Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 244 im Original

Band VIII.3 Mythos als Aufklärung

Rüm Hart un kloar Kimming (Vertrauen und ein Ziel vor Augen haben)

In: Annelie Pohlen (Hrsg.): Zeichen und Mythen, Orte der Entfaltung, (Katalog) Bonn 1980 (Köln 1982)

Mythos ist Erzählung, die urheberunabhängig geworden ist und deshalb bereits einen allgemeinen Geltungsanspruch der Erzählung zu rechtfertigen scheint. Urheberunabhängigkeit durchaus so verstanden, wie es ›Der kleine Wissenschaftsmann‹ in unserer Jugendzeit verkündete und wie es uns die Funktionäre der Wissenschaft in den Hörsälen aufoktroyieren wollten. Wissenschaftler sei nur, wer als Person und Subjekt zurücktrete hinter den Anspruch der Wahrheit. Und Wahrheit sei das, was bei einem hieb- und stichfest angelegten Experiment herauskomme.

Welche Tröstungen uns doch der Wandel der Zeiten beschert: Jene, die einst auszogen, endlich den haltlosen Mythen durch positive Wissenschaft den Garaus zu machen, sind selbst die Mythenerzähler geworden. Sie sind nun die einzigen, denen Richter und Politiker als Experten der Wahrheit noch Macht einzuräumen bereit sind.

Selbstverständlich halten sich alle Betroffenen in dieser Frage für so aufgeklärt, daß sie sich schier ausschütten, wenn etwa von »deutscher Physik« die Rede ist, wie weiland in den Bannflüchen Professor Lenards gegen den Juden Einstein. Da weiß denn jedes Hänschen, daß eine deutsche Physik nichts anderes als ein Mythologem parteiprotegierter Wissenschaftler sei, die ihre fehlende wissenschaftliche Qualifikation durch Ideologiezauber wettzumachen versucht hätten. Doch – so einfach kann man sich den Mythos nicht vom Halse halten; Professor Lenard hatte als Experimentalphysiker immerhin den Nobel-Preis erhalten.

Weil positive Wissenschaft eben Mythos ist, brauchte Professor Lenard sein wissenschaftliches Selbstverständnis gar nicht zu strapazieren, wenn er »deutsche« und »verjudete« Physik gegeneinander abgrenzte. Es ging ja um nichts anderes als die »Scharlatanerie« eines Einstein, der es wagte, sein bloßes spekulatives Nachdenken am Schreibtisch für Wissenschaft zu halten, und der dabei bereit war, sich als Wissenschaftler in alle die Bereiche des Lebens einzumischen, die sich partout nicht von der Wissenschaft kritisieren lassen wollten. Dieser Einstein beharrte darauf, schamlos ›ich‹ zu sagen, anstatt ›die Wissenschaft‹ auftreten zu lassen. Das Postulat »deutscher Physik« – oder das einer »marxistisch-leninistischen Genetik« – verdankt sich nicht hirnrissigen Neidlingen niedersten Wissenschaftsranges, sondern ist die Konsequenz jeder Positivität von Wissenschaft, die behauptet, Wissenschaft sei mehr als einer der vielen Versuche, das menschliche Leben zu bestehen. Die Wahrheit derartiger Wissenschaft ist eine ungeheuer grausame Menschenfalle.

Vor ihr bewahrt nur der Einspruch der Künstler, wobei man als Künstler alle diejenigen zu verstehen hätte, die auf gar keinen Fall bereit sind, als Aussagenurheber hinter ihren Aussagen zu verschwinden. Derartige Künstler gibt es, Gott sei Dank, vor allem auch noch auf den höchsten Rängen des Wissenschaftsbereiches.

Aber, gemach: Dr. Heini Schulze und seine Duplikate auf den langen Fluren der Wissenschaft in Spannbeton werden es schon noch schaffen, die Aberkennung des Wissenschaftlerstatus für alle diejenigen durchzusetzen, die einen Brief an die Gremien der akademischen Selbstverwaltung mit ›Ich‹ beginnen. (Vgl. hierzu ›Der Ich-Mensch wird gewinnen‹, in: ›Ästhetik als Vermittlung‹, S. 725)

Individuelle Mythologien?

Anfang der 70er Jahre fanden sich viele Künstler dazu bereit, unter dem Szeemannschen Problemnamen »Individuelle Mythologien« für die documenta 5 zu firmieren. Wenn aber Mythos urheberunabhängige Erzählung ist, dann wären individuelle Mythologien ein Unsinn wie die »subjektive Wahrheit«, nicht wahr?

