Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
09.07.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
09.07.1994

Peng, peng!

Rund 200 sollen es gewesen sein - die Besucherzahl eines kleinen Kammerspiels, die den chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng am Brandenburger Tor in Berlin und vor dem Goethe-Haus in Weimar veranlaßten, die Inszenierung seines Besuchs in der BRD abzubrechen. Ein Theaterskandal, um den ihn selbst Peymann und Castorf beneiden. Als dramatische Person seiner bisher wirksamsten Rolle zeigte sich Bernd Kauffmann, Präsident der Stiftung Weimarer Klassik,
der staatstheaterreif vor Herrn Li Peng deklamierte: "Dieses Goethe-Haus ist steingewordenes Zeugnis der deutschen Klassik, eines Denkens und einer Haltung, die der Würde, der Freiheit und der Unverletzlichkeit der Person ... " An dieser Stelle kam Unruhe auf, denn Herr Li Peng unterbrach den Redner mit dem Hinweis, daß er den Faust und Werthers Leiden selbst gelesen habe. Kauffmann (!) brach darauf seine Rede ab und verließ unter Protest das Goethe-Haus. Welche dramatische Konstellation: Staatsgast beleidigt, Gastgeber beleidigter Beleidiger in versteinerter Klassik, und die Würde als Freiheit zur Beleidigung bewiesen.
Aber Herr Li Peng kannte seinen Goethe tatsächlich besser als der Goethe-Direktor. Hatte nicht Goethe am selben Orte ständig die Vorwürfe aushalten müssen, er habe angesichts der Taten des Schlächters Napoleon komplicenhaft geschwiegen und, in Staatsgeschäfte vertieft, sich zum Büttel der Fürsten gemacht, die die Würde, die Freiheit, und die Unverletzlichkeit der Person, also die Menschenrechte, mit Füßen träten? Die Szene wurde zum Tribunal gegen die anmaßliche Klassikerverharmlosung deutscher Kulturstifter, die diese Größen nutzen, um ihre eigene humanitäre Selbstüberhöhung mit Goethes Autorität zu stützen. Welch eine Lektion erteilte der chinesische Germanist der germanistischen Phrasendrescherei.
Deutsche Goethekenner wurden blamiert, der Goethekult als Touristenspektakel enthüllt, als ein Besucher erschien, der als Ministerpräsident Goethe näher kam als die Bildungsverwerther, die heute noch vön ihm leben.
Der telepräsente Zuschauer sah schemenhaft Madame Vulpius furios treppab rauschen, um die marodierenden Goetheausbeuter aus dem Haus zu vertreiben, wie sie es einst mit den marodierenden Soldaten Napoleons getan hatte. Derweilen stand Diepgen immer noch einsam vor dem Brandenburger Tor, um Herrn Li Peng durch das Proszenium des preußischen Klassizismus zu führen - weltweit als steingewordenes Zeugnis deutscher Überheblichkeit und anmaßlicher Belehrung bekannt und von ambivalenter Größe - wie jede Klassik, die die Oberlehrer düpiert.
Li Peng, chinesisch bedankte sich angemessen: Er versprach, sofort die Grenzen für Millionen Landsleute zu öffnen, damit sie lebenslang unter Brandenburger und Weimarianischen Toren humanistischer Bildung teilhaftig werden könnten. Herr Vogel, Bernhard, so Peng generös, solle sie möglichst bald persönlich aus China abholen.