Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 524 im Original

Band IX.2.9 Martin Kippenberger

Bildjournalismus als ästhetische Macht

In: Martin Kippenberger, (Katalog) Hessisches Landesmuseum Darmstadt 1986.

In seiner ›Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst‹ konstatiert Julius Meier-Graefe bereits 1904 folgenden erstaunlichen Sachverhalt: »Jedermann bildete sich – seiner Verwendung gemäß – eine Meinung, für sich allein und für seine Umgebung; formte Ansichten, die nach außen wuchsen und Typen bildeten. Alles das geschah und geschieht durch eine Summe von Alltäglichkeiten, die zu Geschichten werden. Jedes größere Ereignis färbt mehr oder weniger stark auf das Vorhandene ab, formt es um, bevor es sich ihm zufügt. Die Organisation dieser Mörtelung des modernen Staates besorgt die Zeitung, die gesprochene und die gedruckte. In unseren Tagen bildet der Journalismus eine ästhetische Macht als Sammler des Rohmaterials, dem die Kunst später ihre Bilder entnimmt eine vorübergehende Macht, da sie nur so lange dauert, als das Material roh ist ...

Der Journalismus hat alles aufgenommen, was sich früher in den wohlgepflegten Briefwechseln, den Memoiren, der Gelegenheitsliteratur verbarg. Die Tagebücher, die der Denker mit abgeklärtem Ehrgeiz nur für sich oder die Nachwelt schrieb, werden heute zu Zeitungsartikeln, weil die schnellebige Welt niemandem mehr verbürgt, daß nach dem Ableben des Schreibers noch Zeit für ihn bleiben werde. Mit dem Journalismus kommt mancher zur Literatur, der sonst Leser geblieben wäre – und mancher bleibt Literat, der es früher zum Dichter gebracht hätte.«

Man findet derartige ›Stellen‹ in einem achtzig Jahre alten Schinken selbstverständlich nicht von ungefähr. Man steht unter dem Druck von zeitgenössischen Problemen, die man sich dadurch vom Halse zu halten versucht, daß man sie als schon lange virulent und damit als durchaus ertragbar bestätigt; man versucht also, durch Erweiterung seiner Kenntnisse der Überwältigung durch Problemkonstellationen zu entgehen. Sinnvoll genutzt führt diese historische Relativierung zu einem anderen Verständnis des zeitgenössischen Problems.

In der Konfrontation mit Kippenberger besteht das Problem vornehmlich darin, daß man sich geradezu ekelt, auf sein Rollenspiel und seine Arbeiten mit Stereotypen zu reagieren: »Nun malen sie wieder, anstatt leibarme Konzepte auszutüfteln«; »Jeder fängt eben rotzfrech aus Unkenntnis und arrogant aus Draufgängerei an, um dann entweder als verbitterter Werbegrafiker oder Kunstlehrer zu enden, oder er verstaubt in der Gnade der Museumsreife als ›auch bloß einer unter unübersehbar vielen‹«.

Dem von diesem Statement der Hilflosigkeit angewiderten Zeitgenossen sind also in erster Linie nicht die Arbeiten eines frisch auf der Szene agierenden Künstlers problematisch, sondern seine Reaktionen auf diese Arbeiten. Es dauert eine Zeit, bis der Einzelne wie die Öffentlichkeit insgesamt andere Reaktionen auf neue Zumutungen entwickelt haben. Die Fruchtbarkeit eines neuen künstlerischen Ansatzes, von neuen gnadenlosen Setzungen eines Künstlers kann geradezu daran gemessen werden, mit welcher Konsequenz und in welchem Umfang diese Werke eingespielte Reaktionsbildungen als unangemessen erscheinen lassen. Im Falle Kippenbergers und einiger seiner Freunde und Generationsgenossen führt diese Konsequenz nicht nur zur Umwertung unseres etablierten Verständnisses einzelner Positionen der Kunstgeschichte, sondern zur veränderten Sicht auf generelle und durchgängige Problematiken. Die tatsächliche avantgardistische Qualität eines Polke erwies sich darin, daß wir vor den Zumutungen der Arbeiten Polkes das Werk Picabias völlig neu zu sehen lernten; einige der »Neuen Wilden« erzwangen die Wahrnehmung von Aspekten der expressionistischen Malerei, die uns bisher entgangen waren. (Vgl. hierzu ›Avantgarde und Tradition‹, Band VII, S. 102-107.)