Mir scheint es indes so gewesen zu sein, daß »Individuelle Mythologien« die Aneignung von Mythos und Mythologisierung durch einzelne Künstler bezeichnen sollten.

Solange nicht die Computer des BKA-Präsidenten Herold uns mit logischer Zwangsläufigkeit das Verständnis der göttlichen Offenbarung aus dem Mund technischer Medien aufzwingen können, bleibt das Faktum zu beachten, daß jeder Mythos, der wissenschaftliche wie der volksweisheitliche, verstanden und wirksam gemacht werden will.

Und so weit wir noch nicht die Wissenschaft und die Partei, die Kirche oder die Menschheit aus uns sprechen lassen können (denn da sind immer schon andere, die behaupten, aus ihrem Munde sprächen Kirche, Partei und Wissenschaft), bleibt es ja die Aufgabe der einzelnen Personen und Subjekte, sich die Mythen anzueignen.

Das scheinen die Vertreter individueller Mythologien in der Kunstpraxis geleistet zu haben. Denn es ist schwerlich zu leugnen, daß durch ihre Arbeiten zumindest unsere Bereitschaft gefördert wurde, nicht nur nach den historischen Urhebern, sondern auch nach den historischen Benutzern der Mythen zu fragen. An dieser Stelle ein herzliches Kompliment an Bayreuth; es ist eine Tat der Aufklärung, wenn der jetzige Chef des Hauses Wagner darauf hinweist, daß sein Großvater mit dem ›Ring der Nibelungen‹ dem deutschen Volk das größte Drama nach ›Faust I‹ und ›Faust II‹ geschenkt habe. Wagner war es – und nicht der Geist des Germanentums. Wieso wäre demokratische Abwehrgymnastik gegen Wagners Dichtungen gerade von denjenigen notwendig, die doch von sich behaupten, daß sie nicht dazu verführt werden könnten, Wagner mit dem Weltgeist zu verwechseln?

Immer diese Überraschungen

Das schöne deutsche Volkslied ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹ soll ein gewisser Heinrich Heine einfach so geschrieben haben! Goethe und Schiller – immerhin große Deutsche – werden von einem Herrn Büchmann bezichtigt, ihre Dramen unter Verwendung hunderter von geflügelten Worten alter deutscher Volksweisheit geschrieben zu haben. Wenn das stimmt – und ich kenne meine Pappenheimer –, dann trüge ja doch das Volk die Dichter und jeder Bildzeitungsredakteur wäre ein Schreiber von lutherischer Größe, wenn er seine Artikel damit rechtfertigt, Volkes Stimme zu sein.

Einige ganz unverschämte Theologie-Professoren sollen ihren Beamtenstatus gelegentlich sogar dazu mißbrauchen, penetrant darauf zu bestehen, daß die Texte der Heiligen Schrift bestimmten historischen Dichtern und Denkern zugeschrieben werden müssen – was um so abwegiger ist, als jene Herren Professoren nicht mal angeben können, wer denn diese Urheber der Heiligen Schrift gewesen seien.

Noch mehr davon, aber von hinten

Schließlich lebten wir in einem Zeitalter, das den Aberglauben endlich überwunden habe. Unsere Geschichtsschreibung könne uns nunmehr sagen, wie es wirklich gewesen sei; Mythen und Märchen seien nur primitive Vorformen unserer Geschichtswissenschaft.

Es sei ja nachgerade peinlich, in der UNO dunkelhäutige Männer mit Doktor-Titeln sitzen zu sehen, die noch merkwürdige Gebilde aus Eberzahn und Büffelhaar um den Hals tragen. Woran die glauben? Unglaublich! Wir hingegen glauben an die Wissenschaft – und an nichts sonst. An einen Gott natürlich auch, soweit die Theologie als Wissenschaft sich mit ihm beschäftigt.

Freilich gäbe es hie und da auch bei uns noch bedauernswerte Menschen, die mit Unterstützung guter Geister Teufel austreiben wollten. Dabei habe die Wissenschaft längst bewiesen, daß es weder Engel noch Teufel gebe. Gott sei Dank garantiere unsere Ärzteschaft eine lückenlose medizinische Versorgung, so daß es sich auch diese bedauerlichen Wesen leisten könnten, in eine psychotherapeutische Behandlung zu gehen, wo sie unter wissenschaftlicher Kontrolle den Urschrei auszustoßen lernten und damit geheilt seien.

