Das Plädoyer von Bazon Brock ist ein Textgewitter wider die von der sogenannten Kreativindustrie gepredigte geniebetonte Egomanie. Er entzaubert die Mär von einem Ego, das erst geschützt von Exzellenz und Elite zur Hochform auflaufe. Dass Eliten heute in verkapselten und saturierten Realitäten leben, eliminiert für ihn die Möglichkeit, Utopien zu denken und damit Autonomie zu erleben.
Die Volksmythologie des Künstlertums betont nicht zuletzt im geraunten Namen »Genie« die Aura des Einzelgängers: Der einsame Mann im Ring, der Kämpfer auf verlorenem Posten, der Seismograf der unverstandenen Botschaften aus der Zukunft, der bis zur Amoralität und Asozialität vereinzelte, abgeschiedene, unnachsichtige Denker, der Hungerkünstler mit vor missionarischem Eifer und Tbc glühenden Wangen. Jedenfalls Existenzen jenseits der Sozialverträglichkeit und Kameraderie. Mit solchen Leuten ist weder gut Kirschen essen noch das Burschenschaftsvergnügen eines Kirschkernweitspuckwettbewerbs vorstellbar. Immer bedroht von Hungertod, Unbehaustheit und Unverständnis, ereignet sich aber – weit nach dem kläglichen Ende – die Gerechtigkeit der geschichtlichen Trennung von Spreu und Weizen, so dass den Genies am Ende doch alle Ehrerbietung bezeugt wird, weil sie gegen alle Harmonieansprüche und soziale Selbstverständlichkeiten zu Lebzeiten schon die Zukunft vorhergesehen hatten, prophetisch gestimmt, seherisch klar und der Erleuchtung teilhaftig.
So weit die Volksmythologie, der heute besonders die Propaganda der Kreativwirtschaft folgt nach dem Motto: Auch du kannst kreativ sein, wenn du nur deine unverwechselbare Individualität durch Erfindung einer interessanten Biografie auffällig machst. Solchen Status genießen heute bereits TV-Serien-prominente »Vorstadtweiber«, Politclowns und Start-up-Jüngelchen, wenn es ihnen gelingt, Risikokapital für sich zu reklamieren. Hausmeister werden zu Facility Management-Größen erhoben, also zu Egomanen der Allmacht. Und ein durchschnittlicher Ability Manager wie Thomas Middelhoff wird zur Figur des Einzelkämpfers, wie sie vormals bestenfalls ein Jean Genet oder ein Charles Bukowski besungen hätte.
Rainald Götz stellt in seinem grandiosen Roman Johann Holtrop diesen Windmacher, der harmlosen Besitzerinnen alles Besitzbaren die Röcke und Blusen bläht, bereits als geltenden Typus des Wirtschaftsaktivisten und Sozialproduktsteigerers dar: Jeder große Manager ist heute ein großer Künstler, vor allem im Vergleich zu den kleinen Künstlern, die im Menschenzoo der Republik mit Lyrismen, feuilletonistischem Existenzialgequake und ohnmächtiger Polemik der Sozialfürsorge anheimfallen. Jeder Manager ist heutzutage schon geborener Professor (Lachen Sie nicht so verständnislos!), denn »Professor« ist inzwischen richtigerweise der Titel für Figuren, die den Uni-Typen Gelder zustecken für Auftragsforschung, das heißt für gar keine Forschung, denn was heißt schon Forschung, wenn von vornherein klar sein soll, was das Resultat der bezahlten Bemühungen sein muss?
Wie gesagt, das ist Mythologie des Egomanen als Führungstyp bei allen, die sich als Repräsentanten des Volkes ausgeben, das heißt als Leute, die wissen, was frommt, also im Glanz der Aufmerksamkeit, der Prominenz und mit der Glorie überzeugender Finanzkraft uns allen Angebote machen, die wir nicht ablehnen können (alte Weisheit der sizilianischen Mafia). Und diese Mythologie des Übermenschen, des Egomanen, zeigt Wirkung in dem unaufgefordert abgegebenen Bekenntnis von Abgeordneten, Bankangestellten und Polizeiangehörigen, also von jedermann, man sei selbstverständlich weder bestechlich noch käuflich. Warum ist das so erfolgreich? Weil man mit diesem Ausspruch »Ich bin schließlich nicht käuflich« eine juristisch unanfechtbare Bereitschaft zur Bestechlichkeit signalisiert.
