen Großraums. Wir stellten uns die Frage: Was heißt eigentlich, Stille zu hören? Wie erweckt man akustische Wahrnehmung in der Erinnerung?
Da gab es verschiedene Ansätze aus Freuds Zeiten in Wien, Jungs Zeiten in Zürich, Otto Gross und anderen, die sich überlegt hatten, wie man die Erinnerungsarbeit weckt durch entsprechende akustische Signale, wie man Auslöser-Reize setzt. Das ergab sich dann aber nicht als stehendes Programm für alle, sondern war individuell gekoppelt.
Die meisten Menschen hatten individuelle Erlebnisse, mit denen diese Erinnerungen wachgerufen werden konnten. Deswegen ließ sich das als allgemeines Programm nicht realisieren. Es war sehr tragisch, dass eine Ärztin, die bereit war – das war alles in Frankfurt –, das mit auszuprobieren, sich dann selber das Leben nahm bei einem solchen Experiment. Man hat nie herausbekommen, was der Grund war. Aber nach dieser etwas radikalen Schlussfolgerung aus dem ganzen Experiment, vor allen Dingen ein Depravations-Experiment, also Isolation, war das für uns ein Hauptproblem. Darüber hinaus gab es die Verdächtigung, dass wir mit dem Selbstmord-Kabinett, das in der Galerie Loehr zur gleichen Zeit durch Daniel Spoerri eingerichtet wurde, Propaganda für den Tod betreiben würden. Das kam in völlig falsche Kanäle, so dass wir das einfach einstellen mussten.
JSS: In der Zeit waren es wahrscheinlich mehrere, die auf dem Weg, aber noch nicht formiert waren. Es gab weder das Wort „Hörstück“, noch „Soundart/Klangkunst“, noch gab es ein Bewusstsein darüber, dass sich Geräusche aus dem Hörspiel zu etwas Eigenem verselbständigen können und diese nicht nur den Background bieten für Hörspiele-Texte.
Es gab seit 1956 die Initiative, von der Schweiz ausgehend, das Werk von Duchamp zum ersten Mal überhaupt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Serge Stauffacher war der Schweizerische Kurator für die Veröffentlichung des Werks von Duchamp. 1957 hielt er seine große programmatische Rede in Houston/Texas. Das kannten wir alles, weil er mit Emmett Williams, einem Redakteur von „Stars and Stripes“ [Zeitung der US-Army], die in Darmstadt residierte, ja auch in unsere Theatergruppe bei Rudolf Sellner in Darmstadt involviert war, vor allem über die Kellergalerie im Darmstädter Schloss. Franz Mon hatte 1957 schon die „Ursonate“ von Schwitters aufgetan. Mon spielt eine große Rolle in dieser Hinsicht. Der hatte einen Verleger-Instinkt. Er war ja auch Verleger in einem Schulbuchverlag seines Vaters und schleppte ziemlich viel Material an.
Ausgehend vornehmlich von Schwitters' „Ursonate“, dann Rodtschenkos Experimenten wurde in Großstädten der jungen Sowjetunion von höheren Häusern aus dirigiert. Fabriken ließen dazu in bestimmter Folge ihre Sirenen laufen. Es wurde also eine Symphonie der städtischen Geräuscherzeugung aufgeführt. Es gab eine ganze Reihe von Verweisen auf Edgard Varèse.
Ich kann mich entsinnen, dass Varèse für uns ziemlich einschneidend war. Boulez kam ständig, und wir setzten ihm natürlich wegen seiner kindischen Idee des In-die-Luft-Sprengens von Opernhäusern zu. Dann haben wir gesagt: Nun lass uns doch wenigstens mal das Geräusch hören, wir wollen analysieren, was das für ein Geräusch ist als musikalisches Ereignis, eine detonierende Bombe. Das wurde dann natürlich alles nicht gemacht aus erklärlichen Gründen.
SF: Aber das war später. Das Interview mit der prägnant-provozierenden Äußerung „Sprengt die Opernhäuser in die Luft“ gab Boulez dem SPIEGEL im Sommer 1967.
Also das war ein Propagandatrick, denn diese Ge schichten liefen ja schon alle viel früher. Warten Sie mal, mir fallt gleich ein, wer dann in Frankreich das entsprechende Material zustande gebracht hat, das war ein Mann namens François Dufrêne, der zu den Internationalen Situationisten gehörte, andererseits aber auch wie. der ausgeklinkt war, und Jacques Villegle. Das waren die Leute, die das auf der wilden künstlerischen Ebene machten. Ich habe übrigens schon 1963 in Paris den Preis des Theaters von Jean Tardieu gewonnen, also es muss schon viel früher gewesen sein. Der Hessische Rundfunk in Frankfurt war eine Art Schnittstelle und produzierte ständig Gespräche mit Adorno, was hohe Attraktivität hatte. Das konnte man nur am Rundfunk hören oder im Hörsaal. Dann die literarischen Wiederaufnahmen historischer Experimente, soweit sie überhaupt bekannt waren. Ich kann mich noch erinnern, wie Varèse als Sensation empfunden wurde, als seine Musik zum ersten Mal vom Sender übertragen wurde. Dann die Vermittlung über die Rezensionsformen, die im Hörfunk und im Fernsehen entstanden, gegenüber dem Feuilleton der Zeitung. Das war plötzlich aktueller und interessanter, weil bei einem Text der Schreiber nicht mehr sichtbar ist. Hingegen, wenn einer live rezensiert oder gleich vom Ereignis berichtet oder sogar im Fernsehen zu sehen ist, hat das natürlich eine viel größere Bedeutung für das eigene Selbst, denn die Rezeption war dann Bestandteil des Ereignisses. Das ging so weit, dass viele Leute damals Veranstaltungen gemacht haben im Hinblick darauf, dass jemand kam und darüber berichtete, aber als Bestandteil der Ereignisse selbst. Zum Beispiel waren wir am 11. Dezember 1964 in der ersten Live-Übertragung eines Kunstereignisses im Fernsehen zu sehen. Beuys, Vostell, Brock, wir waren immer die Trias. Wir traten zum ersten Mal zu dritt auf und das Ereignis wurde auf eigenen Karten mitgeteilt: Achtung, hier findet etwas statt, nämlich das ZDF sendet abends live die Veranstaltung „Beuys Brock Vostell“ aus dem Landesstudio Düsseldorf. Da gab es natürlich auch in einem hohen Maße akustische Demonstrationen: der Hirschruf von Beuys, dann von Robert Filliou „Poipoi“.