Künstler sind also Feinde des urheberunabhängigen Mythos. Die positiven Wissenschaftler sind also Feinde des Subjekts; »subjektiv« ist ihr vernichtendstes Diktum für einen Aussagenanspruch. Welch eine Verkehrung der Fronten, an denen sich doch einstmals die mythologisierenden Künstler und die dem eigenen Verstande vertrauenden Wissenschaftler gegenübergestanden haben.

Gibt es eine Erklärung für diesen Bühnenzauber? Vielleicht darin, daß man das Durchexerzieren wissenschaftlicher Methoden mit dem Betreiben von Wissenschaft verwechselt. Wissenschaftliche Methoden aber sind nichts als Handwerkszeug (eines unter den zahllosen, die vor allem von Künstlern ausgebildet worden sind:

Die gesamte Methodologie der modernen Wissenschaften ist aus analogen künstlerischen Vorgehensweisen – vor allem im 16. Jahrhundert – entwickelt worden: vom Linsenschneiden über die Perspektivlehre bis zur Entwicklung des Modellbegriffs).

Der Verwechslung von Exerzitium wissenschaftlicher Methoden mit dem Wissenschaft-Treiben entspricht die Verwechslung von Exerzitium (auch absonderlichster) künstlerischer Verfahrensweisen mit dem künstlerischen Arbeiten. In der Auseinandersetzung um Mythos und Mythologisierung ist diese Verwechslung immer schon gesehen worden.

Mythos und Ritus

Robertson Smith oder S. H. Hooke und die Mehrzahl ihrer Kollegen (S. H. Hooke (Hrsg.): Myth ritual kingship, Oxford 1958) sahen sich immer schon gezwungen, Mythos und Ritus zu unterscheiden:

Weder ist der Ritus bloß eine inszenierende Dramatisierung des Mythos, noch ist der Mythos bloß eine rechtfertigende Begründung des Ritus. Weder ist das Exerzieren wissenschaftlicher Methoden eine Inszenierung der Wissenschaft, noch ist die Wissenschaft bloß eine Rechtfertigung für die Verwendung bestimmter Methoden. Weder ist die künstlerische Verfahrensweise zur Erstellung einer Aussage nur eine inszenierte Umsetzung eines Begriffs von Kunst, noch sind ›Kunstbegriffe‹ bloß als Rechtfertigungen für das Durchexerzieren beliebter Verfahrensweisen zu benutzen.

Daher rührt nach meinem Empfinden eine Unzahl von Mißverständnissen – etwa derart, daß sich das Publikum weigert, irgendwelche noch so gut begründeten Verfahrensweisen der Bilderzeugung schon für Kunst zu halten und (entsprechend) irgendeinen Kunstbegriff allein deswegen schon zu akzeptieren, weil er zur Begründung irgendwelcher Bilderzeugungen vom Künstler herangezogen wird.

In der Tat muß man zu akzeptieren bereit sein, daß sehr viele Künstler sich heute darauf beschränken, von ihnen ›erfundene‹ Verfahren der Bilderzeugung vorzustellen, ohne daß sie damit auch nur daran dächten, daraus irgendeinen Kunstbegriff abzuleiten; wie man andererseits auch akzeptieren muß, daß viele Künstler einen Kunstbegriff vertreten, den sie nicht mehr im Exerzitium entsprechender Verfahren der Bilderzeugung zu rechtfertigen und zu begründen bereit sind.

Das Publikum empfindet bei der grassierenden Wissenschaftsgläubigkeit solche selbstbeschränkenden Auffassungen der Künstler als Versagen oder Unfähigkeit.

Das Gegenteil ist jedoch richtig; und was die Künstler damit demonstrieren, hat weit über den Kunstbereich hinaus vor allem für Wissenschaft, Politik und den Aufbau von Handlungsnormen des Alltags eine entscheidende Bedeutung.

Mythos und Ritus, wissenschaftliche Methoden und Wissenschaft als Bewältigung der Lebensanstrengung, künstlerische Vorgehensweisen und das Schaffen von Kunstwerken dürfen nicht kongruent sein; Plan und Realisierung, Entwurf und Verwirklichung dürfen nicht restlos ineinander überführbar sein.

Tatsächlich menschenwürdiges Verständnis von Wissenschaft, Kunst, Religion und Alltagsleben muß auf der ›Differenz‹ oder auf dem ›ruinösen Charakter‹ oder der ›Fragmentqualität‹ aller Realisierung bestehen - gegen systematische Konzepte, Ordnungen, Utopien und ihre sachimmanenten Zwänge. Aber die Systeme, die Ordnungen, die Utopien sind keine Rechtfertigung für die bloß fragmentarische und ruinöse Realisierung, sondern begründen die Kritik an ihnen. Sie rechtfertigen sich selbst dann nicht, wenn der Urheber der Systeme, Ordnungen und Utopien tatsächlich der liebe Gott gewesen wäre, geschweige denn historische Subjekte, die man aus naheliegenden Interessen zu entpersönlichten Agenten und Medien der Wahrheit und der Offenbarung hat werden lassen.

