Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 191 im Original

Band VIII.2 Geschichte als Dimension der Gegenwart

Aha - Clou - Erdverwertung: Ein Stück Berlin zur historischen Imagination

Überarbeiteter Text der Besucherschule zum historischen Lehrpfad in Berlin 1981. In: Im gehen Preußen verstehen. Ein Kulturlehrpfad der historischen Imagination (Katalog), IDZ, Berlin 1981; vgl. hierzu auch Band IX, S. 366-367

»Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit!
Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!«
(Wagner, Parzifal, 1. Akt)
»Zwar wähn ich mich schon weit, doch schritt ich kaum;
Du siehst, mein Freund, zu Zeit wird hier der Raum!«
(Bazon Brock, an die Teilnehmer des Kulturlehrpfades der historischen Imagination, Berlin 1981)

1 Das Troja unseres Lebens

Gegeben ist der Raum zwischen Niederkirchnerstraße, Wilhelmstraße, Anhalter Straße, Askanischem Platz, Möckernstraße, Landwehrkanal, Mendelssohn-Platz und Dessauer Straße. Oasen des Lebens in einer flachen Einöde, Trümmerfelder der Träume, Gärten des Bösen. Eine Apotheose der von Menschen zugerichteten Welt. Ein Bruchstück als Ganzes, unvergleichlich jedem anderen so kleinen Territorium in unserer Welt. Territorium des Nirgendwo. Diaspora der Erinnerung, der Anklagen, der Flüche, der Vertreibung aus der Hölle verwirklichter Utopien.

Diesen Raum, mit wenigen Schritten zu durchmessen, kaum größer als eine barocke Freilichtbühne oder ein englischer Garten – und ihnen auch in seinen Kulissenaufbauten, ruinösen Architekturen und Ereignispodesten ähnlich – diesen deutschen Garten gilt es, kraft unserer zu trainierenden Imagination, in den geschichtlichen Zeiten zu verlebendigen, die hier ihren Ort hatten. Das sind lange Zeiten, aber eben auch nicht länger, als sie ein geschichtliches Bewußtsein zu fassen vermag: Das Bewußtsein von der Beständigkeit des Wechsels, von der Kontinuität der Brüche, vom Augenblick als Ewigkeit. Wie lang ist der Augenblick, in dem sich (vom Anfang der Wanderung auf dem Gelände des ehemaligen Völkerkundemuseums Stresemannstraße, Ecke Niederkirchnerstraße bis zu seinem Endpunkt, dem Pumpwerk am Landwehrkanal) die Geschichte vom Ende Trojas bis zu Schliemanns trojanischen Schatzfunden und der erneuten Verschüttung des Schatzes im Zweiten Weltkrieg zu jener Geschichte zusammenschließt, unter deren Trümmern wir lebenden Trojaner erneut drohen begraben zu werden.

Daß wir in diesem Gelände zu Trojanern werden, ist leider nicht feuilletonistische Phantasterei. Im Völkerkundemuseum hatte Schliemann seinen Schatz des Priamos deponiert, um dafür, auf Betreiben Professor Kochs, wenigstens die Ehrenbürgerschaft von Berlin zu erhalten: den Ehrendoktorhut oder eine Professur wollte man dem Wilderer in den Altertumswissenschaften denn doch nicht zugestehen. Aber die goldgeile Einholung des Schatzes erwies sich als trojanisches Pferd für das Preußen-Deutschland: Denn Schliemann hatte mit seiner Methode, den homerischen Mythos wörtlich zu nehmen, genau jenes Verfahren als äußerst leistungsfähig erwiesen, dessen radikaler Anwendung Deutschland den größten Teil seines Elends und seiner selbstüberheblichen Geistesgrößen verdankt. Das galt schon vor Schliemanns scheinbar beweiskräftiger Demonstration – aber doch nur als deutsche Begriffsgläubigkeit und Buchstabentreue. Nach Schliemann war dann kein Halten mehr: Bismarcks, Wilhelms und vor allem Hitlers Großabenteuer und Wildereien in den Gärten des Herrn kann man nur verstehen, wenn man sie von Schliemanns ›quod erat demonstrandum‹ her sieht: Erzählungen, Utopien, Weltentwürfe der Künste und Wissenschaften wurden von den Deutschen preußischen Geistes als platte Handlungsanleitungen für die Realisierung einer jeweils gewollten Welt angesehen. Und zwar so platt und so umstandslos wie nur denkbar und das heißt, so radikal wie nur denkbar. Hatte nicht zum Beispiel Hitler alle seine Programme in wünschenswerter Eindeutigkeit jedermann kundgetan? Wie sollten sich die Bewunderer Schliemanns dagegen wehren können, daß diese Programme bis zum letzten Blutstropfen auch in Taten umgesetzt werden würden? In Deutschland ißt man eben so heiß wie man kocht, der häufigste Ordnungsruf in deutschen Wohnungen heißt: »Marsch, an den Tisch, das Essen wird kalt!« Da verbrennt man sich sehr leicht!