Unter dem Druck der beängstigenden Unangemessenheit eingespielter Reaktionen vor den Arbeiten von Kippenberger enthüllt sich mit der Entdeckung der obigen Feststellung von Meier-Graefe eine andere Geschichte der Moderne, durch die viele künstlerische Positionen umgewertet werden: eben die des Journalismus als einer ästhetischen Macht. Die Umwertung ist gerade mit Blick auf Meier-Graefe keine willkürliche Reaktion, war es doch Meier-Graefe, der unter dem Problemdruck der damals »radikal neuen Expressionisten« die gängige Auffassung des Werkes von El Greco über den Haufen warf. Von heute aus, »von hier aus«, lesen wir Meier-Graefes Feststellungen nicht als Prophetie. Er sah weder die Zukunft voraus, noch wollte er sie in seinem Sinne beeinflussen. Er konstatierte – die allgemein akzeptierte Darstellung der weiteren Entwicklung ging über seine Feststellung hinweg. Selbst Dada wurde als kunstimmanente Bewegung gewertet und damit museumsreif. Diese unangemessene Reaktion ist in gewisser Weise auch in Meier-Graefes Feststellung angelegt, wenn er sagt, »daß die Kunst dem journalistisch gesammelten Rohmaterial später ihre Bilder entnimmt«. Die ästhetische Macht des Journalismus endet da, wo das Material »künstlerisch aufgearbeitet« wird. Das ist sozusagen noch eine konventionelle Sicht, die Meier-Graefe mitschleppt.

Von heute aus gesehen, kann es nicht mehr darum gehen, den Journalismus als Sammler des Rohmaterials bloß für eine Vorstufe künstlerischer Veredelungsarbeit zu halten. Das eben verbieten uns nicht zuletzt die Arbeiten von Kippenberger. Die rollengemäße, ja verwendungsgemäße Bildung von Meinungen und Formung von Ansichten, die wuchern und Strukturen bilden, geschieht, wie Meier-Graefe sagt, durch eine Summe von Alltäglichkeiten, die zu Geschichten werden; und nicht durch Veredelung zur Kunst. In Kippenbergers Arbeiten ist der Widerstand gegen eine solche Veredelung des Rohmaterials die treibende Kraft. Dabei soll keineswegs geleugnet werden, daß er inzwischen gewisse Anfälligkeiten dafür zeigt, doch bloß ein Maler zu sein. Nehmen wir bis auf weiteres an, daß sich dieser Eindruck aus der Perfektionierung seiner journalistischen Techniken ergibt. Denn es ist ja evident, inwiefern man es leichter hat, bei weniger leistungsfähiger Technik das Material rauh und roh zu erhalten.

Kippenbergers Interesse an Bad painting schien bei seinen ersten Anläufen, Bilder zu machen, den Mut zu stärken, etwas auch dann zu tun, wenn man es nicht kann. Später, also ab 1981, entdeckte er das Bad painting als Widerstand gegen die Veredelung durch technische Meisterschaft.

Die Punkbewegung demonstrierte den halsbrecherischen Anspruch unvermittelten Zugriffs auf Material, also ohne das Erlernen und Trainieren von erwiesenermaßen leistungsfähigen Aneignungstechniken. Die Punks aber machten bald die Erfahrung, daß ihre Zugriffsweise über die Ausbildung von Routine den Status einer etablierten Technik erhielt: das Bad painting setzt nicht auf Überraschungen durch mangelnde Beherrschung der Technik, es entspringt einer intellektuellen Distanzierung von dem Selbstlauf und der Eigengesetzlichkeit des Gut-Gemachten, ja des Vollendeten. Es will verhindern, daß schlechter Geschmack durch Gewöhnung zum guten Geschmack wird.