Gott ist aus guten Gründen kein positiver Wissenschaftler geworden, sondern hat sich aus der Schöpfung zurückgezogen, weil er sich selbst eliminiert hätte, wenn seine Schöpfung mit seinen Plänen deckungsgleich geworden wäre. Noch so emphatische Auffassungen von Wissenschaft und Kunst können in ihrem Wahrheitsanspruch nichts anderes sein als die Begründung einer notwendigen Kritik an den Resultaten; auch denen des begründetsten Exerzitiums wissenschaftlicher oder künstlerischer Methoden.

Schamanismus gegen Promotion

Schamane mit Anspruch auf soziale Führungsrollen – als Arzt und Ratgeber, als Kenner und Könner - wird man nicht durch die Wahl anderer, nicht durch die Promotion, nicht durch die Aufnahme in Kunstgeschichten, sondern durch Selbstwahl.

Der Schamane setzt sich einer von ihm selbst gewollten Dysfunktion, das heißt Differenz zwischen Psyche und Physis, zwischen Vorstellung und Realität, zwischen Glauben und Wissen durch Einnahme von Giften aus, die alle anderen ›positiven‹ Wissenschaftler, Künstler, Politiker und Alltagsmenschen aufs entschiedenste als tödliche Bedrohung ihres Selbst- und Fremdbezuges zu meiden versuchen. Übersteht der Schamane diese nur von ihm selbst verursachte und gewollte Spaltung, so ist damit für ihn (und in gewissen Gesellschaften auch für andere) seine Berufung zum gesellschaftlichen Führer bestätigt.

Man will nicht sehen – und wenn man es sieht, versteht man nicht –, warum in unserem aufgeklärten Zeitalter Künstler und Politiker, Wissenschaftler und Gurus anderer Provenienzen immer noch auf das gleiche schamanistische Verfahren angewiesen sein sollten, um Aussagenautorität zu gewinnen. Wir wären doch ohnehin bereit, ihnen zu folgen und zu glauben. Aber die Führer glauben sich selber nicht – ohne die Bestätigung durch die Schamanenprobe.

Die Opfer harren der Täter, die sich selbstkritisch oder wehleidig selber als bloße Opfer verstehen. Wir harren hingebungsbereit der großen künstlerischen und wissenschaftlichen Genies als entpersönlichten Medien der Wahrheit und des Weltlaufs. Aber – sie werden nicht kommen, denn sie sind als Künstler und Wissenschaftler auch bloß Kinder ihrer Zeit. Und das heißt gegenwärtig, daß sie sich selbst nicht mehr glauben, weil sie die Schamanenprobe nicht bestanden haben: Ihre Riten vollziehen sie unter lückenloser Kontrolle der Therapeuten, ihre Mythen bleiben nur Teilsysteme. Sie wagen nicht mehr, Utopien zu setzen, weil sie durch sie einer vernichtenden Kritik aller ihrer konkreten Verhaltensweisen ausgeliefert wären.

Was so landläufig als Ohnmacht und Versagung von Kunst und Wissenschaft immer erneut dargestellt wird, kann sich als unsere Stärke erweisen.

Daß wir keine Hoffnung mehr haben, auch die bestbegründeten systematischen Utopien je verwirklichen zu können, schützt uns allein davor, Politik als schöne Kunst zu betrachten, die ja tatsächlich und volksweisheitlich immer nur mörderisch sein kann. Soweit heute ein zunehmendes Interesse an Mythos und Ritus besteht, kann wenigstens für die Künstler gesagt werden, daß sie nicht mehr daran denken, den Mythos in Ritus, die Utopien in Realität restlos zu überführen. Die Künstler wenigstens haben die Lektion unserer jüngsten Geschichte gelernt.

Es bleibt zu hoffen, daß sich ihr Beispiel vor allem bei den Politikern und positiven Wissenschaftlern bemerkbar machen wird.

Krank am Mythos

Man muß sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, daß die kulturellen Diskussionen in Deutschland unter ganz einmaligen Bedingungen stattfinden. Damit ist nicht nur gemeint, daß in Deutschland ein Welt-Experiment stattfindet, das sich in der parallelen Existenz der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland manifestiert: Bei annähernd gleichen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen, gleicher Sprache und gleich intensiver Verinnerlichung der Fiktion eines deutschen Nationalcharakters läßt sich das Verhältnis von politökonomischem System und kulturellem Leben überprüfen.