Wir hatten alle mehr oder weniger so eine Art Erkennungsruf. Das war gedacht als eine Art Heroisierung des Schlachtfelds der Moderne, Kampfgeräusche vom Schlachtfeld. Gut, das hört sich heute alles anders an. Plötzlich war klar, Beuys als bildender Künstler operierte sehr stark mit den akustischen Signalgebungen, Dufrêne in der Tradition von Schwitters und anderen mit der literarischen Umverwandlung in Sprechtexte. Die Druckfassungen spielten gar keine Rolle mehr, das wurde alles nur noch aktualisiert und realisiert. Übrig blieb: in den Fünfzigerjahren Dominanz der Literatur, in den Sechzigerjahren Dominanz der Bildenden Kunst, in den Siebzigerjahren Dominanz des Theaters, in Berlin zum Beispiel auch ganz stark durch die Dominanz von Peter Stein und Klaus Michael Grüber und Claus Peymann in Bochum, der dann nach Stuttgart ging. Und eigentlich war das, was gleichermaßen alles miteinander verband, die Arbeit der öffentlich-rechtlichen Anstalten; ich glaube, der Hörfunk wesentlicher als das Fernsehen. Weil Winkler und Co., also die Fernsehfritzen, weit hinter dem Niveau der Hörspielredakteure zurückblieben.
SF: 1969 gilt als Gründungsjahr des sogenannten „Neuen Hörspiels“. Im WDR begründet Klaus Schöning das Studio Akustische Kunst und zu den ersten Produktionen zählen Gerhard Rühms „Ophelia und die Wörter“, Mauricio Kagels „(Hörspiel). Ein Aufnahmezustand“ und – nun in Kooperation mit dem Sender Freies Berlin – Ihr Stück „Grundgeräusche & ein Hörraum“ mit dem Untertitel „Auf dem Wege zu einer Grammatik akustischer Umweltbestimmung“.
Ich habe, glaube ich, insgesamt acht Stücke gemacht. Das für mich Wichtigste waren natürlich die „Grundgeräusche“ von 1969. Hier wird zum ersten Mal die Sensation des Normalen geschildert. Das heißt, es ist nicht mehr der Ausnahmezustand. Das akustisch Prägende ist jetzt nicht mehr die Kriegssirene, nicht mehr das Vietnamgeböller oder Zweite-Weltkriegskrachen, sondern es ist das Geräusch der Normalität. Die Sensation des Normalen kam einem zu Bewusstsein, je mehr rund herum alles außerordentlich, alles sensationelle Einmaligkeit war. Wie thematisiert man jetzt die Normalität? Das war das Problem. Kagel und andere waren zum Beispiel solche, die wir – mit dem abfälligen Wort von Gottfried Benn – „Synthetiker“ nannten, die sich aus allen drei Bereichen das Beste nahmen: aus dem literarischen, bildend-künstlerischen und akustischen, die sie dann mixten, und dann auch noch im Medium des Fernsehens auftraten. Da war Kagel schon halb verdächtig als Liebling der am schwächsten ausgebildeten Intelligenz, das war die des Fernsehens. Da schaute man herab, das war das Medium für die Werbebranche, aber sonst mehr oder weniger nichts. Obwohl es dann immer wieder zwischendrin überraschende Einzelprogramme gab, die einen interessierten. Aber Kagel war der erste Synthetiker überhaupt, der die drei Ebenen spielend miteinander verbunden hat, und dann natürlich das entsprechend als identitätsstiftend für ihn als Künstler darzustellen wusste.
Es gab drei Dinge, die kein Mensch bedacht hat: Erstens, wie sieht die Zukunft aus, wird man je Geld verdienen können, um sich zu ernähren? Das Zweite war keinerlei Bindung an die Politik. Denn, was '68 passiert war, war ja eigentlich die Vereinnahmung aller künstlerisch interessanten Aktivisten durch die Politpropaganda. Und das war allen klar: Wenn du in den Strudel kommst, bist du erledigt. Zum Beispiel rannte Vostell in Bockenheim auf dem Bürgersteig parallel zu einer Demonstration und schrie den Leuten immer zu: „Das könnt ihr nicht machen, das gehört mir!“ Die Demonstrationsform hatte er als Bildende-Künstler-Verfahren entwickelt und wollte jetzt geltend machen, das, was die da auf der Straße zeigten, sei urheberrechtlich geschützt. Es kam ja von ihm. Die hielten sich aber nicht dran und haben das willkürlich enteignet und nach ihren Vorstellungen genutzt. Die angebliche Wirksamkeitserhöhung war eigentlich Null. Keiner von den Demonstranten hatte je den Namen Vostell gehört oder ausgesprochen. Die dankten den Künstler auch nicht, dass sie ihnen solche Formen zur Verfügung gestellt hatten. Der Vorlauf von '68 war zehn Jahre Aktionismus der bildenden Kunst. Das war klar. Und die dritte Ebene war: Es hat keinen Sinn, im Vorhaben der bloßen Bestärkung der eigenen künstlerischen Identität sich zu isolieren, sondern es macht Sinn, zu kooperieren. Wir waren also gegen Isolation, den einsamen Künstler irgendwo, das Genie auf dem Lande. Das war für uns tabu. Das war sozusagen Rückständigkeit per se. Wer glaubt, er sei ein Originalgenie und könnte irgendwo in der Kammer dichten, galt als nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Man muss sich also kooperativ erweisen. Es gab ununterbrochen Kooperationsangebote von allen möglichen Galerien. Auch gab es dann die ersten Festivals, zum Beispiel die Kurzfilmtage in Oberhausen, wobei hier das Interessante nicht im Kino, sondern draußen stattfand.