Wenn Kippenberger (mit Albert Oehlen und Büttner) programmatisch formuliert: »Das Wissen erweitern durch Scheitern?«, dann ist zwar nicht ausgeschlossen, daß sie auch scheitern können, ohne es eigentlich zu wollen; wesentlicher aber bleibt der Aspekt, die Arbeiten selbst nur als Ruinen zu entfalten; ruinieren wird zu einer erkenntniskritischen Haltung. (Vgl. hierzu ›Ruinieren‹, Band VIII,S. 176-184.) Sie ist nicht mutwillig zerstörerisch, sondern konstitutiv. Sie definiert das Werk von vornherein gerade deswegen als interessant, weil es keinen Anspruch auf Endgültigkeit erheben kann.

Die intellektuelle Distanz wird gerade gegenüber dem eigenen Werk verlangt, da man ja weiß, wie schnell man bereit ist, das eigene Tun dem Anspruch nach zu überhöhen.

›Bad painting‹ gegen ›Perfect painting‹ opponiert gegen den Schöpferwahnsinn. Gott war nicht nur ein Stümper, weil er nicht die beste aller Welten schuf; er durfte von vornherein nicht mehr als ein Stümper sein – erst dadurch erhielt sein Werk die Dimension des Werdens und der Verwandlung. »War Gott ein Stümper?« fragen Büttner, Kippenberger und Oehlen.

Journalismus ist eine ästhetische Macht, solange er das Material roh erhalten kann, das heißt, solange er eben nicht auch noch den Abfall der Alltäglichkeiten, den Dreck und das Elend ästhetisiert. Kippenberger und seine Generationsgenossen haben ja zur Kenntnis nehmen müssen, wie von Dada bis Fluxus, wie in den Werken von Roth oder Beuys das Material nur allzu leicht dieser Gefahr unterlag.

Das Ästhetische ist ja nichts als die Differenz von Denken und Sprechen, von Anschauung und Begriff, von Zeichen und Bezeichnetem. Die herkömmliche Auffassung, der gute Künstler zeichne sich gerade dadurch aus, jeweils optimale Übereinstimmung der beiden Ebenen herzustellen, die Auffassung also von der Form- und Materialgerechtigkeit eliminiert das Ästhetische. Sie setzt an seine Stelle den Veredelungskitsch als erzwungene Übereinstimmung von Gedanke und Tat, von künstlerischem Konzept und künstlerischem Realisat.

Zweifellos spricht Meier-Graefe wie der Volksmund und die Fachphilosophie (Benjamin) in diesem konventionellen Sinne von Ästhetisierung. Wenn wir aber das Ästhetische gerade als Differenz bestimmen, dann kann sich Ästhetisieren auch als Strategie der Differenzierung, also als Strategie gegen das Verenden des Gedankens in der formalen Operation erweisen. Ästhetisieren ist dann ein Verfahren der Abkopplung der konventionellen Bindung von Formen und Bedeutungen, von Zeichen und Bezeichnetem. Diese vollzogene Abkopplung aber macht die Kraft des Neuen in künstlerischen Setzungen aus; neu sind sie, weil die Zuordnungen von sprachlichen Vergegenständlichungen und Bedeutungen nicht immer nachvollzogen werden können. Dieser ›Hermetismus‹ kann so weit getrieben werden, daß die Setzungen als Willkür mißgedeutet werden und als anarchistische Verweigerung entweder durch zerstörerische Gewalt oder als krankhafte Entstellung eliminiert werden.

Um diesen Gefahren zu entgehen, ziehen es Kippenberger wie seine Freunde vor, bloß für Propagandisten gehalten zu werden. Die historische Entwicklung ist ja auch insofern über die Feststellung Meier-Graefes hinausgegangen, als sie nicht nur die ästhetische Macht des Journalismus durch künstlerische Veredelung des Rohmaterials begrenzte, sondern auch das nicht veredelte Material als bloße propagandistische Agitation stigmatisierte. So faßt denn die herkömmliche Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst den Bildjournalismus unter das Diktum, er sei bloße Propaganda. Das Theater theatert alles ein, und die Kunst darf selbst die banalsten und radikalsten rohen Alltäglichkeiten, also auch das soziale Elend aufgreifen, solange sie es mit künstlerischen Mitteln in Kunst verwandelt. Wer aus Selbstkritik, aus moralischer Unnachgiebigkeit diese ›Verkunstung‹ ablehnt, muß zwangsläufig zum Agitationspropagandisten abgestempelt werden.