Auf diesem volksmythologischen Niveau sind also Unternehmerverbände, universitäre Exzellenzcluster und Führungseliten aller Genres durchaus als Egomanen-Kollektive zu verstehen. Was aber zeigt sich jenseits der Genie- und Elitenbeschwörung durch die Propagandaprogramme der Kreativwirtschaft? Jede Naherfahrung aus dem Umgang mit Künstlern aller Gattungen fördert die erstaunliche Einsicht zutage, dass sich die in den Werken manifestierte schöpferische Potenz gerade nicht in Distanzgesten und Erturnung des Abstands zum ordinären Volk beweisen will. Vielmehr durchdringt alle diese Künstler die stille Sehnsucht nach Übereinstimmung in Gewissheiten, die Sehnsucht nach innigen Bindungen mindestens vom Typ der sozialen Passion, aber häufig auch der tränentreibenden Liebe. Die Tränen fließen über die Hoffnungslosigkeit, sich jemals sehnen zu dürfen, damit die Sehnsucht gestillt werde. Die tatsächlich als schöpferisch erwiesenen Individuen schreiben ihre Romane, weil sie es sich prinzipiell, aus intellektueller Redlichkeit, verwehren das Leben als Roman aufzufassen oder die Romane zu leben. Aber sie gönnen ihren Adressaten in liebevoller Zuneigung, so zu leben, wie sie lesen (Musil). Und das ist im Kern immer die unabdingbare Vergewisserung, dass es den Menschen nur im Plural gibt, dass wir alles nur im Hinblick auf andere sind und dass alle Hoffnungen und Visionen darauf gerichtet sind, in einem solchen pluralitantum von mindestens Zweien, besser noch der ganzen Menschheit aufzugehen. Der gerade in Deutschland florierende Begriff des Romantischen, wie er 1800 durch die Jenaer Konferenz mit ihrem Sekretär Novalis programmatisch gefasst wurde, verweist auf die evolutionär entstandene normative, also handlungsbestimmende Kraft des Kontrafaktischen, das heißt des Glaubens, der Wünsche, der Visionen.
Bewusstsein entstand aus der Notwendigkeit, mit den Resultaten von Handlungen rechnen zu können, ohne sie ausführen zu müssen. Denn das einmal Getane wäre nicht lehrreich, wenn man es ohne vorausgehende Bewertung der Resultate immer erneut wiederholen müsste. Unter allen Gesichtspunkten ist es höchst sinnvoll, Lernen gerade auf Antizipation statt auf Realvollzug des Handelns zu stützen, denn learning by dying ist eine wenig versprechende Aktionsform (siehe Bazon Brock, »Erinnerungen an das Leben als Baustelle«, mit den Positionen learning by crying wie Babys, learning by lying wie Kinder, learning by buying wie Konsumenten, learning by trying wie Ingenieure, learning by sighing wie Patienten und learning by dying wie Philosophen, also durch Gestorbensein unsterblich). Noch in unserem Begriff des Verhaltens steckt der Appell, Halt zu machen vor der realen Erfahrung, indem man sich die Konsequenzen bewusst macht und damit eine sinnvolle Haltung einnehmen kann. Wir lernen auf der Ebene der bewussten Antizipation und nicht auf der viel zu riskanten Ebene der Realerfahrung. Aus dieser Fähigkeit generieren Individuen ihre Autorität als Autoren, und das heißt, aus ihrer Autorschaft von Antizipationen, von Wünschen, Vorstellungen und Erinnerungen. Sie eröffnen gegenüber der sehr beschränkten Realerfahrung den Horizont der Möglichkeiten, vor allem den der Utopie – in dem Sinne, dass diese Möglichkeiten Kriterien zur Kritik an den grausamen Wahrheiten der Natur- und Lebensgesetze darstellen.
Je mehr Utopie, desto besser ist die Wahrheit zu kritisieren. Die Wahrheit ist nichts anderes als der Terror der Gegebenheiten mit der Forderung nach Unterwerfung. Die Utopie ist kein Gegenbild, man braucht den Leuten nicht, wie Marx sagt, ein utopisches Bildchen auszumalen, damit die Gesellschaft weiß, was sie realisieren soll. Man braucht die Utopie, um die Wahrheit des Gegebenen kritisieren zu können.
