In Werk und Zeit, 2/1984
Im November 1934, wurde der Deutsche Werkbund durch »Gleichschaltung« in die »Reichskulturkammer der Bildenden Künste« überführt und damit aufgelöst, obwohl der Vorstand des DWB schon am 10. Juni 1933 unter dem 1. Vorsitzenden Ernst Jäckh beschlossen hatte, den beiden Nazis Karl Christoph Lörcher und Winfried Wendland die Führung zu überlassen. Gegen diesen Beschluß stimmten nur Walter Gropius, Wilhelm Wagenfeld und Martin Wagner. Die drei wußten jedenfalls, daß man weder Mitte 1933 und schon gar nicht Ende 1934 das windige Argument vorschützen konnte, die Auslieferung an die Nationalsozialisten würde wenigstens den Bestand des Bundes garantieren. Denn mit einer Auslieferung mußte sich der Bund zwangsläufig bis zur Unkenntlichkeit verändern; er wäre also auch dann faktisch aufgelöst worden, wenn er nominell weiter bestanden hätte. Zum anderen brauchten diese drei sich nicht zu fragen, warum eigentlich der Deutsche Werkbund bestünde, wenn seine Mitglieder sich ohnehin seit gut einem Vierteljahrhundert nicht auf eine einheitliche, allen gemeinsame Kunst- und Architekturauffassung einigen konnten. Ihre Maxime lautete: getrennt schaffen, vereint die Kunst verteidigen.
Sie hatten aus den seit Beginn des Werkbundes andauernden Richtungskämpfen die richtige Schlußfolgerung gezogen, daß der Werkbund Kulturpolitik und nicht Ästhetik zu betreiben hätte. Natürlich hatte jeder von ihnen eine eigene Auffassung über den Zusammenhang von allgemeinen respektive kulturpolitischen Zielen in bezug auf die Sprache der Künste. Aber sie waren doch so weitgehend Demokraten, daß sie nicht ernsthaft darauf bestanden hätten, die gesamte Kulturwelt nach ihrem Bild zu formen. Genau das aber verlangten die Nazis von ihnen; und man kann sich vorstellen, wie stark die Verführung für viele gewesen sein mag, sich als Kulturpapst inthronisieren zu lassen. Fritz Lang hat daran anhand seines eigenen Falles aufschlußreiche Überlegungen geknüpft.
In der Tat ging es im Nationalsozialismus nicht um die Frage, welche Ästhetik aus welchen Gründen monopolisiert werden sollte; vielmehr ging es darum, überhaupt irgendeine Ästhetik verbindlich durchzusetzen. Robert Scholz zum Beispiel, einer der eifrigsten Verfechter der Kampagne »Entartete Kunst«, die ja seit 1930, seit der erste Naziminister im Land Thüringen installiert war, in aller Radikalität und vor aller Augen durchgezogen wurde; dieser Robert Scholz, der als Kunstschriftleiter beim ›Völkischen Beobachter‹ und als Hauptschriftleiter für die ›Völkische Kunst‹ zum Untergang des Werkbundes das Seine beitrug; dieser Robert Scholz stellte das für die Nazis wie für die Kunstgläubigen aller Zeiten entscheidende Problem so dar:
»Ergebnis des ästhetischen Liberalismus war (…) eine geradezu babylonische Sprachenverwirrung der Kunst. Diese künstlerische Sprachenverwirrung ist heute noch nicht überwunden, denn es fehlt noch an einer als allgemein gültig anerkannten Ästhetik, die hier ordnend wirken könnte. (…) Das Ergebnis ist (…) das Fehlen eines sicheren ästhetischen Wertmaßstabes in der Gegenwart. Alle Kunsturteile, welche heute abgegeben werden, widersprechen sich daher meistens im Grundsätzlichsten, müssen sich widersprechen, weil sie von verschiedenen Grundauffassungen über das Wesen der Ästhetik und damit über den Sinn und die Aufgabe der Kunst ausgehen. Das hat dazu geführt, daß der Begriff des Ästhetischen an sich in Verruf geraten ist. (…) Daher ist die Schaffung einer für unsere Zeit gültigen Ästhetik das Hauptproblem der Kunstpflege (…) Hier gelangen wir auf dem Boden der heutigen Geisteswende zu völlig anderen Auffassungen über den Charakter des Ästhetischen, den Sinn und die Aufgabe der Kunst als die Vergangenheit. Ästhetik ist in unserer neuen Auffassung nicht etwa, was als nachträgliche Regel aus dem individuell geschaffenen Kunstwerk herausgezogen werden könnte, nicht eine Erkenntnis, welche aus der psychologischen Reflektion des Beschauens gewonnen wird, nicht ein subjektiver und zeitgebundener Wert, sondern ein Glaube und eine Zielsetzung, die ihre Gewißheit aus der außerästhetischen Sphäre der Weltanschauung bezieht.«