Was der Avantgarde, zum Beispiel den russischen Konstruktivisten widerfuhr, ist beispielhaft für das Jahrhundert: Im Kunstkontext galten ihre Arbeiten als avantgarde-immanente Entwicklungen; wurden diese Arbeiten aber im Kontext sozialer Umwälzungen nicht auf Museumswänden, sondern auf den Planen von Lastwagen und den Wänden von Eisenbahnzügen präsentiert, so galten sie als Propaganda sozialistischer Ideologien.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg führte der Diskriminierungsdruck zur Aufspaltung der künstlerischen Aktivitäten in abgeleitete Propaganda und genuine Schöpfung. Die »Blauen Reiter« ritten himmelwärts, ihnen war die Kunst vornehmlich Werkzeug der Veredelung des bißehen organismischen Drecks, als das die Materialisten den Menschen analysiert zu haben schienen. Die nicht weniger befähigten Futuristen und Konstruktivisten agitierten gegen diese Selbstverblendung: Sie demolierten die Aura der Kunst als Kirche zugunsten von Kunst als sozialer Strategie. Weder »de Stijl« noch »Bauhaus«, weder »Schönheit der Arbeit« noch der »erweiterte Kunstbegriff« vermochten diese Aufspaltung rückgängig zu machen, sosehr sie auch diesem Ziel verpflichtet waren.

Merkwürdig: Kaum je wurde versucht, genau im Sinne von Meier-Graefe den Journalismus als ästhetische Macht zu nutzen. Zumindest seit der Dreyfus-Affäre und der Harden-Affäre hatte sich ja gezeigt, daß die entscheidenden Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikation, ihrer technischen Medien und ihrer Organisationsform nicht in den Künsten kulminierten, sondern im Journalismus.

Meier-Graefe sagt auch, warum das so war: Die schnellebige Welt verbürgte niemandem mehr, daß er für die Nachwelt schrieb, malte, musizierte oder baute, die Avantgarden dieses Jahrhunderts haben bis in die 70er Jahre auch nicht für das Museum als einer repräsentativen Institution von Nachwelt gearbeitet. Der radikale Verlust der Nachwelt als Adressat ließ den Journalismus zur beherrschenden Größe gesellschaftlicher Kommunikation werden: selbst die Veredelungskünstler gestanden das ein, wenn sie es für selbstverständlich hielten, daß ihren Arbeiten erst dann Geltung zukam, wenn über sie in den Zeitungen geschrieben wurde.

Daß ein Bildjournalist wie Kippenberger den schnellen Erfolg sucht, »heute gedacht, morgen fertig«, vor allem aber, daß er, wie alle seine Generationsgenossen, diesen schnellen Erfolg auch findet, bestätigt, daß sie ästhetische Macht gerade dadurch auszuüben verstehen, daß sie als Journalisten arbeiten. Sinnvoll ist es, als ›Künstler‹ denjenigen zu definieren, der seinen Zugriff auf die Welt vollständig und das heißt radikal durch sich selber legitimiert; er beruft sich weder auf Parteien noch auf Wissenschaften, aber eben auch nicht auf das, was andere von seiner Arbeit halten und in welchem Sinne sie überhaupt zu wirken vermag.