JSS: Ich möchte gern auf das Hörstück „Grundgeräusche und ein Hörraum“ zurückkommen. Es ist eigentlich ein Strom assoziativer Zitate aus Musik von Songtexten und von Wasserburgen. Dann eine Sängerin: „Ich hab' getanzt, heut' Nacht'“, Türklopfen, dann kommt der Hühnerstall, dann kommt eine Mädchenstimme mit ihrem Papa, und so weiter. War das schon die Emanzipation des Geräuschs oder dieser bis dahin nicht so bedeutsamen Klänge?
Ich glaube, durch Varèse wussten wir alle die Bedeutsamkeit des Geräuschs richtig einzuschätzen. Über allem stand ja die Wilhelm-Busch-Zeile „Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden.“ Franz Mon hat's umgedichtet: „Geräusch wird störend oft empfunden, dieweil es mit Musik verbunden“, so ungefähr hieß diese Umkehrung. Es kam auf die Unterscheidung an zwischen der organisierten akustischen Wahrnehmung und dem informellen Citysound. Denn die ganzen Fünfzigerjahre hatten einen wesentlichen Impuls erst in den Sechzigerjahren realisieren können, nämlich als man wusste, was die Action Music der Fünfzigerjahre eigentlich bedeutete. Das war das Schlagwort, das damals nicht recht durchkam, Action Painting auch nicht. Die französische Summenformel „Informel“ war interessant. Das passierte erst, als wir merkten, dass Geräusche informelle Musik sind. „Informel“ heißt ja, etwas als Wahrnehmungsimpuls zu produzieren, was weder auswendig gelernt noch reproduziert werden kann, also die Hervorbringung von Einmaligkeit. Das hat es vorher nie gegeben. Alle wollten immer Sensationen des Einmaligen, Großartigen bringen, aber gerade im Sinn der Durchsetzung von Wiederholungszwängen, Wiederaufnahmezwängen. Wenn einer zehntausend Platten verkaufte, war das besser, als wenn einer nur Hunderte verkaufte. Jetzt war das umgekehrt: Je nicht reproduzierbar einmaliger, desto kostbarer. Das heißt, wenn jemand von irgendwoher ein Geräusch dokumentieren konnte, das man nicht reproduzieren konnte, also weder durch illustrierende Musik noch auf irgendeine Weise schauspielerisch oder sonstwie realisieren, desto wichtiger war dieses Geräusch. Und es gab eine Art von Wettbewerb um das besonders Informelle, weil man nicht mal daran denken konnte, irgendetwas Derartiges je synthetisch wiederherzustellen, nachzubauen, et cetera. Und das kollidierte dann mit dem Geniekult. Natürlich hatten alle diese großen Künstlergenies immer vorgehabt, etwas Einmaliges, nie Dagewesenes, über alles Vorgegebene Hinausgehende zu leisten, aber dann doch im Hinblick darauf, dass es geradezu vorbildlich, in jedem Falle aber beispielhaft für alle anderen würde.
Das war jetzt nicht mehr möglich. Was macht man aber, wenn man etwas produziert, etwas vorträgt, etwas lehrt, etwas politisch argumentativ in die Welt bringen will, das aber außer dem Moment, in dem es in Erscheinung tritt, keinerlei Bedeutung haben kann, weil es nicht reproduzierbar ist?
Auf dem Hof der Galerie Loehr produzierten wir in einem kleinen Raum Klangerzeugnisse, die nie wieder in der Welt erscheinen würden. Das heißt nur der, der teilnahm, sich dahinsetzte, würde es einmal in der Welt hören, dann würde es das nie wieder geben. Und jetzt mussten sich die Leute entscheiden: Wollten sie zu Vostells Zentralaktion gehen oder zu Helga Bayerles Bananen-Bügel-Aktion für meine Stücke, die von der Banane auf den Text übertragen gebügelt, runtergebügelt wurden, et cetera. Und das war erstaunlich, dass die Künstler selbst diejenigen waren, die zu dem Ereignis der Einmaligkeit gingen, also zu dem, was sie nie wieder in ihrem Leben hören würden. Nun kann man sagen: Was waren die großen Sensationen? Hätten wir alle unter dem Gesichtspunkt gearbeitet, wir wollen unsere eigenen Namen als Markenzeichen durchsetzen, wäre das uninteressant gewesen. Aber kein Mensch dachte an das Individualkünstlerische, so sehr auch Vostell einklagte: „Das sind meine Ideen“ oder Beuys sagte: „Fluxus steht nicht unter der Direktive von Maciunas.“ Aber sie wollten sich nicht selbst zu einer Art Herrengenius werden lassen, denn plötzlich war klar: Die wichtigen Ereignisse sind die, bei denen unvorhersehbar etwas geschieht, was nicht geplant, nicht gewollt werden kann, sondern nur durch die reale Anwesenheit des Betrachters in der Zufälligkeit der Situation oder des Zusammenwirkens von verschiedenen Parametern als Ereignis wahrgenommen wird. Man ging sozusagen auf die Jagd der Einmaligkeiten in dem Bewusstsein: Das wird es so nie wieder geben.
JSS: Also jenen Neuigkeitszwang oder -druck, den man hatte, auch in der Neuen Musik, das Neue zu finden?
Ja, aber das Neue war das, was sofort weg war. Es war sofort im Alten verschwunden. Sie konnten nicht sagen: „Ich habe etwas ganz Einmaliges erlebt!“ Ja, was denn? Es war ja nicht reproduzierbar. Das war dann die Kostbarkeit der Veranstaltung, die ausgerufen wurde: Das, was hier heute geschieht, wird niemals wieder irgendwo stattfinden. Man konnte nur durch seine eigene Präsenz das realisieren, was da geboten wurde, nämlich die unwiederholbare, nicht-reproduzierbare und auf Reproduzierbarkeit angelegte Ereignishaftigkeit des Geschehens. Das war der Inbegriff von Action, Ereignishaftigkeit. Happening war „it happens“.