Daß die Nazis sich, wie Hermann Göring meinte, nur auf eine Kunst einlassen konnten, die jedermann versteht, die also ohnehin schon die größte Zustimmung in der Bevölkerung erfährt, konnte die Chance einer verbindlichen Ästhetik nur erhöhen. Dabei kam es nicht darauf an, welche künstlerischen Auffassungen man persönlich bevorzugte; die Größen des Dritten Reichs hatten da völlig unterschiedliche Vorlieben. Hauptsache war, daß es offiziell eine allseits verbindliche Kunstauffassung gab. Der Werkbund, wie viele Kulturinstitutionen, wurde also aufgelöst, weil er sich nicht dazu verstehen konnte oder nicht dazu fähig war, irgendeine verbindliche Ästhetik mit irreversiblen Urteilen durchzusetzen.
Droht dem Werkbund nicht gegenwärtig wieder eine Abschaffung aus eben dem gleichen Grund? Wie hat man ihn bekniet und ihn hoffiert, doch nun endlich in voller Überzeugung und mit allem Anspruch wenigstens zu diktieren, was als ›Gute Form‹ zu gelten hat und was nicht. Aber selbst diese Rolle hat er nur eine zeitlang mit Ach und Krach und unter peinlichen Begleitumständen spielen wollen. Also weg mit dem Werkbund! Der künstlerische Liberalismus, ja Pluralismus bedarf doch keiner Organisation, die nach außen ohnehin keinen festen Standpunkt zu beziehen hätte, wo es so viele Standpunkte gibt.
Und wenn nun die künstlerische Potenz bei den im Werkbund vertretenen Personen nicht ausreiche, um verbindliche Urteile zu fällen – so schlußfolgerten die Gönner des Werkbundes in aller Unbedarftheit, die sie aber für aufrichtige Liebe zur Kunst hielten –, dann konnte der Werkbund doch wenigstens verbindliche Leitbilder moderner, hygienischer, ökonomischer, familienfreundlicher, technikgerechter, konsumfreudiger, antisozialistischer, glaubensstärkender Gestaltung vom Teelöffel bis zur Stadt, von der Unterwäsche bis zum Briefkopf, von der Todesanzeige bis zum Einkaufszettel vorgeben. Wenigstens Leitbilder! Und wenn er auch die nicht vertreten wolle, müsse der Werkbund eben abgeschafft werden, wegen Feigheit vor dem Formenchaos des Liberalismus und Pluralismus abserviert.
Aber man ist in aller Aufrichtigkeit auch Demokrat und möchte Überzeugungshilfen nicht jahrelang den falschen Leuten gezahlt haben, obwohl sich die Zahlung eh nur bei den falschen Leuten lohnt. Deshalb gewährt man dem Werkbund noch eine letzte Chance. Wenn schon keine verbindliche Ästhetik der Modernität und nicht einmal Leitbilder der Problemlösung, so möge er doch wenigstens Rekorde sehen lassen, also verbindlich feststellen, bei welchen Gestaltungen es ganz ernsthaft um das Höchste, das Wertvollste, das Humanste, das Durchlässigste, das Verständlichste, kurz, das Absolute geht. Die Leute wollen das Absolute sehen, heißt es jetzt, und da könnte der Werkbund doch wenigstens zeigen, wo man es findet. Wenn der Werkbund selbst das nicht weiß, sollte er zumindest charmant und bezaubernd lächeln und nach allen Seiten würdig grüßen, anstatt mürrisch-aggressiv mit kindischen Trotzgesten unrasiert und fern der Heimat nach Fragen zu suchen, wo jedermann nur an Antworten interessiert ist. Der Werkbund muß abgeschafft werden!