Kippenberger und Generationsgenossen können zwar einerseits eine solche Haltung noch verstehen, und sie scheinen mit ihr auch zu rechnen; sie können sich aber andererseits auf diese Position eines Künstlers tatsächlich nicht mehr einlassen, weil sie zu gut wissen, in wie hohem Maße sie von der Zustimmung oder Ablehnung anderer abhängig sind, ja, wieweit sie von diesen anderen und deren Erwartung sogar für das Herstellen ihrer Arbeitsresultate abhängig sind. Sie holen sich ihre Anstöße nicht nur aus den Bildweiten des Journalismus, der Illustrierten, des Fernsehens, der Zeitungen und der Werbung. Sie produzieren auch wiederum Bildwerte, die eigentlich nur in jenen journalistischen Medien ihre Kraft und ihren Anspruch entfalten können. Viele von ihnen kommen auf diesem Wege, wie Meier-Graefe sagt, dazu, künstlerisch zu arbeiten, die sonst Betrachter fremder Arbeiten geblieben wären, und viele von ihnen bleiben Bildjournalisten, die als Künstler im obigen Sinne Giganten der Museumskultur hätten werden können.

Auch bei Meier-Graefe drückt sich ja eine konventionelle Hierarchie der Wertigkeiten von Journalismus, Literatur und Dichtung aus, die im Bildnerischen bis heute die hierarchische Abstufung von Bildjournalismus, Design und Kunst manifestiert. Da ist es verständlich, wenn auch Kippenberger langsam den Blick aufwärts richtet. Sollte er aber, was schon vielen widerfahren ist, die hierarchische Stufung vollständig verinnerlichen, wird er sehr schnell in der Gnade der Museumsreife verstauben, es sei denn, er stellte sich tatsächlich darauf um, ein ganz und gar aus sich selbst und für sich selber arbeitender Künstler zu werden.

Ein so bedeutender Künstler wie Beuys wußte genau, daß er auf seine journalistische Propagierung sozialer Utopien nicht verzichten durfte, um nicht als museale Rarität unter Hunderten anderer zu verenden. Zunächst warf man ihm vor, mit seinen öffentlichen Auftritten auf geschickte Weise Aufmerksamkeit für sein künstlerisches Werk erreichen zu wollen. Dann erlaubte man sich, ihn für einen großartigen Zeichner und Bildhauer zu halten, der leider einem wahnhaften missionarischen Eifer huldige, über den man aber seiner Kunst wegen hinwegsehen sollte. Beuys ließ sich weder durch die eine noch durch die andere Distanzierung beeindrucken.

Bei allem Vorbehalt läßt sich doch wenigstens andeuten, daß Beiträge wie dieser zu dem Katalog einer Museumsausstellung von Kippenberger allein darin einen Sinn haben, daß sie den Künstler und seine Generationsgenossen darauf aufmerksam machen, nicht den Weg alles Irdischen ins Museum zu beschreiten. Warum sollten sie ihre ästhetische Macht eben nicht gerade als Bildjournalisten ausüben? Auch Journalisten haben eine Handschrift, ja mitunter sind sie auch stilbildend.

Kippenberger und Co. hätten eine große Zukunft als Bildjournalisten, denn ihre Bilder und Bildlegenden sind einfach aussagekräftiger als die heute in den Medien üblichen. Sie sind ironisch-distanziert, enthüllend durch affirmative Übertreibung ins Äußerste; sie erschließen der Wahrnehmung das bisher Wahrnehmungsunwürdige; sie sind lapidar und doch überraschend; sie sind trotz aller dominanten Handschrift durch ihren Anlaß geprägt; sie gehen vollkommen zu Recht von der Parallelität, ja Integration von Wort- und Bildsprache aus. Kippenberger organisiert sogar die einzelnen Bildeinheiten zu journalistisch strukturierten Sequenzen; je mehr man von ihnen sieht, desto besser werden sie, ganz im Gegensatz zu den beliebigen Haufenbildungen der Bilderkloake.

Vor allem anderen zeigen aber die Haltungen und Einstellungen von Kippenberger und Generationsgenossen ihre Affinität zum Journalismus, wie ihn Meier-Graefe faßte. Kippenberger ist Moralist; das heißt, daß er sich keinem Ereignis konfrontieren kann, ohne unmittelbar zu reagieren. Moralisten können Gegebenheiten nicht auf sich beruhen lassen, sie werden zur forcierten Stellungnahme getrieben, ganz gleich, wie opportun eine solche Stellungnahme sein mag. Auch in dieser Hinsicht haben Oehlen und Büttner mit ihrer »Liga zur Bekämpfung des widersprüchlichen Verhaltens« die Generalmaxime aufgespürt. Das mag zunächst als dadaistische Witzelei erscheinen, verrät aber bei näherem Hinsehen eine subtile Kritik an der Dialektik von Moral und Erkenntnis. Die Aufklärer enthüllen falsche Moral als Dogmatisierung von Erkenntnissen; die Moralisten kritisieren das angeblich vorbehaltlose Erkenntnisinteresse als moralisches Dogma. Die daraus abgeleitete Schlußfolgerung bestimmt jedes journalistische Handeln; man kritisiert nicht von irgendwelchen vorgegebenen moralischen oder erkenntniskritischen Positionen – vielmehr werden Handlungen daran gemessen, von welchen Vorgaben sie selber ausgehen und inwieweit sie diese selbstgesetzten Vorgaben tatsächlich ernst nehmen.

Auf diese Weise arbeiteten die großen Journalisten des Jahrhunderts wie Egon Erwin Kisch, Karl von Ossietzky, wie George Grosz und John Heartfield. Auch Beuys war vor allem Moralist; daß er sich der Arbeit von Klaus Staeck näher fühlte als der von jedem anderen Zeitgenossen, ist kein Zufall, repräsentiert doch Staeck den Typus des journalistischen Bildkünstlers ganz ungebrochen. Sollte man nicht Kippenbergers Arbeit als eine bildkünstlerisch weiterentwickelte Position von Staeck sehen? Bei Staeck ist es eben zu leicht, ihn wegen der von ihm verwendeten bildnerischen Formen als Propagandisten zu stigmatisieren. Kippenberger ist bildnerisch einfallsreicher und qualitativ überlegen. Wer solche Qualitäten der Museumskunst vorbehalten möchte, ist gezwungen, Kippenberger gegenüber die konventionellen Reaktionsschemata einzuhalten. Wer aber gerade Kippenbergers Position mit einer vom Üblichen abweichenden Haltung zu entsprechen versucht, kann nicht daran interessiert sein, ihm die Weihen der Museumsreife zuzusprechen. Nichts ist für einen Künstler so vernichtend wie seine Verkunstung. Auf dieser Ebene greift die Beuyssche oder die Warholsche Feststellung, daß jedermann Künstler ist. Was soll denn das noch besagen?

Es besteht kein Zweifel, daß Kippenberger ein großartiger Bildkünstler, ja ein Maler ist. Aber warum muß denn jede gute Malerei der Kunst vorbehalten bleiben? Künstler im obigen Definitionssinn kann man auch als hundsmiserabler Maler sein, wie uns unter vielen anderen das Beispiel Magritte belegt. Nachdrücklich haben seit Meier-Graefe Künstler selber darauf hingewiesen, daß Journalismus keine qualitativ niedere Form der Literatur sei. Die Qualität der Bildzeitungspoesie hat kaum ein Dichter leugnen können, ebensowenig wie die Qualität der Poesie der Werbebranche. Man muß ja nicht gleich so weit gehen wie Rolf Dieter Brinkmann oder der frühe Peter Handke, die solche Poesie in die Anthologien zeitgenössischer Dichtung und in die Geschichte zeitgenössischer Kunst aufnahmen.

Umgekehrt sind seit dreißig Jahren vor allem die reinen, also formalen Künste, die abstrakten und informellen, die gestischen und monochromen als rein dekorativer Wandschmuck akzeptiert worden. Jene Arbeiten, in denen sich Kunst als Kunst und nichts anderes zu äußern schien, zeigten in viel geringerem Maße Widerstand gegen ihre Einvernahme für die Gestaltung der Direktorenzimmer als der malerisch und technisch hochwertige Bildjournalismus. Die Popartisten waren einfach qualitativ nicht gut genug, um als Bildjournalismus Wirkung zu haben, sie landeten als schlechte Maler, aber als Vertreter interessanter Künstlerkonzepte im Museum, wo sie heute jedermann enttäuschen, der sie als Malerei zu betrachten genötigt wird.

Daß gerade die – kraft ihrer Position im Kulturbereich – Kompetenz beanspruchenden Museumsdirektoren triumphierend behaupten, die Künstler arbeiteten ihre Bilder von vornherein auf nichts anderes hin als darauf, im Museum zu hängen, mag gegenüber vielen Künstlern gerechtfertigt sein. Sie ist vor allem aber eine Selbstüberhöhung des eigenen Amtes, eine Wunschvorstellung und zugleich eine Angstreaktion. Trotz weißer Wände sind die Galerien keine Museen; in ihnen, im Kunstjournalismus und in den Kunstvereinen wird die eigentliche Arbeit für das Wirksamwerden von Bildkünstlern geleistet, und in ihnen müssen sich die Bilder bewähren, sonst kommen sie gar nicht erst in den Blick von Museumsdirektoren.

Das Darmstädter Museum hat durch seine mutige Zusammenarbeit mit dem Galeristen Müller den Versuch gewagt, die tödliche Umarmung der Museumsdirektoren mit den Kunstwerken zu verhindern, Insofern bedauert man nicht, daß Kippenberger nun in ein Museum einzieht. Man wird abwarten müssen, ob seine Arbeiten die Kraft haben, diese Institution der verlorenen Nachwelt mit Geistesgegenwart zu begaben. Geistesgegenwart ist die Aura eines qualitativ hochstehenden Bildjournalismus. Vor ihm zerfällt die hochtrabende Behauptung von Urteilen über Bildwerke sub specie aeternitatis qualitatis zur Killerphrase.

Nachsatz des Autors: Ich starre seit Monaten auf die Farbreproduktionen der Kippenbergerschen Arbeiten, die in Darmstadt gezeigt werden. Alle Versuche, in den mir geläufigen Vorgehensweisen den Arbeiten gerecht zu werden, sind an dem unüberwindlichen Ekel vor solcher Eingemeindung Kippenbergers gescheitert. Ich wollte in ihm nicht nur noch einen unter den zahllosen guten Künstler sehen. Wenn man das Glück hat, mit erstklassigen Kunstwerken täglich umzugehen, braucht man keine Abwechslung, man intensiviert nur die Bemühung vor solchen unausschöpflichen Werken. Es konnte mir deswegen »nur« daran gelegen sein, vor Kippenbergers Arbeiten zu einer anderen Haltung gezwungen zu werden, das habe ich mit vorliegendem Text dokumentieren wollen.

Im Unterschied zur Konfrontation mit erstrangigen Kunstwerken ist die Beschäftigung mit erstklassigem Bildjournalismus weniger dazu geeignet, den Hunger nach Bildern abzusättigen. Von erstklassigem Bildjournalismus kann man nie genug bekommen. Ob meine von Meier-Graefe eröffnete Haltung gegenüber Kippenberger für mich und nicht nur für mich produktiv ist, muß sich erst erweisen. Eine erste Gelegenheit zur Überprüfung wird sich hoffentlich in der Darmstädter Ausstellung selbst ergeben. Ich möchte dazu einladen, zu einem vom Museum angekündigten Termin vor den Originalen und an den konkreten Vorgaben Kippenbergers erste Konsequenzen des hier skizzierten Ansatzes der Kritik des Publikums auszusetzen. Schon jetzt zittere ich vor dem nicht auszuschließenden Fazit, Kippenberger als bedeutenden Künstler und Maler aus der Gegenwart entlassen zu müssen. Wie sagte doch Penck so nachahmenswürdig in der ersten TV-Sendung zum Tode von Beuys: »Auf Wiedersehen Jupp (Blick schräg aufwärts gerichtet), im Himmel sehen wir uns wieder.«

Der Kunsthimmel ist enorm erweitert worden, pausenlos eröffnen neue, himmlische Museen. Und Gott kehrt dann wieder in seine alles beherrschende Stellung zurück, als Generaldirektor.