Für die Überprüfungsresultate, die bisher vorliegen, nur ein Beispiel: Es wurde stets behauptet, daß die im Kapitalismus honorierte Spekulation mit Baugrund jene menschenfeindliche ZK-Architektur in Beton hervorbringe, gegen die gerade gegenwärtig wieder Bürger jeden Alters und aller Klassen bis zur Gewalttätigkeit gehende Proteste äußern. In der DDR aber, in der es keine Spekulationen mit Baugrund gibt, sind die Stadtarchitekturen keineswegs humaner als in der Bundesrepublik. Also zeigt das Weltexperiment Deutschland in diesem Punkte, daß andere Faktoren als die Bodenspekulation in Rechnung gestellt werden müssen, wenn die Zerstörung der Städte aufgeklärt werden soll. (Vgl. hierzu: ›Nicht Post-, sondern Prämoderne‹, S. 419ff.)

Das Weltexperiment Deutschland ist vor allem für die kulturellen Auseinandersetzungen in der Gegenwart so unvergleichlich, weil die Erfahrungen des Faschismus – Nationalsozialismus in Deutschland einzigartig sind. Eine wissenschaftlich, kulturell und auch wirtschaftlich seit mehr als hundert Jahren führende Nation demonstrierte Akte der Selbstzerstörung, die allem zu widersprechen scheinen, was die großen Leistungen in Wissenschaft, Kunst, Musik, Literatur und Wirtschaft postulierten.

Der preußische Geist, dem 1981 in Ost- und Westberlin in gigantischen Ausstellungen und Untersuchungen nachgespürt wurde, ist ganz gegen die landläufige Weltmeinung nicht der Geist fleißigen, aufopferungsvollen, produktiven Schaffens, sondern der Geist der Radikalität, dessen Konsequenz die Selbstzerstörung sein muß.

Rudolf Augstein, der Herausgeber des ›Spiegel‹, hat vor kurzer Zeit einleuchtend dargestellt, daß die deutsche Geschichte, so weit sie in den vergangenen zweihundertvierzig Jahren in erster Linie von Preußen bestimmt wurde, eine einzige Kette von völlig aberwitzigen Vabanquespielen gewesen ist. In dieser Hinsicht zeigen etwa die Verhaltensweisen van Friedrich dem Großen, von Bismarck, Wilhelm ll. und Hitler eine schauerliche, keineswegs zufällige Übereinstimmung. Die Verhaltensweisen dieser Führer und ihrer tausender Unterführer lassen sich mit der Argumentation kennzeichnen, die zuletzt Hitler in aller Eindeutigkeit für das von ihm angerichtete Desaster vorbrachte: »Wenn unser politisches und militärisches Handeln in einer Katastrophe endet, dann hat das Deutsche Volk nichts Besseres verdient.«

Was ist das Faschistische an diesem deutschen Verhalten, das schon lange bevor der Faschismus und Nationalsozialismus auch als politisches System etabliert waren, in Deutschland grassierte? Schon Heinrich Heine gab darauf die eindeutige Antwort, wenn er sarkastisch schilderte, wie die Deutschen »im Reich der Lüfte« ihre Gesellschaft und ihren Staat bauen, nachdem bereits seit Jahrhunderten den Franzosen und Engländern die Verwirklichung ihrer Staaten auf Erden gelungen war.

Das heißt: Die Deutschen hielten und halten wissenschaftliche, literarische, künstlerische – kurz – intellektuelle Weltentwürfe für reale Gegebenheiten. Sie lesen Philosophien und Kunstwerke als reale Handlungsanleitungen zur Verwirklichung von Ideen und Vorstellungen, anstatt sie als Begründung von Kritik an den jeweils gegebenen Zuständen auf Erden zu nutzen.

Das ist die deutsche Krankheit, die sich gegenwärtig überall dort weltweit ausbreitet, wo man zum Beispiel marxistische System-Entwürfe als Anleitung für konkretes politisches und soziales Handeln versteht.

Antisemitismus hat es in allen Ländern gegeben. In manchen radikaler als in Deutschland – aber nur in Deutschland konnte man Antisemitismus als Handlungsanleitung für die tatsächliche systematische Ausrottung der Juden vertreten – und diese Tat dann auch noch als selbstüberwindende, aufopferungsvolle Pflichterfüllung sich zugute halten, wie das der SS-Führer Heinrich Himmler 1943 in einer Rede an die Offiziere der SS dargestellt hat.