Als Volksgerichtshof der Künste, als Leitbildschieber und Verkaufskanone für Superlative ist er längst abgeschafft. »Nicken Sie mal«, sagte der Scharfrichter als einfühlsamer Interessenvertreter des Todeskandidaten. Als kulturpolitische Institution ist er von seinen Mitgliedern jedoch nicht entdeckt worden. Was ist das? Walter Gropius, der bei Peter Behrens und J. L. M. Lauweriks über seinen Kommilitonen Adolf Meyer zur Theosophie kam und unter ihrem unmittelbaren Einfluß die Programmatiken der Moderne entwickelte – Wassily Kandinsky, Franz Marc, Arnold Schönberg, Hugo Ball – nimmt in den Jahrbüchern des Deutschen Werkbundes1913/14 dazu Stellung: »Der Kunst der vergangenen Jahrzehnte fehlte der moralische Sammelpunkt und damit die Lebensbedingung für eine fruchtbare Entwicklung. (…) Aber erst wenn das große Glück eines neuen Glaubens den Menschen wieder zuteil werden sollte, wird auch die Kunst ihr höchstes Ziel wieder erfüllen und zu den herben Formen des Anfangs, zum Zeichen der innerlichen Verfeinerung die heiteren Schmuckformen neu erfinden können.«
Zu Beginn der Moderne bestand dieser neue Glauben für fast alle Künstler der unterschiedlichsten Bereiche in der völligen Sicherheit, die menschlichen Heilserwartungen und Erlösungssehnsüchte in der Sprache der »abstrakten Kunst« ganz neu und angemessen ausdrücken zu können. Der moralische Sammelpunkt, an dem sich auch die Gründung des Deutschen Werkbundes nahelegte, bestand – wie in der gesamten Designgeschichte als Geschichte der Lebensreformen im Industriezeitalter – darin, das Existenzrecht auch der untersten Klasse, ja deren Recht auf Leben in liberalstaatlicher Freiheit, in rechtsstaatlicher Gleichheit und in sozialstaatlicher Brüderlichkeit durchzusetzen. Jedes Mittel dazu schien ihnen recht, anfangs sogar der Krieg. Die Werkbundausstellung 1914 wurde zwar in Köln eröffnet, aber an den Fronten des Ersten Weltkrieges erst vollständig publikumswirksam, ganz davon abgesehen, daß der Krieg ohnehin nur die Fortsetzung der Wirtschaft mit anderen Absatzmitteln ist. Nach dem Krieg war die Moral gefestigt, da kein noch so heiliger Zweck inhumane, gar verbrecherische Mittel rechtfertigt. Anders ausgedrückt: Es stand fest, daß die Kunst nicht Zweck, sondern Mittel zu sein hat. Diese Moral erfüllte der Künstler der Moderne mit unwiderstehlichem Pathos, das als »Schönheit der Arbeit« und »Kraft durch Freude« sogar die Nazis bezwang. Sie wollten mit der Heilsgewißheit der Künstler und Künste in allen Lebensbereichen ernst machen, todesernst; und das haben sie weiß Gott getan.
Und unsere Moral, aus der heraus der Werkbund Kulturpolitik betreiben sollte, die hoffentlich ihrerseits nicht auch wiederum jemanden finden wird, der mit ihr tödlichen Ernst zu machen verspricht? Kurz gesagt und zugestandenermaßen für ein Moralpostulat etwas überraschend: Lernt lügen! Die Kritik findet nur einen Ansatzpunkt, wo zwischen willentlicher Lüge und der Behauptung der Dummheit unterschieden werden kann. Überall herrscht die bloß natürliche Dummheit, so daß die Frage »Wer gestaltet die Bundesrepublik?« klar zu beantworten ist: Es gestaltet sie leider die Dummheit und nicht die Lüge; leider die Dummheit und ihre spezifische Logik und nicht die kapitalistische Profitgier; leider nicht Größenwahn und Egomanie, nicht Klassenkampf und Bruderzwist, sondern Dummheit. Es ist die Logik der Dummheit (vgl. hierzu ›Logik der Dummheit‹, in diesem Band S. 299-322), die Aufrüstung als Nachrüstung und Nachrüstung als Abrüstung darstellt; es ist die Logik der Dummheit, die Untergang vor Auferstehung setzt; es ist die Logik der Dummheit, die Arbeitsplatzsicherung vor die Erhaltung des Lebens der Arbeitenden setzt. Für den Arbeitsbereich der Werkbündler hat Lucius Burckhardt in vielen Jahren sehr überzeugende Beispiele von Kontraproduktivität als Logik der Dummheit vorgetragen. (Lucius Burkhardt: Der Werkbund in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart 1978.) Daran sei hier erinnert, mit allem Nachdruck!
Kulturpolitik des Werkbunds? Aus der Moral des Lügens? Es ist leider keine lügenhafte Verdrehung eines evidenten Sachverhalts, wenn uns die Auffassung zugemutet wird, Beamte hätten ihre Privilegien gegen die Pflicht zum Stillschweigen, gegen Willfährigkeit und Charakterlosigkeit – getarnt als politische Zurückhaltung – erkauft, anstatt zu behaupten, daß Beamte Privilegien genießen, weil sie Pressionen ausgesetzt sind, derer sich ein Nichtprivilegierter kaum erwehren kann. Es ist leider keine wirksame Lüge, sondern schiere Mechanik der natürlichen Dummheit, vorwurfsvoll herumzuposaunen, die Kultur werde bei uns subventioniert, weil sie unter freien Marktbedingungen sonst nicht lebensfähig wäre; als ob Bergbau und Energiewirtschaft, Stahlkocher und Immobilienhändler, Industrieansiedlung an der Elbe und im Weltraum nicht ihrerseits um das zigfache dessen subventioniert werden, was man der Kultur als Ersatzkirche zugesteht. Es ist leider nicht die Sorge des ökonomischen Hausvaters um niedrige Preise, die den deutschen Durchschnittsindustriellen so designfeindlich macht. Es ist mangelnde Moral, also die unterentwickelte Fähigkeit zur Unterscheidung von rechtfertigender Verdrehung und ängstlicher Verdrängung, die unsere Politiker, mit wenigen Ausnahmen wie der des noch zum Lügen fähigen Herrn Strauß, begriffsgläubig die freiheitlich demokratische Grundordnung Parade laufen heißt, anstatt zu verstehen, daß der Verweis auf das Grundgesetz immer nur zur Kritik am bisher Gegebenen und Erreichten dienen darf.
Der Werkbund hätte mit seiner Kulturpolitik aus der Moral des Lügens demnach zu versuchen, auf die Auslegung der Gesetze, auf die Anwendung von Richtlinien und Verordnungen Einfluß zu nehmen. Er hätte seinen Mitgliedern wie der Öffentlichkeit gegenüber eine zeitgemäße Form der Aufklärung zu betreiben, derzufolge ein Richter, ein Arzt oder jedwede Experten erst in dem Maße tatsächlich Vertrauen verdienen, in welchem sie es vermögen, ihre eigene Abhängigkeit von Vorurteilen einzugestehen und die Zweifelhaftigkeit ihrer eigenen Entscheidung darzustellen. Es ist ja bloß ein dummes Märchen, daß wir alle, gerade als Experten, immer schon gegen jede Einsicht reflexiv abgefedert seien, also auf jeden Vorhalt krimineller Absichten nur noch mit einem herzhaften »Na und?« antworten könnten. Schön wär’s.
Lernt lügen mit dem Deutschen Werkbund! Gestaltet die lügenden Formen, das Unangemessene, Unpassende, das Materialungerechte! Ehret den Kitsch, denn er vibriert noch vom Pathos der grandiosen Lüge, ihn umstrahlt noch die versuchte Seheinheiligkeit! Baut mehr Ruinen! Der zeitgenössische Name für diesen ruinösen Kitsch ist Postmodernismus. Nur das Falsche ist als solches noch wahr.