JSS: Hat die Dimension, die Adorno ja sehr stark vertreten hat, dass mit der zeitgenössischen Musik auch eine Kritik der gesellschaftlichen Zustände verbunden ist, eine Rolle gespielt?
Hans G Helms und Heinz-Klaus Metzger haben sich ja sehr bemüht, Adorno als Repräsentanten der Avantgarde und des neuesten Neuen in Dienst zu nehmen. Adorno ließ sich aber gar nicht in Dienst nehmen. Außerdem war er eigentlich ein geborener Reaktionär, reaktionär insofern als etwas für ihn nur galt, wenn es programmatisch, das heißt, in diesem Fall kritisch gewürdigt werden konnte. Das stimmt ja auch. In der Wissenschaft gibt es nur eine Form der Anerkennung, das ist die Kritik, wenn etwas kritikwürdig ist. Das aber widersprach sozusagen dem Helmsschen Diktum. Er wollte unbedingt seine akustisch-musikalische oder Metzgers musikalisch-theoretische oder musikästhetische Programmatik durchbringen. Aber Adorno hat denen was gehustet. Der äußerte immer ganz reaktionäre Auffassungen. Adorno war kein Vertreter des Rechtfertigungsstrebens des Neuesten als neu, sondern immer nur des Alten durch die Sicht des Neuen. Und das war ja auch das, was wir selbst, also ich zum Beispiel, vertreten haben, als Avantgardetheorie.
Tatsächlich neu ist etwas, das, weil es neu ist, nicht gekannt sein kann, also auch nicht bestimmt werden kann. Wenn etwas neu ist, ist es leer. Es hat keine Bestimmung, sonst wäre es ja nicht neu. Was macht man damit? Man kann es zerstören, das ist Ikonoklasmus, und man kann es leugnen, verdrehen, ins Gegenteil kehren und so weiter. Das ist dann Politpropaganda von entarteter Kunst oder was immer. Oder man kann es im Hinblick auf das einzig Sinnvolle begründen, das Alte, das Traditionelle, das, was per se aus Bestimmtheit heraus erfassbar ist. Was ganz neu ist, hat keinerlei Bestimmung: es kann dann nur geschätzt werden im Hinblick darauf, wie sehr es unseren Blick auf das Alte verändert.
Wahrhafte Avantgarde ist nur das, was wahrhaft neu ist, nur das, was uns zwingt den Blick auf das Alte völlig zu verändern und das hieß, neue Traditionen zu stiften. Und das war auch ungefähr der Ansatz von Adorno. Insofern konnte er nie als Anwalt der Avantgarde in Beschlag genommen werden, auch nicht durch seine ihm schmeichelnden Assistenzfiguren Helms und Metzger. Metzger hat er sehr schwer misstraut, was der da so vorbrachte als Ästhetik.
JSS: Sie haben als Dramaturg in Luzern gearbeitet und haben da bereits Klangarbeiten innerstädtisch realisiert. Wahrscheinlich waren Sie diesbezüglich eher singulär unterwegs?
Damals waren es private Beziehungen zu Künstler, mit denen man so etwas machen konnte, in diesem Fall zum Beispiel zu Ingeborg Bachmann. Ich konnte sieben Stunden von Luzern nach Zürich telefonieren: Ich rief aus der Dramaturgie in Luzern an und am anderen Ende war Ingeborg Bachmann in der Wohnung von Max Frisch. Und diese sieben Stunden waren Schweigen. Wir haben das längste Schweige-Stück der Weltgeschichte aufgeführt. Sieben Stunden ohne einen Ton. Ab und zu hörte man einen Seufzer oder einen Atmer oder so etwas, aber es geschah eigentlich nichts. Das waren dann so Legendenbildungen. Da konnte man dann Adolf Muschg anrufen und sagen: Übrigens gerade haben wir einen Weltrekord aufgestellt: sieben Stunden. Und Muschg schrieb darüber in der Zeitschrift „DU“.
Ich habe [1962] den Bühnenbildnern des Theaters gesagt: Baut mir bitte eine Kugel, in die hinein eine Lärmmaschine gesetzt wird. Wie ihr das macht, ist mir egal, aber die Kugel muss verschließbar sein, so dass man das dort drin vor sich gehende Geräusch des Erdinneren nicht hört. Mit der Kugel ging man wie mit einer Handtasche spazieren in der Gewissheit, man trüge ein unhörbares, akustisches, dramatisches Geschehen als Handtasche mit sich herum. Ab und zu machte man den Kasten auf, und dann bollerte es wirklich raus. Dann musste man es schnell wieder zumachen, weil es die Leute auf der Straße erschreckt hat. So etwas gab es. Oder auch meinen „Säkulator“ [von 1960] zum Beispiel, sechsundzwanzig nebeneinanderliegende Schlitze mit jeweils den Buchstabenfeldern auf einer Achse, der dann im Laufe – ist auch in einer Ausgabe von „DU“ alles berichtet – einer bestimmten Zeit die gesamte Literatur, die bis dahin geschrieben war, reproduzieren würde. Alexander Kluge hat das später mit elektronischen Anzeigetafeln nachgemacht. Das waren alles so Konsequenzen aus der Möglichkeit, über die Theatertechnik zu verfügen. Im Theater muss ja dauernd Geräusch gemacht werden, in Bühnenstücken bekanntes Gewittern durch das Zusammenschlagen von Blechen oder so etwas, das liegt ganz nahe. Wenn man im Theater ist, kommt man sowieso auf akustische Kompositionen, die sozusagen ein visuelles Geschehen umsetzen in eine akustische Wahrnehmung.
SF: Welche Bedeutung spielt das Umsetzen von dem, was Sie durch Akustik mitteilen wollen, für Sie? Ich meine jetzt nicht unbedingt die hörbare Sprache, das Sprechen.