Zensur wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitens hat es in allen Ländern gegeben – und es gibt sie auch heute noch mit dem Argument, daß mit der Zensur machtpolitische Entscheidungen durchgesetzt werden müßten. Aber nur in Deutschland ist das Berufsverbot, ja das Verbot privater Arbeit von Intellektuellen und Künstlern, die Verbrennung und öffentliche Verhöhnung ihrer Werke, ihrer Einlieferung ins KZ und – im günstigsten Falle – ihre Ausbürgerung von der Mehrzahl der Deutschen als selbstverständlich akzeptiert worden, um Ehre und Reinheit wahren Deutschtums zu demonstrieren.

Lachhafte Kampagnen gegen wissenschaftliche und künstlerische Konkurrenten gab es und gibt es in allen Ländern – aber in Deutschland konnte ein tatsächlich befähigter und mit dem Nobel-Preis für Experimentalphysik ausgezeichneter Professor Lenard einen Professor Einstein und seine Kollegen mit der Feststellung verfolgen, Einstein verträte eine »un-deutsche« Physik.

Immer schon fiel es den Deutschen schwer, die Pragmatik der Engländer und die Konstruktionen des schönen Scheins der Franzosen zu verstehen, obwohl einer der bedeutendsten Kulturtheoretiker, nämlich Friedrich Schiller, lange Zeit zum Pflichtpensum aller deutschen Schüler gehörte. Schiller versuchte klarzumachen, daß die Konstruktionen der Kunst nur als »schöner Schein« wirklich sind. Das zu akzeptieren war den Deutschen unmöglich, weil sie glaubten, in der Anerkennung des ästhetischen Scheins die Wirklichkeit und die Wahrheit verleugnen zu müssen. Die sprichwörtliche »deutsche Tiefe« ist das Resultat der Unfähigkeit, den schönen Schein, also bildliche Vorstellungen oder mythische Erzählungen oder wissenschaftliche Systemgedanken eben als bloßen Schein zu akzeptieren.

Für die Deutschen stellte sich das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, von Schein und Wesen, von Vorstellung und materialer Wirklichkeit immer nur als das Verhältnis von Plan und Realisierung, von Entwurf und Ausführung dar. Eine autonome Sphäre des ästhetischen Scheins konnten sie nicht gelten lassen. Jede künstlerische Aussage wurde danach beurteilt, wie man sie in die Wirklichkeit planmäßig umsetzen konnte.

Der angelsächsische Pragmatismus wählte künstlerische und wissenschaftliche Konstruktionen danach aus, ob sie in die Realität des Alltagslebens paßten, die deutschen Idealisten zwangen das Alltagsleben unter die wissenschaftlichen und künstlerischen Systemkonstruktionen. Deswegen war es für die deutschen Führer so selbstverständlich, daß sie darüber zu entscheiden hatten, welche wissenschaftlichen und künstlerischen Gedanken zugelassen werden dürften und welche nicht. Ein englischer König oder ein amerikanischer Präsident, die sich anmaßten, in aller Ernsthaftigkeit und mit allen radikalen Folgen zu behaupten: »Was Kunst und Wissenschaft sind, das bestimme ich!«, würden bei ihrer Bevölkerung schallendes Gelächter hervorrufen. – Die Mehrzahl der Deutschen fand es ganz natürlich, daß etwa Kaiser Wilhelm oder Hitler sich als oberster Entscheider über Kunst und Wissenschaft darstellten.

Welche Folgen das hat, ist der Welt immer wieder demonstriert worden, obwohl die Welt das kaum verstand. Noch heute neigt man dazu, die unsinnigen Ideologien in Kunst und Wissenschaft während des Dritten Reiches für die Ausgeburt der Dummheit politischer Funktionäre zu halten. Aber nicht nur die Ideologie der »un-deutschen« Physik wurde von einem befähigten Wissenschaftler entwickelt, auch die Rassenlehre (sogar als empirisch ausgewiesene), die Lehre vom Primat der deutschen Kultur, die Behauptung, die Gotik des Mittelalters sei eine deutsche Erfindung, die rechtswirksame Auffassung von den germanischen Tugenden – das alles sind Resultate ganz normaler Wissenschaft in Deutschland gewesen. Sie wurden nicht von den Parteibonzen erfunden, sondern von Professoren. Hitler selber hat das klar ausgesprochen, ja sich darüber lustig gemacht.

Hitler konnte nur so erfolgreich sein, weil er den Deutschen nicht seine eigenen Erfindungen aufzwingen wollte, sondern weil er die längst vor ihm in Deutschland für selbstverständlich gehaltene Relation von Gedanke und Tat, von Entwurf und Ausführung, von Kunst und Wirklichkeit ernst nahm.

