Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
24.12.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
24.12.1994

Spekulatius

Um den ollen Germanen die Annahme des Christentums zu erleichtern, erlaubten die klugen Missionare, alte Bräuche in den neuen Festkalender zu übernehmen. So kamen wir zu den Ostereiern und dem Lichtfest. Wenn es jetzt darum geht, den neuen Heiden den Übertritt in die Weltzivilisation zu predigen, damit sich religiöse Überzeugungen nicht länger als fromme Legitimation brutalster Religionskämpfe auswirken können, möchten auch wir uns als kluge Missionare bewähren.

Das Christkind steht vor der Ladentür. Seine Insignien im öffentlichen Raum müssen ohnehin der political correctness geopfert werden, desgleichen die Behauptung, die Welt könne durch die Geburt des christlichen Messias erlöst werden. Die Logik der Dummheit ist unerbittlich. Beschränken sich die Christen auf ihre Erlösung durch den geborenen Heiland, wirft man ihnen vor, sie sähen sich als Auserwählte, die sich vom Rest der Menschheit absetzten. Erhöben sie hingegen im Namen des Herrn Jesus Anspruch, für alle Menschen zu sprechen, bestätigten sie nur den Vorwurf imperialistischen Machtgebarens. Also ein Vorschlag zur Güte: Aus dem christlichen Festkalender übernimmt die Weltgesellschaft, die Gemeinschaft aller Zivilisierten, Pfingsten als Fest der Vielsprachigkeit - ausgerichtet vom Weltverband der Übersetzer. Sie übernimmt Ostern als Fest der Opfer von Justiz und religiösem Fanatismus und eben Weihnachten als Fest der Neugeborenen. Denn wir bedürfen alle der feierlich bestätigten Hoffnung, daß die Nachgeborenen ihre Sache besser machen werden als wir, die wir uns schon zu weit verrannt haben in die Wahnhaftigkeit unserer religiösen Überzeugungen, die Grenzenlosigkeit kultureller Freiheit und die Bedingungslosigkeit sozialer Lebenschancen. Wir können nicht leben ohne die Hoffnung auf die nächste Generation, das sagen wohl alle Menschen. Aber Weihnachten muß gefeiert werden, damit die Hoffnung auch zu einer förmlichen Verpflichtung wird, alles daran zu setzen, der neuen Generation das Leben überhaupt zu ermöglichen. Das wäre nicht der Fall, wenn sich durch ökologische Verwüstung und durch Überbevölkerung die Lebensspannen unserer Nachfolger auf die des Herrn Jesus verkürzten. Deswegen wäre Weihnachten auch als Fest der Familienplanung der Weltgemeinschaft anzuempfehlen. Joseph und Maria vorbildlich für die Einkindfamilie - viel mehr darf sich, wer zivilisiert heißen will, zumindest in den nächsten drei Generationen an Nachwuchs nicht leisten.

Die Ankunft der Neugeborenen zu feiern, heißt, ihre Zahl strikt zu begrenzen und ihre zukünftige Lebenswelt nicht in eine Müll- und Gifthalde zu verwandeln. Daran gemessen, erweisen wir uns als Weihnachtsheuchler; die nächste Generation ist uns komplett wurscht, ihre Zukunft haben wir bereits bis zum Jahre 2010 verfrühstückt - rein ökonomisch gesehen. Unsere Häuser bauen wir auf Abriß; und wo es damit nicht schnell genug geht, sorgen gegenwärtig 41 Kriege dafür, daß die Neuankömmlinge nackt und bloß auf freiem Felde liegen werden. Oder hieß gemeinerweise gerade das Weihnachten, immer wieder in jeder Generation bei Null anzufangen, weil wir insgeheim den nachfolgenden Generationen nicht gönnen, es besser zu haben und gar mehr zu können, also intelligenter zu sein als wir?

Wie setzen wir dagegen Weihnachtswürde?
Indem wir bedenken, ob nicht die grassierende Gewalt in den Familien dem insgeheimen Haß und Neid der Lebenden gegenüber den Kommenden entspringt: Die haben ihr Leben noch vor sich, uns entschwindet es unabdingbar. Insoweit Zukunft nicht mehr als ewige Fortdauer unseres Lebens in Werken der genetischen und extragenetischen Vererbung, in Kindern, Büchern und Bauten angenommen werden darf, sondern als möglichst rasche und möglichst vollständige Veränderung alles dessen, was jetzt ist, läßt sich wohl diese Kränkung und diese Konfrontation mit unserem Versagen leichter ertragen, wenn wir Weihnachten feiern als Abschied von uns selbst.