Wir werden uns hüten, unsere geschichtliche Erschließung des Geländes als Programmatik im Schliemannschen Sinne zu verstehen. Aber Schliemanns Vorgehen scheint der Schlüssel für das Verständnis des spezifisch Deutschen, also des Radikalen und Selbstzerstörerischen im historischen Handeln zu sein. Mit diesem Schlüssel soll zum Abschluß des historischen Lehrpfades, im historischen Pumpwerk am Landwehrkanal, vor den Standbildern Goethes, Fontanes und dem des Herkules das eiserne Herz der Deutschen aufgeschlossen werden: Um den Schatz des Priamos wiederzufinden?

Die Trojaner waren ja nicht erst mit Schliemann nach Berlin gekommen. Im Zentrum des Lehrpfad-Geländes liegt der Askanische Platz. Den Namen erhielt er von den Askaniern, die mit Albrecht dem Bären 1134 an Havel und Spree zu ›kolonialisieren‹ begannen – im Auftrag Kaiser Lothars. Seit 1150 konnte sich der Askanier Albrecht dann auch Markgraf von Brandenburg nennen. Bis 1320 herrschten die Askanier in Altmark, Nordmark, Brandenburg. Mit ihrem Namen wollten sie auf die anspruchsvolle, geschichtsträchtige Herkunft ihres Geschlechtes aus Troja verweisen, denn Askanius ist der latinisierte Name eines Sohnes von Aeneas. Der Askanische Platz war also immer schon trojanisches Gelände, ganz offiziell und absichtsvoll; denn die Askanier waren die ersten ›Deutschen‹, die in dieser Weltgegend herrschten. Insofern das heilige Römische Reich tatsächlich deutscher Nation war, und insofern die Römer sich zu Recht von dem trojanischen Stammvater Aeneas ableiteten, waren auch deutsche Fürsten Abkömmlinge Trojas.

2 In Trümmern geboren, aus Ruinen ein Haus

Troja, das ist wohl nicht nur in der Vorstellung von Großgruppentouristen immer nur ein Haufen Trümmer. Ruinen sind die Lustziele touristischer Paradiesgärtlein. Was kaputt ist, erweckt Interesse; man kann sich mehr dabei denken und als bei den Architekturen der heilen Welt, vor denen sich der sprichwörtliche deutsche Handwerksmeister auf Reisen doch immer nur fragt, mit wieviel Mann, in welcher Zeit alles flachzulegen ist. Zerstörungsmacht verleiht dem Manne das Bewußtsein, auch selbst eine historische Kraft zu sein. Kinder demonstrieren Schöpfungswillen vor allem im Kaputtmachen. Das zeigt mehr überwältigende Effekte als das Aufbauen, weil es plötzlich geht und alles auf einmal. Bemessen wir nicht bis auf den heutigen Tag unsere historische Position stets danach, welche Zerstörungskraft unseren Waffen zukommt? Halten wir uns in den Trümmern der Vergangenheit so gruselnd gerne auf, weil wir glauben, allein auf diese Weise einen Blick in die Zukunft unserer Gegenwart werfen zu können?

Das Gegenteil trifft wohl (wenigstens für die Deutschen) zu: Hemmungslos wurden die vom Kriege verbliebenen Ruinen, von denen die meisten hätten wieder aufgebaut werden können, abgeräumt. Der Baupolitiker Herr Düttmann ließ noch lange nach dem Kriege kräftig abräumen, um einen städtebaulichen Gestaltungsplan von wahrhaft Speerscher Anmaßung in ganz-deutscher Radikalität in unserem trojanischen Gelände zu verwirklichen.