Die Fähigkeit, die Wahrheit zu kritisieren, ist also im menschlichen Anspruch auf Autonomie begründet. Daher war seit der Erfindung der modernen Individualität in der Renaissance, der exemplarischen Periode des Humanismus, Bürger nur, wer mehr vertrat als seine eigenen Interessen oder die seiner Familie oder seines Clans, seines Standes oder seiner Konfession. Diese Individualität in der Kraft zur Orientierung auf mehr als die eigene kleine Selbstheit bildet den Kern aller philosophischen oder theologischen Entwürfe von Idealgesellschaften, im klaren Bewusstsein, dass es sie niemals geben darf – weder als civitas dei, als Gottesstaat auf Erden, noch als verwirklichten Kommunismus, sondern eben als Ressource der Kritik an der die Menschen nicht achtenden Gewalt der Wahrheit. Die Gemälde der großen und kleinen Maler jener Epoche stellen die Porträtierten gerade in ihrer Bedeutung für das Prinzip der Individuation durch Einsatz für die Stadt und den Erdkreis, für die Solidarität der Menschheit gegen das blinde Rasen der Naturevolution heraus. Ruhmreiche Individuen sind jene, die mehr sein wollen, als sie sind, und dadurch Repräsentanten des humanen Menschheitspathos werden. Nur wer mehr ist als er selbst, ist er.
Meine Erfahrungen aus fünfzig Jahren Universitätsgetriebe belegen, dass hocherhabene Individualität sich gerade durch die Bereitschaft zum »Dienst am Höheren« erweist (ja, das wissen wir doch alle, ein gefährliches Wort, ein politisch inkorrekter Begriff). Wer oft und deswegen immer öfter zum Beispiel in Berufungskommissionen sitzt, kann beobachten, dass tatsächliche Kunst- und Wissenschaftsgrößen sich dadurch zu erkennen geben, dass sie Kollegen berufen, die noch fähiger sind als sie selbst. Denn die durch Leistung selbstbewussten Individuen können es sich eben leisten, den noch Besseren den Weg zu öffnen, weil sie selber von jenen profitieren können. Hingegen sind schwache Personen, bloße Künstler- und Wissenschaftlerimitatoren, rücksichtslos in der Verhinderung der Besseren. Ihre Beschränktheit ist so groß, dass sie ihre Selbstverkleinerung durch die Spiralwirkung nach unten nicht erkennen. Schwache Personen berufen systematisch noch schwächere ins Kollegium, weil sie hoffen, den Neuberufenen gegenüber Superiorität beweisen zu können.
Es scheint deshalb sinnvoll, den Begriff des Egokollektivs im Sinne der Gemeinschaft der Einzelgänger zu erweitern. Zwar ist Einsamkeit und Arbeit ihre Grundmaxime, zwar bestehen sie auf Autonomie durch Einsicht in das Wahre als Notwendigkeit der Evolution, aber sie orientieren sich dabei an den Beispielen gelungener Autonomiebehauptung durch gewesene oder lebende Kollegen. Sie arbeiten häufig direkt in Korrespondenz zu jenen Beispielgebern im Beispiellosen, was heute häufig als Kunst für Künstler oder Denken für Denker gekennzeichnet wird. Einsamkeit ist zwar Voraussetzung für die Konzentration in der Arbeit, aber Ziel des Arbeitens ist ja die Gemeinschaft der Mitlebenden, die über die Voraussetzungen verfügen, um nach allgemeingültigen Kriterien zwischen dem Sinnvollen und dem Unsinnigen, zwischen dem Dienst gegen das Leiden an der Wahrheit und den Unterwerfungsambitionen zu unterscheiden. Im Ziel der Arbeit der Einsamen manifestiert sich die Orientierung auf die anderen, denen wir darin gleichen, jeweils andere sein zu müssen und zu wollen. Das Judentum kennt für die Auszeichnung solcher Individuen den Begriff der »Gerechten«, die sich eben nicht den unleugbaren Mächten der Wahrheit, des Dogmatismus, des Fundamentalismus von Kapital, Herrschaft und Unterwerfungsmasochismus beugen. Solche Kollektive sind in der Kameradschaft der Krieger vermutet worden, in Gewerkschaften oder Selbsthilfegruppen. Nennen wir sie einfach Beispielgeber im Bespiellosen oder Gemeinschaft der Individualisten, der Märtyrer und heiligen Narren.