Ein Deutscher, Heinrich Schliemann, hatte dieses Problem mit großer öffentlicher Resonanz und Überzeugungskraft dargestellt: Er nahm den bloßen ästhetischen Schein, die mythische Fiktion der homerischen Dichtungen wörtlich – nämlich als Handlungsanleitung – und entdeckte so tatsächlich das historische Troja und Mykene. Genauso wie Schliemann und die Mehrzahl seiner Kollegen in Wissenschaft und Kunst ging Adolf Hitler vor. Aber – anstatt sich auf die Konstruktion einer neuen Geschichte unserer Kultur zu beschränken, wendete er den wörtlich genommenen ästhetischen Schein, die wörtlich genommenen künstlerischen und wissenschaftlichen Mythologien auf die unmittelbare Gegenwart an; das Resultat ist bekannt, wenn auch sein Vorgehen bisher nur selten verstanden wird.

Ich erwähne das, weil die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von genau der gleichen Problematik beherrscht wurde und gegenwärtig verstärkt beherrscht wird. Daraus resultiert nämlich der gegenwärtige Kulturkampf »Zurück zum Mythos«.

In aller Offenheit, vielleicht aber unbewußt, nannte man die ersten Jahre der Bundesrepublik Deutschland die Phase des Wiederaufbaues; und in der Tat knüpfte man wieder da an, wo man seit hundert Jahren gestanden hatte. Die Ideologie der Bundesrepublik wurde wieder von den gleichen Kräften bestimmt, die sich als Wissenschaftler und Künstler bereits 1933 ohne äußeren Druck mit ihren offiziellen Standesvertretungen in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hatten, lange bevor die Durchschnittsbürger sich einverleiben ließen.

Die Bundesrepublik hatte das Glück, in ihren Anfangsjahren von einem Mann regiert zu werden, der rheinischer Separatist und vor allem Katholik gewesen ist. Deswegen war Adenauer weniger anfällig, ein deutsches Selbstverständnis, wie ich es oben angedeutet habe, zu demonstrieren. Die intellektuellen Katholiken waren in Deutschland stets aufgeklärter über den Wirklichkeitsanspruch des schönen künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Scheins als die Protestanten, weshalb sie auch stets humorvoll und witzig-sarkastisch ihre eigene Lebenspraxis relativieren konnten. Was der biedere Protestant an den katholischen Zeremonien für Brimborium und bloße Oberflächlichkeit hielt, verstanden die intellektuellen Katholiken als Behauptung des ästhetischen Scheins, den sie nicht mit dem Wesen der göttlichen Offenbarung verwechselten. Die Katholiken hatten deshalb auch stets ein viel direkteres und freieres Verhältnis zu den Künsten, als es sich die protestantischen Begriffsgläubigen leisten konnten. Die protestantischen Gebiete waren stets künstlerisch viel ärmer und auch beschränkter. Die für die jüngste Geschichte entscheidende Konfrontation von Protestanten und Katholiken in dem von dem protestantischen Bismarck inszenierten Kulturkampf, ist nicht unwesentlich eine Auseinandersetzung zwischen den begriffsgläubigen protestantischen Idealisten und den katholischen Verfechtern einer Autonomie des ästhetischen Scheins. Es war eine Wiederaufnahme der alten Bilderkriege.

Die radikalen Bilderstürmer behaupteten eine Identität zwischen der Sphäre des ästhetischen Scheins eines Bildes und dem auf diesem Bilde Dargestellten; während die aufgeklärten Katholiken gar nicht daran dachten, zwischen Abbild und Abgebildetem eine Identität anzunehmen. Auch dieses Feld unserer Kulturgeschichte wird gegenwärtig wieder beackert: Wir leben in einem permanenten Bilderkrieg, der im Zeitalter der technischen Bilderzeugung und Bildverbreitung in Kunst, Wissenschaft und Politik schon längst wieder so radikale Folgen gehabt hätte wie im Dritten Reich und wie er sie in der Deutschen Demokratischen Republik hervorbrachte, wenn nicht die Hüter der Verfassung der Bundesrepublik so stark gewesen wären wie bisher. Es ist zu bezweifeln, ob die Garantien des Grundgesetzes noch lange aufrechterhalten bleiben können. Der Mythos wird als positive Wissenschaft unser aller Opfer fordern!