Wir haben ja gestern (1) gehört, dass es keine Entkopplung von der semantischen Ebene gibt. Man kann nicht sagen: bloß Geräusch und keine Sprache. Alles Akustische ist sprachlich codiert. Alle sind umgerechnet auf einen semantischen Kontext, ob irgendetwas quietscht, schreit oder knallt. Es wird sofort in semantische Zusammenhänge eingeordnet: Gewehrschuss, Ratten quietschen, Maus ist gefangen, oder was auch immer. Es geht gar nicht anders. Und das ursprüngliche Konzept, die Welt noch einmal zu schaffen jenseits der visuellen Einprägsamkeit, auf der Ebene der akustischen Wahrnehmung, und zwar jenseits der Programmmusik, die die Musikgeschichte seit dem siebzehnten Jahrhundert geboten hatte, seit Monteverdi meinetwegen, das ist alles gescheitert.
Das heißt, heute weiß man ganz genau, dass nicht mal die Umcodierung gelingt, also ein gewohntes Koppeln von akustischen Signalen mit semantischen Bedeutungen mutwillig zu durchbrechen. Denn selbst in der Durchbrechung hört man immer noch das ursprünglich Codierte raus. Das Einzige, was es gibt, ist, dass in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen je andere Kodierungen vorgenommen werden zwischen akustischen und semantischen Ebenen. Das heißt dann, man hätte eine Chance, etwas von der Vielfalt der Weltdeutungen wahrzunehmen, was aber daran scheitert, dass man bei den anderen Kulturen ja eben gerade diese semantische Ebene sich nicht erschließen kann, weil man die Sprache nicht spricht. Wie man es sieht, es führt nicht weiter.
SF: Sind Geräusche denn kunsttauglich?
Natürlich. Das ist ja im Sinne des Informel kunsttauglich insofern, als es ein einmaliges Ereignis gibt, unwiederholbar, unwiederbringlich. Das ist natürlich eine hohe Kunstfertigkeit, so etwas zu selektieren, Oberhaupt wahrzunehmen als einmalig. Hören Sie mal jetzt etwas, was Sie noch nie gehört haben, das ist schon eine große Anstrengung.
Aber Geräusche erzeugen, als strukturierte Zwischenräume zwischen musikalisch formulierten, ist wahrscheinlich genau dieselbe anstrengende Arbeit wie das Komponieren selbst. Insofern ist Geräusche-Erzeugen auch ein Komponieren, und es bleibt bei der semantischen Kopplung. Das Entkoppeln dient nur dem Erfahrungssinn, dass man nie aus der Bindung von Zeichen und Bedeutung rauskommt. Und die Pragmatik ist dann vielleicht veränderbar. Aber wir haben immer die Trias – Vater, Sohn, Heiliger Geist ist die theologische Begründung – von syntaktisch, semantisch und pragmatisch auf jeder Zeichenebene, und dem können Sie nicht entkommen.
SF: Wie geht es Ihnen, wenn Sie ein Streichquartett hören? Die Gattung, allein schon die Formation der Instrumente, besitzt eine gewisse semantische und kulturgeschichtliche Bindung: die Produktion aber ist ja doch eine sehr abstrahierte.
Man kann sagen, dass die moderne Musik der Neutöner jetzt bewusst den abwertenden Begriff aufnimmt und es erst zu einem wirklichen Erlebnis gemacht hat, klassische Kompositionsverfahren zu würdigen. Erst die avantgardistischen Versuche, neben die Musik die Geräuschkomposition oder die akustische Indifferenzwahrnehmung zu setzen, hat den Blick und das Ohr für die gewählte bestimmte musikalische Ausdrucksform hoch entwickelt. Ich will es mal so sagen wie in der bildenden Kunst: Wir lernen erst durch einen Maler wie Rothko wertzuschätzen, was auf der kulturellen Ebene vor sechshundert Jahren schon von analphabetischen Frauen im nordpersischen Raum an Teppichen gewirkt wurde. Damals gab es den Begriff der Kunst nicht, das war handwerkliches Tun. Es war innerhalb der Kulturen eine kodierte Form, wurde auch in Ritualen und Liturgien der Kulte verwendet und hatte gestalterisch ein sehr hohes Niveau. Aber das jetzt in dem gestalterischen Niveau jenseits der bloßen Gebrauchsfähigkeit im Kult zu würdigen, das lernt man erst durch die Avantgardekunst selber. Mit anderen Worten, in der bildenden Kunst durch Braque und Picasso, Nolde durch seinen Besuch in der Südsee oder durch die Franzosen, die nach Haiti gingen – durch den Blick der modernen Künstler wurde klar, welche ungeheure Höhe die kulturellen Bildungsphänomene hatten, beziehungsweise Ausdrucksformen, Gestaltungsformen, Gestaltungsniveaus, die nie als Kunst gemeint waren, sondern dem Kult dienten. Das verdanken wir der freigewordenen Energie des künstlerischen Arbeitens gegen alle kulturelle Bildung. Denn Kunst entsteht ja nur da, wo man nicht mehr durch das kulturelle Backing, die Autorität des Vaters oder von Anstand und Sitten oder des Oberkanzlers oder des Preisgremiums oder der Geldgeber hinter sich agiert, also da, wo es nur noch Autorität durch die Autorschaft selbst gibt, wo sich künstlerisches Arbeiten nur auf ein Individuum hin legitimiert. Dadurch aber, dass wir das, was wir als Künstler vorgebracht hatten – ob optisch oder akustisch, ist eigentlich egal –, sich in dieser ausgezeichneten künstlerischen Arbeit erst beweist, indem es die herkömmlichen Ausdrucksniveaus der kulturellen, nicht künstlerisch gemeinten Formgebungen klarmacht, legitimiert sich ja die Avantgarde.
SF: Wenn ich Sie einlade, noch einmal eine akustische Arbeit zu machen, im Außenraum, im Innenraum, mit Studios, ohne Studios, was fiele Ihnen ad hoc ein?