Hatte jedoch Speer noch Architekturen unter dem Gesichtspunkt errichten wollen, welche gigantischen Ruinen sie nach Jahrhunderten hinterlassen würden, so schufen seine Nachfolger nichts als Wüste. Jene Wüste, in deren Sand das Zentrum Preußens immer schon gesetzt war. Abräumen als Aufräumen meint für die Deutschen wohl damals wie heute, den Blick in die drohende Zukunft unserer Gegenwart zu verstellen; wo keine Ruinen stehen, braucht man an die Zukunft nicht zu denken.

Für das Training von historischer Imagination sollte man ›Ruinieren‹ als erkenntnistheoretisches Verfahren (1) verstehen, mit dem man die für jede Erkenntnis notwendige Differenz von Erscheinung und Wesen, von Gegenwart und Vergangenheit, von Wunsch und Wirkung, von Plan und Realisierung herauszustellen vermag. Das Kernstück dieses Vorgehens ist die Anwendung des ›trojanischen Blicks‹ auf uns selbst. Wir sollten also lernen, uns selbst schon als Gewesene zu betrachten und das Gegenwärtige als ein Vergangenes. Dem entspricht die Einsicht, daß wir nicht wirklich die steinernen Zeugnisse der Geschichte ausgraben, sondern daß wir uns selbst aus den Trümmern als lebende Trojaner herauswühlen. Das historische Material ist immer nur – und Gott sei Dank – Ruine, Fragment und Spur. Das schränkt seinen Nutzwert nicht ein; denn der Mensch lebt nun einmal nicht in Ziegelsteinen oder Marmorpalästen, sondern in Vorstellungen und Gedanken.

Was einmal war, hat gerade darin seine geschichtliche Bedeutung, daß es nie wiederkehren kann. Das verschafft auch dem unbedeutendsten historischen Ereignis einen Anspruch darauf, wahrgenommen zu werden. Was in der Gegenwart von der Geschichte verwirklicht werden kann und uns Zukunft garantiert ist gerade die historische Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit alles Gewesenen. Das in der Gegenwart präsent gehaltene Vergangene erzeugt uns gegenüber eine schaudernmachende Wirkung, weil es uns auf die Kluft verweist, die unsere Vergangenheit und unsere Zukunft unüberbrückbar trennt. Was wir wollen, ist eines, was daraus wird, ein anderes. Niemand – das sagen uns die Zeugnisse der Vergangenheit – kann durch irgendwelche noch so heroische Anstrengungen dafür garantieren, daß sich die Zukunft als Verwirklichung seiner Pläne bestimmen läßt. Sie hat einen eigenen Plan, den erst zu erkennen vermag, wer das Ende der Geschichte in der völligen Stillegung des zeitlichen Vergehens erlebt hat. Das wird der Fall sein, wenn alles bisher Vergangene simultan die lebendige Gegenwart ausmacht und daher nichts Neues mehr geschehen kann! Da dieser Zustand menschlichem Bewußtsein niemals zugänglich sein wird, bleibt es den Menschen verwehrt, von einem Plan der Geschichte Kenntnis zu nehmen.

Preußen wurde 1932 faktisch und 1947 rechtskräftig aufgelöst. Gerade wenn wir diese Sachverhalte als historisch unwiderrufbare präsent halten, öffnen und erweitern wir den eng begrenzten Raum unserer Lebensvollzüge; die Zeit als geschichtliche Dimension baut Stockwerke auf dem fixierten geographischen Grundriß.

3 Erdverwertung

Für geschichtliche Prozesse gilt, daß ›Ruinieren‹ nicht nur als Zerstören, sondern gerade als Aufbauen in Erscheinung tritt. Der sogenannte Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ist dafür beredtes und inzwischen auch verständliches Zeugnis.