Gerade Jugendliche verfallen wieder der deutschen Krankheit im Wörtlichnehmen von Systemkonstruktionen: Diesmal nehmen sie das Grundgesetz wortwörtlich, wodurch es natürlich ein leichtes ist, die tatsächlichen Zustände als nicht dem Grundgesetz entsprechend anzuprangern. Solange mit dem Hinweis auf das Grundgesetz die politische und soziale Wirklichkeit kritisiert wird, ist das in Ordnung. Wenn man aber auf der wort-wörtlichen Erfüllung des Grundgesetzes besteht, dann müßten daraus selbst dann totalitäre Zustände resultieren, wenn dieses Grundgesetz von allen Heiligen und von Jesus Christus selbst verfaßt worden wäre.

Von den Versuchen des 14. und 15. Jahrhunderts in Pienza, Villanuova und Sabionetta, eine ideale Gesellschaft und eine ideal konstruierte Umwelt zu realisieren, bis zu den heutigen Subkultur-Gemeinschaften und den erklärten Versuchen, eine ideale kommunistische Gesellschaft zu etablieren, hat sich erwiesen, daß die umstandslos identische Verwirklichung eines Systementwurfs sich als inhuman und zerstörerisch auswirken muß, weil die Kraft des Denkens immer aus der Differenz von Plan und Realisierung, von Vorstellung und Verwirklichung lebt. Gerade idealste Kunstwerke und menschenfreundlichste Politik dürfen nur als ›Ruinen‹ konstruiert sein. (Vgl. hierzu: ›Ruine als Modell der Differenz‹, in diesem Band S. 176-187)

Das hat neben anderen vor allem das Judentum verstanden. Die Juden haben sich seit langem von der Vorstellung verabschiedet, eines Tages hier auf Erden die identische Erfüllung ihres Glaubens errichten zu können. Wo sie es dennoch versuchten – wie teilweise in Israel –, stießen sie schnell an die Grenzen des Menschenmöglichen. Vor allem das mosaische Bilderverbot hat diesen Gedanken im Judentum zum Ausdruck gebracht.

Als die Christen behaupteten, mit Jesus sei die wirkliche und letztgültige Verwirklichung der Verheißung auf Erden etabliert, setzten die Juden alles daran, den Gegenbeweis anzutreten. Der radikale Haß auf das Judentum und seine faktische Auswirkung in Deutschland sind in erster Linie aus dem permanenten Widerspruch der jüdischen Theologie gegen jede wortwörtliche Verwirklichung eines Mythos, eines Gedankensystems entstanden.

Gerade daraus lebten aber die deutschen Träume von der Verwirklichung des Heiligen Deutschen Reiches. Die gegenwärtig wieder brisant werdenden Versuche, wissenschaftliche und künstlerische Werke als System-Konstruktionen wörtlich zu nehmen und ihre identische Verwirklichung zu erzwingen, verlangen nach einem kontrollierenden Einspruch jüdischer Intellektualität. Aber – ›Juden‹ gibt es nicht mehr im öffentlichen Leben Deutschlands. Vielleicht ist an dieser Stelle verständlich, warum Künstler wie Syberberg und Kiefer in der Bundesrepublik so große Aggressionen auslösen. (Vgl. hierzu ›Besetzung und Bilderkrieg‹, in diesem Band S. 293-298) Ihre Werke erheben nämlich einen Anspruch auf die Analyse der hier dargestellten Probleme, die alle bisherigen Zuordnungen und Parteiungen auseinandersprengen.

Syberberg (Vgl. hierzu ›Syberberg‹, Band IX, S. 441-443) geht so weit zu behaupten, daß die Vorgänge im heutigen Israel die letzte Konsequenz deutscher Problemstellungen seien. Sie seien es, weil viele Israelis in erster Linie leider Deutsche gewesen sind und erst in zweiter Linie aufgeklärte Juden. Denn, solche Juden wüßten, daß ideale Konstruktionen und Verheißungen nicht verwirklicht werden dürfen, wenn sie nicht unmenschlich werden sollen. Die Diaspora ist der angemessene Wirkungsraum aufgeklärter Intellektueller.

Das Beste, was man im gegenwärtigen Kulturkampf in der Bundesrepublik hoffen kann, ist, daß ein großer Teil gerade der Künstler und der Intellektuellen, die den Avantgarden und der Moderne verpflichtet sind, sich in der Bundesrepublik als Angehörige einer Diaspora verstehen lernen.

Jede Beschäftigung mit den gegenwärtigen Produktionen in Kunst und Wissenschaft der Bundesrepublik sollte nach meiner Meinung vor einem Horizont geschehen, wie ich ihn hier zu skizzieren versucht habe.

siehe auch: