Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
04.06.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
04.06.1994

Identitäten

Je empörter und grundsätzlicher die Anklagen gegen den Neofaschismus und die Neonazis vorgetragen werden, desto ... ? Ja, desto weniger weiß man, worin sich die Empörer von den vereinigten europäischen Rechten noch unterscheiden. Im Bekenntniseifer, in der Radikalität der Argumente, im missionarischen Ton gewiß nicht. Und in der Sache?
Bei seiner Bewerbung um die Nachfolge Delors' als Präsident der EU-Kommission in Brüssel hielt es der abgedankte niederländische Ministerpräsident Lubbers für vorteilhaft, den "Aufbau einer europäischen Verteidigungsidentität als vordringliche Aufgabe" zu fordern, wie bitte? Was bitte? Zu verteidigende Identität oder Identität der Verteidiger oder eine Identität der Verteidigung? Auf jeden Fall die neueste Strophe im Chorgesang der Eurogeister. In der vorhergehenden Lyrik bejubelten sie die kulturelle Identität, die sogar verfassungsgrundsätzliche Forderung, jeder Kochkurs und jede Kneipengemeinschaft seien zu respektieren und zu fördern, sobald sie sich als Träger einer je besonderen kulturellen Identität darstellten. Da es solche Kulturaktivisten in jedem Stadtteil gibt - als Stadtteilkultur mit Stadtteilidentität-, da es also viele verschiedene Identitäten gibt, seien wir eine Multiidentitätsgesellschaft. Und das gelte nicht nur für die kollektiven Identitäten; denn jeder Yuppie bringt es persönlich mindestens auf ein Dutzend Identitäten, darunter sogar die postmoderne Identität der Multiidentitätsträger. Amsterdam war ihr Dorado und der niederländische Multikulturalismus ihr Bekenntnis. Die alle sollen sich nun vereinigen, um Europa gemeinsam gegen Afrika und Indien, gegen Rußland und Südostasien zu verteidigen, so Lubbers.
Kann er nicht bemerken, will er nicht bemerken, wie er damit einer zentralen Forderung der vereinigten Rechten zu EU-offizieller Anerkennung verhilft? Wenn er das nicht sehen will, warum dann das niederländische Pathos im Kampf gegen die Gefahr von rechts? Wenn er es nicht sehen kann, ist er nicht das erste prominente Opfer jener fatalen Logik, die mit der Behauptung der Identität und Eigenständigkeit jeder Kulturgemeinschaft in Gang gesetzt wurde. Rechts rüstet mit linken Argumenten auf, links verteidigt sich mit rechten Konzepten, und das alles im Namen hehrer kultureller Werte, die zu verteidigen in die blanke Barbarei führt. Wie viele Beweise verlangen wir dafür der Geschichte noch ab?