Immer noch und immer wieder werden in unserem neuen Troja Versuche gestartet, diesen deutschen Garten als ein Monument unseres Geschichtsverständnisses ›aufzubauen‹. Aber mit der Geschichte kann man nicht konkurrieren. Auch die genialsten Künstler und Baumeister sind nicht in der Lage, eine derart sprechende Metapher für den geschichtlichen Wandel zu erfinden, wie sie seit der Nachkriegszeit, in unserer Landschaft der historischen Imagination, bereits als ›Erdverwertung‹ besteht. Dort wurden und werden die Trümmer des Gewesenen angehäuft, sortiert und umgewidmet. Eine der grandiosesten Umwidmungen dieser Erdverwertung hat dazu geführt, daß heute jeder Berlin-Besucher, der per Flugzeug anreist, auf den Trümmern des Reichssicherheitshauptamtes und der geheimen Staatspolizei, also auf den Ruinen, Fragmenten des Prinz-Albrecht-Palais und der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums landet. Man wollte aus verständlichen Gründen die Erinnerung an die nationalsozialistische Umwidmung eines preußischen Erbes möglichst radikal beseitigen. Als Unterfutter des Tegeler Flugplatzes haben die Trümmer nun für die historische Imagination eine größere Bedeutung als an ihrem ursprünglichen Ort.

Wohlgemerkt: Für die historische Imagination und für das Training des trojanischen Blicks erschließen sich dann eben nicht nur in unserem Gelände die Grundrisse der Kerkerzellen von Gestapo-Opfern. Die untersten Zellen lagen in ehemals von Bildhauern und anderen Künstlern genutzten Ateliers der Kunstgewerbeschule. Auch Hitler verstand sich in erster Linie als Künstler, der an lebendem Menschenmaterial seinen politischen Formungswillen zu verwirklichen versuchte. Wie in Gestapoverhören Menschen physisch und psychisch umgestaltet wurden, das muß die historische Imagination ins Verhältnis zum künstlerischen Gestalten des Menschenbildes setzen, wie es auch in der Kunstgewerbeschule gelehrt und gelernt wurde. In demselben Gebäudekomplex war die in ihrer Zeit leistungsfähigste Kartei installiert, mit deren Hilfe man die dort untergebrachte größte Kostümsammlung der Welt kulturgeschichtlich, sozialgeschichtlich bearbeitet hatte. Nach den Arbeitsprinzipien dieser Kartei legte die in das Gebäude einziehende geheime Staatspolizei ihr eigenes Informationssystem an, dem sie nicht zuletzt ihre durchschlagenden Erfolge verdankte.

Wie anders als in historischer Imagination läßt sich ein zynischer Treppenwitz der Geschichte erkennen und aushalten, der darin zu sehen ist, daß ausgerechnet in diesem deutschen Garten über Jahrzehnte ein nicht unerheblicher Teil des Geländes für das Fahren ohne Führerschein genutzt wurde. Aber es besteht kein Zweifel, daß der Führer und seine Unterführer zumindest seit 1938 über vom deutschen Volke ausgestellte Führerscheine verfügten. Der Weg in die Katastrophe resultierte nicht aus der Unfähigkeit der Lenker des historischen Prozesses. Sie hatten ihre Fahrziele und die von ihnen diktierten Verkehrsregeln in verbindlicher Form allen Deutschen zur Kenntnis gegeben. Und die Straßen, auf denen es ans bittere Ende ging, waren durch die deutsche Geschichte vorgezeichnet – so wie die ursprüngliche Lennésche Gartenanlage und die Reste der provisorischen Russengräber noch heute die Fahrwege für das Fahren ohne Führerschein vorzeichnen.

4 Karikatur der Historie

Derartige historische Imaginationen mögen manchmal überzeugend wirken, fast ein wenig zu pointiert; in der Tat, die Wirkung der Imagination besteht gerade darin, die bloßen historischen Fakten auf den Punkt zu bringen, von dem aus sich der Umgang mit diesen Fakten als erhellend erweist. In aller Deutlichkeit demonstriert die wirklich leistungsfähige Karikatur dieses Verfahren.

Um die Jahrhundertwende veröffentlichte Kurt Arnold im Simplicissimus eine achtteilige Bilderfolge »Der Archäologe mit der Wünschelrute«. Sie zeigt, wie ein Gelehrter frei nach Fontane die Wüste des märkischen Sandes durchwühlt, um auch aus ihr wie aus dem ägyptischen Wüstensand Nofreteten zu bergen und mit ihnen die Berliner Museen zu füllen! Erst die historische Imagination vermag irgendeinem überkommenen Objekt jene Bedeutung zuzuordnen, die dieses Objekt zum sinnträchtigen Kulturgut erhebt; und sinnträchtig ist, wie gesagt, der archäologische Blick gerade darin, die Gegenwart bereits wie eine Vergangenheit sehen zu können.