Es fiele mir ein, die Aufarbeitung dessen, was mit der Ideologie des inneren Monologs verbunden war und nur literarisch sich dargestellt hat, auf die wirkliche intrapsychische Dynamik auszurichten. Denn wir wissen ja von den Psychologen – in toto jetzt gesprochen –, dass die Verbalisierung intrapsychischer Vorgänge. relativ begrenzt ist. Da kann man nur sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, und dann kann man die Betonung ein bisschen ändern. Vielleicht kennt man dieses Herzrasen, aber das ist ja eigentlich nur neurophysiologisch manifest. Was aber passiert tatsächlich in der Stimulierung unseres Weltgedächtnisses? Wenn wir uns fragen: In welchem Verhältnis steht die Erinnerung als visuelles Phänomen zur Erinnerung als akustisches Phänomen? Das ist für mich gegenwärtig eine der interessantesten Fragestellungen: Wie weit wird Erinnerung durch visuelle, abrufbare Wahrnehmung bestimmt, und wie weit durch akustische? Das ist extrem spannend.
Das lässt sich an verschiedenen Formen anschaulich machen. Zum Beispiel können wir jetzt dazu aufrufen, Romane nicht mehr zu lesen, sondern zu leben. Wenn man also einen Tag im Leben eines Lesers von „Wilhelm Meister" darstellt, als einen gelebten Roman und nicht mehr als gelesenen Roman, dann ergibt sich eine andere Art der Erzählung. Ich habe das früher einmal gemacht, das ist in dem Band „Theoreme. Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht.“ (Köln 2017) auch drin. Da wurde gesagt: „So zu leben, wie man liest.“ Wenn es im Leben hieß: Und dann putzt er sich die Zähne, dann kann man das im Roman nicht mit dem Satz „Er putzte sich die Zähne“ innerhalb von zehn Sekunden abarbeiten, sondern man muss das Zähneputzen genauso lange beschreiben, wie es auch dauert.
SF: Zweieinhalb Minuten ...
... oder noch länger. Inzwischen ist es, glaube ich, drei Minuten in dieser automatischen Schaltung. Drei Minuten. Dann schreiben Sie mal drei Minuten darüber. Das ist sehr interessant, wenn man das jetzt generell übersetzt auf intrapsychisches Verfahren. Was bringen wir eigentlich noch als intrapsychisches Erleben auf die Bühne? Was rumort da in uns? Alle Großen haben immer wieder davon gesprochen, dass, wenn wir erst einmal die Stöpsel rausziehen würden, dann würde es aus uns rausbrechen, dann wäre kein Halten mehr, dann gäbe es nur noch Mord und Totschlag und Ehebruchsgelüste und Ausrauben, also die geheimen, freigesetzten Wünsche der Bevölkerung.
SF: Wie ist es bei Ihnen? Führen Sie so etwas wie ein Tagebuch? Ich vermute mal, so wie Sie es gerade gesagt haben, besitzen Sie ein mannigfaches Geflecht akustischer Erinnerungen.
Da kann man eigentlich im Nachhinein alle Menschen, die man kennengelernt hat, im Hinblick auf ihr akustisches Profil – heute würde man sagen, den Footprint – betrachten. Die akustische Wahrnehmung, die ungeheuerlich reichhaltig und auch differenziert ist, hinterlässt immer noch den stärksten Eindruck.
SF: Zu den Konglomeraten von Geräuschen, die Sie in der Erinnerung begleiten, gehören auch Kriegsgeräusche?
Die sowieso. Wir haben das Ontoakustik genannt, das ist kennzeichnend für unsere Generation. Für Peter Weibel gibt es auch noch das tatadam, tatadam der fahrenden Eisenbahnen auf den fugendurchschnittenen Schienen, auch das ferne Hundegebell. „To ón“ ist auf griechisch das Sein, Ontoakustik heißt also das, was das Dasein in der Welt prägt, durch die Art der Kopplung der Sinneswahrnehmung. Synästhesie nennt man das, durch diese Cluster, die da gebildet werden. Diese Cluster sind alle durch das beherrscht, was Ontoakustik heißt, durch die akustische Wahrnehmung, also alle Cluster, die die verschiedensten Medien vermitteln, die körperlichen Druckverhältnisse, Wahrnehmung, Schwitzen, et cetera, durch Bündeln im akustischen Signal.
Leider gilt das für Leute, die fünfzehn Jahre junger sind, schon nicht mehr. Das ist tragisch. Denken Sie nur mal an das Signal, das seit 1956 von der „Tagesschau“ ausgeht, diese Fanfare. Das ist wahrscheinlich für die bundesrepublikanische Gesellschaft seit Mitte der Sechzigerjahre das entscheidende ontoakustische Signal. Dann gibt es ein optisches: Das ist dieses mattblaue Leuchten hinter Fensterscheiben, weil man weiß, da leben Menschen, die jetzt alle das Gleiche sehen, nämlich Mitteilung, also diese beiden Ebenen. Trotzdem ist das akustische Signal stärker als das optische Signal. Eine Gesellschaft auf so etwas hin zu untersuchen: Was sind eigentlich die prägenden Muster, nach denen alle den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft organisieren? Das ist sicherlich als breites Feld akzeptiert. Nur möchte ich das nicht aufrufen als etwas, das es gibt, sondern als etwas, das man trainieren muss. Also sozusagen Volkshochschulkurs für die Ausbildung von Erinnerung, durch die Fähigkeit zur Speicherung von komplexen Verbindungen zwischen akustisch-visuellen, haptisch-olfaktorischen Signalen. Der Geschmack spielt eine ganz große Rolle dabei. Das haben wir bei der documenta '77 systematisch dargestellt, mit schwarzem Käse. Das lief eigentlich alles ganz gut. Die Frage wäre: Wie sieht die Welt unter diesem Gesichtspunkt aus?
Ich hatte mal, das muss auch ungefähr Mitte oder Ende der Sechzigerjahre gewesen sein, bei der Post beantragt – das stand auch im Frankfurter Telefonbuch, es gibt noch Telefonbücher, wo das eingetragen ist –, einen Telefonanschluss ins Grab zu schalten, mein potentielles Grab. Damals haben wir die Anrufe gespeichert, die ins Grab kamen. Was teilt man eigentlich einem Toten mit? Es gibt sehr rührende Berichte von Anthropologen, dass in bestimmten Kulturen die Mitteilung an die Toten die entscheidende Form der Autorisierung ist. Diejenigen, die am besten mit Toten kommunizieren können, sind die Führer in spiritueller Hinsicht. Bei Kriegerhäuptlingen spielt dies auch noch oft eine große Rolle: das Gespräch oder das Wahrnehmen oder das Orientiertsein auf das Gewesene, eben Gedächtnis und Erinnerung. Die Frage ist: Was heißt mit den Toten sprechen eigentlich? Seit altersher ist es immer meine Vorstellung gewesen: Kulturelle Einprägung ist nichts anderes, als zu lernen, mit den Toten zu sprechen.
Wenn man Goethe liest, hat man sofort eine akustische Wahrnehmung. Und wenn man dann von ihm hört, wie empört er über Geräuschbelästigung war, das passt einfach nicht zu dem, was man als Bild von Goethes Zeit hat, wie er da gelebt hat. Aber er beschwert sich genauso über den Straßenlärm und aber die stinkende, verpestete Luft im Paris am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, wie man es heute tun würde. Es muss die reine Hölle gewesen sein. Da merkt man plötzlich, dass man sich offenbar in der heutigen Einschätzung irrt. Die Rebellion gegen Straßenlärm gibt es seit den römischen Satirikern, also die ersten fünfzig Jahre nach Augustus, die ersten fünfzig Jahre der Zeit nach Christi Geburt, enthalten genau dieselbe Kritik an Großstadtlärm, an verpesteter Luft, an Nepp, an Mietpreiserpressung wie heute. Trotzdem sah ihr Geld vollständig anders aus. Die erinnerte Welt, das erinnerte Leben ist im Wesentlichen akustisch dominierte Wahrnehmung.
JSS: In Ihrem Hörstück „Jeremia Casting“ (2010) heißt es: „Das Einzige, was Europa der Welt übergeben hat, ist das Museum.“ Und: „Jeder trägt eben sein gesamtes Welterleben als akustisches Museum im Kopf. Wir sind das Schallarchiv unseres Weltbezugs“ Ist das eine Form der Klangarchäologie, die wir quasi dauernd in uns betreiben?
Natürlich, das ist ja, was Erinnerung ausmacht. Die Welt ist nicht das, was der Fall ist, sondern das, was der Ton ist. Die Welt ist das, was das Hörbare ist. Auch bei Depravationserlebnissen ist immer mehr klargeworden: Die schlimmste Depravation ist die akustische Depravation. Wenn Sie jemanden in eine hörisolierte Kammer bringen, dann wird er als Erstes einer schweren psychischen Störung unterliegen, jedenfalls sehr viel früher, als wenn Sie ihn visuell der Wahrnehmung berauben.
Wenn er in einem dunklen Raum alles hört, dann ist er weniger gefährdet, als wenn er nichts mehr hört und alles sehen kann im Raum. Das ist schon erstaunlich, da muss es einen direkten Bezug geben. Man sagt ja auch das ist der Primärsinn: Ab der einundzwanzigsten Schwangerschaftswoche entwickelt sich der Hörsinn.
Wie ist es eigentlich mit den letzten Sinneseindrücken? Man sagt, es zieht das ganze Leben noch einmal vorbei. Aber wenn man sich die Quellen richtig anguckt, dann heißt es immer, man hört noch einmal das ganze Leben.
JSS: Die Tibeter sagen, dass der Hörsinn zuletzt stirbt.
Zum Beispiel, wenn man betäubt wird im Krankenhaus. Ich habe das selber erlebt. Man soll operiert werden, und der Anästhesist sagt, alles okay. Dann hört man noch alles, was die sich sagen. Aber objektiv ist man gefühlslos. Das ist ein nachgewiesenes Phänomen. Sie können jemanden wirklich anästhetisieren, aber er hört noch alles. Und das ist ein starker Beweis dafür, dass der Primärsinn eben doch das Hören ist.
JSS: Ihr Stück „Fininvest“ (1998) besteht aus 125 ausgewählten Schlusswendungen. Gibt es eine Komposition aus allem oder sind das nur Schlüsse?
Nur Schlüsse. Es gibt keinen Schluss als Abschluss einer Sequenz, sondern es gibt nur einen Schluss als permanente Anwesenheit des Ganzen. Sie können nicht etwas, was verlaufen ist, zusammenfassen in einem Ganzen. Dann ist ja das, was verlaufen ist, schon verlaufen. Sie können dann nur in einem aktuellen Erlebnis das Ganze als einen Wahrnehmungseindruck organisieren. Aber der ist permanent da. Das heißt, das Ganze ist so permanent, dass es als Ganzes immer in Erscheinung tritt. Ich weiß nicht, wie viel Dutzende von Sachen wir gemacht haben, die hier und da überall verstreut herumliegen. Man sagt sich ja nicht, das ist zum Teil dadurch fruchtbar geworden, dass es andere gemacht haben und es systematisch entwickelt worden ist. Aber der Trost ist, dass kaum jemand sehr viel weitergekommen ist. Alle diese Experimente zeigen, dass, wenn jemand etwas Richtiges im Experiment angelegt hat, er in dem Augenblick, in dem er experimentiert, auch schon alles hat, den Beginn und das Ende, das Konzept und die Konsequenz daraus. Das ist alles bereits da und nur, wenn das da ist, gelingt so ein Experiment tatsächlich auch. Wenn aber jemand meint, ich experimentiere, um irgendwann mal zu einem Resultat zu kommen, dann ist das Ganze vergeudet. Das heißt, der entscheidende Punkt ist bei all diesen künstlerischen Arbeiten, im Unterschied zu wissenschaftlichen: Man darf es nicht auf eine Phase der Entwicklung eines Resultats wie in der klassischen Dramaturgie abzielen lassen, wo am Ende nur eine Summe steht, sondern alles, was man denkt, konzipiert, worauf man abzielt, muss von Anfang an als Ganzes da sein.
Deswegen sind alle künstlerischen, akustischen wie auch visuellen Experimente derart überzeugend, weil von Anfang an alles da ist, und nicht erst: Jemand hat eine Idee, dann wurde das ausgeführt und so und so umgesetzt, und dann wurden die Schlussfolgerungen daraus gezogen. Das ist empirische Wissenschaft, aber dabei kommt ja nie was raus. Das Tollste ist eben doch die Setzungshandlung, Intuition heißt, auf einen Schlag alles zusammenzuhaben, von der Anfangsfrage bis zur möglichen Konsequenz, die sich aus dem Ganzen ergibt. Dieses Zusammenfassen in einem Cluster, das ist ja auch eine musikalische Großstruktur. In der Symphonie gilt eben, dass sie alle zusammen klingen. Ja, natürlich weiß man, wie sich ein Thema entwickelt, aber das wäre wieder programmatisch. Das ist bei der Arbeit im Jenseits der Musik, also im akustischen Raum, nicht möglich. Natürlich kann man sagen, der Dopplereffekt ist entdeckt worden, weil man beobachtete, wie die Geräuschkulisse sich verändert, wenn ein Zug aus der Ferne auf der Höhe des Hörenden ankommt und sich dann entfernt. Das ist wissenschaftlich interessant, aber künstlerisch immer nur dann, wenn alles auf einmal da ist. Keiner kann bei aller klassischen Dramaturgie sagen, wie sich der Anfang zum Ende hin organisiert. Selbst bei Klassikern wie Lessing heißt es ja nicht, du brauchst eine Dramaturgie, um eine Sache von ihrem Anfang zu einem Ende zu führen, sondern du brauchst eine Dramaturgie, um eine Sache so hochzustemmen, dass das Stück einen Höhepunkt hat. Das Künstlerische beruht immer auf dem Gesamtzusammenhang, der jeden Augenblick da ist. Also deswegen ist das Gesamtkunstwerk-Konzept eben nicht ein additives Hinzufügen von allem Möglichen, sondern in jedem Augenblick ist alles da.
JSS: Höchste Dichte.
Höchste Dichte, und natürlich Permanenz. Das heißt, wenn einer es fertigbringt, das sozusagen auf diesem Niveau zu halten, dann ist das schon der liebe Gott selbst, das ist die Welt. Mein akustisches
Grundrauschen, das haben die mir rausgeschnitten. Da hatten wir ausgerechnet von einem Wasserwirtschaftler die Berechnung, wie groß der Strom der Ejakulate sein würde, die männliche Menschen jede Nacht ausstoßen. Man muss sich vorstellen, dass das Ganze sich irgendwie in dem Vorhandenen der Welt verteilen muss, es muss ja irgendwo bleiben. Und es würde jeden Abend ein Riesensee erzeugt werden. Die Vorstellung war, dass die Menschheit doch eigentlich in der Fruchtbarkeit ertrinken müsste. Das ist eine künstlerische Idee, sich das vorzustellen.
SF: Herr Brock, wie schult man das Hören?
Eben durch die Fähigkeit, Stille wahrzunehmen. Das ist das, was den meisten Menschen abgeht. Da haben wir selbst gute Beispiele von Bekannten: Die schlafen bei offenem Fenster im rasenden Verkehr, auf der Hohenstaufenstraße, das ist unvorstellbar. Ich kannte solche Leute. Sind es diejenigen, die stumpf sind gegenüber akustischer Wahrnehmung? Man weiß doch, dass man die Ohren nicht zumachen kann. Wo bleibt dann die Schallwahrnehmung, und wie wird sie aus der bewussten Wahrnehmung verdrängt, wohin eigentlich? Es wird immer behauptet, das sei nicht krankmachend. Aber alle, die wir kannten, sind tatsächlich dadurch krank geworden. Sie können die Ohren nicht schließen. Das ist das neurophysiologisch Herausragende am Hörsinn. Sie können die Augen schließen, Sie können den Geschmackssinn, Geruch vielleicht nicht ganz, aber doch immerhin soweit runterdimmen, dass Sie wirklich keinen Geruch mehr im Raum haben, aber akustisch geht das nicht, außer man nimmt Ihnen bewusst die Fähigkeit zur akustischen Wahrnehmung. Man kann am besten lernen zu hören, indem man beginnt, die Stille zu hören. Das ist ganz erstaunlich. Gerade Liebespaare hatten die Tendenz, sich wechselseitig darauf aufmerksam zu machen, wenn sie mit Lichtenberg und Daniel Chodowiecki im achtzehnten Jahrhundert spazieren gingen und nicht die manierierte aristokratische Form verwendeten, sondern die bürgerliche. In Innigkeit wollten die immerzu sagen: „Hörst du die Stille, Geliebter?“ „Ja, ich höre sie, Geliebte.“ Das ist erstaunlich. Wahrscheinlich liegt es daran, dass man den Erinnerungseindruck neutralisiert oder wegschiebt, damit Freiraum für die akustische Wahrnehmung dieser spezifischen, gerade mit einem gehenden Person bewahrt werden kann.
Das Gespräch wurde am 6. Dezember 2018 im Berlin geführt. [Diese Fassung wurde im Vergleich zum gedruckten Text leicht korrigiert.]
Anmerkung:
(1) ‚Die Eröffnung des Bildsinns durch das Ohr – Das Bild als Echoraum. Die Bildbeatmung. Das sprechende Bild ist da.‘ Entkopplung: Bild | Video | Raum | Sound, Bazon Brock / Johannes S. Sistermanns, Einführung – KlangPlastik – Bildechos – Gespräch, Denkere Berlin, 5.12.2018.
Theoretisches Objekt · Termin: 01.01.1960 · Veranstaltungsort: Luzern, Schweiz · Veranstalter: Stadttheater Luzern
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla
Aktion · Termin: 01.06.1971 · Veranstaltungsort: Frankfurt am Main, Deutschland · Veranstalter: Experimenta · Veranstaltungsort: Hauptwache, Frankfurt am Main
Audiowerk · Erschienen: 01.01.1998
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Radiobeitrag · Erschienen: 07.01.2021, 21:30 Uhr · Station: HR 2 Kultur · Sendung: Neue Musik · Length: 60 min