Th. Heine schildert ebenfalls im Simplicissimus von 1900 das Gelände unseres deutschen Gartens als einen »märkischen Sumpf«. Vom alten Schöneberger Hafen aus läßt Heine unseren Blick in Richtung auf den Anhalter Bahnhof gegen das Zentrum Berlins schweifen. Das Gelände ist unter Wasser gesetzt, aus dem nur noch die Kuppeln von Anhalter Bahnhof, Dom und Schloß sowie der Turm des roten Rathauses hervorragen. Im Bildvordergrund tummeln sich Frösche, die sich die Bilduntertitelung zuzusprechen scheinen: »Wunderbar, was eine weise Regierung vermag! Vor 200 Jahren befand sich an dieser Stelle die märkische Sandwüste!« Unsere historische Imagination erschließt diese Karikatur über das denkwürdige Faktum, daß in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges die SS die Tunnelwände der U-Bahnschächte in Höhe des Hafenbeckens sprengte, um durch diese Flutung die Russen am weiteren Vormarsch Richtung Prinz-Albrecht-Gelände / Reichssicherheitshauptamt zu hindern.

Heines Imagination ist weit mehr als eine bloße spekulative Vision. Sie kritisiert jegliches kulturschöpferisches Fortschrittspathos (schon gar das regierungsamtliche) als eine Verschleierung der traurigen Tatsache, daß der Fortschritt zumeist in der Verwandlung von Wüsten in Sümpfe besteht.

Auf dieser Ebene sollten wir mit dem historischen Faktum umzugehen lernen, daß in unserem deutschen Garten, zum Beispiel auf der Stresemannstraße, nur während 95 Jahren, nämlich zwischen 1866 und l96l keine Mauer verlief, wie wir sie heute als ein angeblich einmaliges Skandalon vor Augen geführt bekommen. Auch die alte Mauer entlang der Stresemannstraße erfüllte Zwecke wie die heutige Mauer: Diese Akzise-Mauer sollte Menschen daran hindern, vor dem Zugriff militärischer und wirtschaftspolitischer Mächte zu fliehen. Auch damals war die Mauer ein Schandfleck, wie aus alten Polizeiprotokollen hervorgeht.

Der innerstädtische Weg entlang der Mauer, heute Todesstreifen genannt, hieß damals »Potsdamer Kommunikation« – welch sinnvolle Erhellung des stolzen Preußenerbes. Mauern vermitteln nun einmal zwischen Diesseits und Jenseits, und die historische Imagination ermöglicht uns die Kommunikation mit den Toten. Die Verunstaltungen der Mauer, über die jene Polizeiberichte lamentieren, dürften den heutigen entsprechen, auch wenn heute die diesseitigen Wände der Mauer als große Kommunikation für Sprayer und Spötter dienen.

Als 1866 die Mauer fiel, hatte Preußen gerade bei Königgrätz die Österreicher vernichtend geschlagen, also erhielt die neue mauerfreie Straße den Namen jenes vermeintlichen Triumphes. Als Preußendeutschland zum Ersten Weltkrieg mit Österreich einen bedingungslosen Bund der Nibelungentreue einging, wurde aus der ›Königgraetzer‹ die ›Budapester Straße‹; die historische Imagination stellt uns jene Metropole des k. u. k.-Reiches als durch eine Wassermauer getrennte Einheit von Buda und Pest so vor Augen, wie das eine Berlin hier an der Budapester Straße heute in Ost und West geteilt wird.

Als die großdeutschen Waffenbrüder am Ende des Ersten Weltkrieges gemeinsam untergingen, wurde aus der ›Budapester‹- die ›Stresemannstraße‹. Nachdem das Saarland »heim ins Reich« votierte, sollte der den Nazis verhaßte Stresemann dem Vergessen überlassen werden: Die ihm gewidmete Straße wurde zum Teil in ›Saarland‹– und zum Teil in ›Hermann-Göring-Straße‹ umbenannt.

Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring sorgte an hervorragender Stelle dafür, daß das Saarland schon bald nicht mehr zum Reich gehörte. Das Dritte Reich wurde zum Betriebsunfall der deutschen Geschichte erklärt, und man entschloß sich, noch einmal einen neuen Ausgangspunkt in der Weimarer Republik zu wählen: Stresemann wurde wieder Namenspatron für den diesseitigen Teil der Grenze.

Wer die historische Imagination in diesem großartigsten aller deutschen Gärten erst einmal auf die Fährte der hier etwa 250jährigen Stadtgeschichte setzt, wird auf Schritt und Tritt fündig. Ich benötigte 1981 tagtäglich vier Stunden, um den Mitläufern auch nur einige Dutzend Konstellationen dieses einmaligen Weltmodells zu eröffnen. (2) Historische Karrieren von Gebäuden, Straßen, Arealen, wie ich sie eben skizzierte, lassen sich für jeden Punkt des Geländes erzählen; die Beständigkeit des Wechsels ist zugleich beruhigend und erregend. Nicht der Schlaf der Vernunft gebiert hier jene Ungeheuerlichkeiten, von denen wir die Historiker gern erzählen hören; die historische Imagination konfrontiert uns mit der Ungeheuerlichkeit der Vernunft, wo sie sich selbst als eine letzte Größe und Macht ins Werk zu setzen versucht.

Freilich überlistete sich diese ungeheuerliche Vernunft häufig selbst, und dann dürfen wir auch in diesem Gelände schallend, also befreiend lachen: zum Beispiel dann, wenn uns schlagartig klar wird, daß Axel Cäsar Springer sein Missionshaus des Westens so errichtete, daß er (wenigstens idealiter) in der Apsis der alten Jerusalemkirche residierte: er, der von hier aus seine Wallfahrten nach Jerusalem antrat; aus dem Grundriß der zerbombten Jerusalemkirche erwuchs ihm eine Vision des neuen Deutschland, wie dem mittelalterlichen Menschen in seiner Kirche die Vision des Paradieses erwuchs. Das ›Vierte Reich‹ würde nach A. C. Springers Auffassung ein Himmelreich sein müssen.

Die sich selbst überlistende Vernunft überließ den Abtransport der bürgerlichen Scheiße, durch das unterirdische Kanalisationssystem, dem antiken Halbgott Herkules; die nach ihm benannten Kloakenpumpen beweisen, wozu man klassische Bildung braucht: Der Hauptmann von Köpenick wurde Gymnasialprofessor.

Ja, inzwischen dürfen wir auch schallend lachen angesichts jener ernsthaften Nachkriegsbemühungen des Senats, in dem Trümmerfeld dieses deutschen Gartens gleich wieder einen (allerdings atombombensicheren) Bunker zu bauen; denn schließlich war man ja bereit, aus der Geschichte zu lernen, also anzuerkennen, daß in unserem deutschen Garten nur die Bunker den Krieg unbeschadet überstanden hatten. Der Atombunker steht voll funktionstüchtig ausgerüstet schräg gegenüber der Portalruine des Anhalter Bahnhofs, aus dem nur noch die geisterhaften Gestalten der historischen Imagination herausströmen, um sich für endgültige Zeiten unter Beton begraben zu lassen.

(1) Vgl. hierzu ›Ruine als Form der Vermittlung‹, in diesem Band S. 176-184

(2) Stationen des Kulturlehrpfades waren u. a.: ›Aha – die Mauer‹, ›Garten des Bösen‹ (Gelände der ehem. Kunstgewerbeschule), ›Paläste der Heimatlosen‹ (Hotel Stuttgarter Hof in der Anhalter Straße), ›Herkules schaufelt Scheiße‹ (Pumpwerk am Landwehrkanal / Ecke Schöneberger Straße). Vgl. hierzu Katalog IDZ, Berlin 1981  

Route der Berliner Kulturlehrpfades zur historischen Imagination
Route der Berliner Kulturlehrpfades zur historischen Imagination
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..
„Das Troja unseres Lebens – ein deutscher Garten“ (Archäomobil), Bild: Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", Prinz-Albrecht-Palais-Gelände und Umgebung, täglich 13 bis 19 Uhr mit dem Archäomobil unterwegs. Berlin, August/September/Oktober 1981..

siehe auch: