Phersu, der Gott, der jedem denselben Namen gab: Person
»Ganz offensichtlich lebt das etruskische Wort phersu in dem lateinischen. Wort persona fort. Und persona heißt Maske. Es bedeutet aber auch das, was wir unter dem Begriff Person verstehen. Es gibt eine Erklärung dafür: Weil die Maske von einem Schauspieler getragen wird und nach der jeweiligen Rolle verschieden ist, bedeutet persona auch soviel wie Rolle. Die Rolle wiederum bestimmt den jeweiligen Charakter des Schauspielers. Somit heißt persona auch Charakter. Von Charakter kann man jedoch nicht nur beim Schauspieler sprechen. Jeder Mensch hat einen bestimmten Charakter, und so erhielt der Begriff persona über den Bereich des Schauspielerischen hinaus Bedeutung als Begriff für einen bestimmten Charakter, eine bestimmte Individualität, ein einmaliges, ganz bestimmtes menschliches Wesen. Unser Wort Person geht also letzten Endes zurück auf das etruskische phersu.
Ein kräftig gebauter, bärtiger Maskierter mit einem spitzen Flügelhut hat eine Leine nach einem Mann ausgeworfen, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet ist. Dieser hat sich bereits in der Leine verfangen, und Wunden bedecken seinen Körper. Sie stammen von einem Hund, dessen Halsband durch eine Art Klöppel, der einem Knochen gleicht, mit der Leine verbunden ist, so daß jedesmal, wenn der Maskierte an der Leine reißt, der Klöppel den Hund schlägt, der dann aus Wut und Schmerz den halbnackten Mann beißt. Dieser könnte sich zwar wehren, denn er hält in der Hand eine Keule. Doch auch sie ist bereits in die Leine des Maskierten verwickelt; zudem ist der Kopf des wehrlosen Opfers mit einem Sack verhüllt worden, so daß es gar nichts sehen kann.
Wir wissen auch, wie der Maskierte aus der Tomba degli Auguri heißt. Links neben seinem Kopf steht sein Name, zwar schon etwas verblaßt, aber dennoch leserlich. Er heißt: Phersu.«
Herbert Alexander Stützer: Die Etrusker und ihre Welt, Köln 1975, S. 87ff.
Was Personsein heißt, enthüllt gleich auf fürchterlich deutliche Weise diese frühe Darstellung des Sachverhalts (in unserer kulturellen Tradition): Phersu trägt eine Maske, die seine Rolle kennzeichnet. Welches ist seine Rolle? Er zwingt einen anderen zur Reaktion. Dem anderen ist ein Sack über den Kopf gebunden worden; er kann Phersu und seine Umwelt nicht sehen. Phersu und die Umwelt (sichtbar der Hund) wirken auf ihn ein: Sie fügen ihm grausame Schmerzen zu. Der andere schlägt um sich, reagiert auf die Peinigungen mit seinen Mitteln, um neuen Schmerzen zu entgehen. Je mehr er aber reagiert, um so weniger kann er tun; die Keule verfängt sich mehr und mehr im Strick, mit dem er an Phersu und Hund gebunden ist. Durch seine Reaktionen fesselt er sich schließlich ganz und wird so zum wehrlosen Opfer.
Was heißt das nicht erst für uns, sondern was hieß das möglicherweise schon für die Etrusker des 6. Jahrhunderts v. Chr.?
Das blinde Ich im Kampf mit der Natur seines Trägers – aufgehetzt von den Handlungsrollen, die jede Person zu spielen gezwungen ist.
Mit dem Namen Phersu ist demnach nicht nur der Maskenträger bezeichnet. Phersu ist nicht einfach nur einer; was er tut, gehört zu ihm, macht ganz wesentlich seine Person aus.
Die Person, so können wir sagen, sind immer drei: mein ich, mein natürlicher Leib und der andere, die anderen, vor denen ich eine Rolle spiele. Person ist die Einheit dieser drei. Auch die anderen gehören zu mir, wie mein Ich und mein Leib. Ja, ich bringe das, was die anderen für mich sind oder sein könnten, erst selber hervor, nämlich in meinen Vorstellungen. In der Vorstellung verallgemeinere ich alle die anderen zu dem schlechthin anderen, mit dem ich immer rechne.
Ich stelle mir bei jeder Planung und Ausführung meiner Handlungen nämlich immer vor, was ›die anderen‹ von mir erwarten, was sie wollen und wie sie reagieren könnten; das plane ich bereits in meine Handlungen ein. Insofern werde ich durch meine Handlungen in Rollen gezwungen, als würden sie mir von außen, von den anderen, aufgezwungen.
Aber Phersu ist ein Teil meiner selbst. Und deswegen gibt es vor ihm kein Entrinnen.
Das gilt für jede Person. Wie aber die einzelnen Personen mit dieser Gegebenheit fertig werden, mit ihr zu leben vermögen, das macht die Personen zu unterschiedlichen Persönlichkeiten. Jeder versucht in sich, den Kampf von Phersu und Hund gegen das Ich, den Kampf zwischen Rollenzwängen und Triebansprüchen möglichst unentschieden zu halten.
Wem es darüberhinaus gelingt, daß sein Ich den Phersu und den Hund völlig unter Kontrolle bringt, hat als ichstarke Persönlichkeit die besten Voraussetzungen, sein Leben voll auszuschöpfen.
Wer hingegen sich von den Rollenzwängen (seinem Phersu, seinem Über-Ich) oder von seinen Trieben terrorisieren läßt, wird nicht einmal sich exponieren können, geschweige denn zielgerichtet zu handeln beginnen. Er wagt kaum, sein Leben zu leben. (Brock inszenierte 1978 die Ausstellung ›Persönlichkeit werden… zum höchsten Glück auf Erden. Wagt es!‹ im Haus Deutscher Ring, Hamburg, mit Environments, Fotodokumentationen und Action-teaching. Zur Ausstellung erschien eine Katalogbroschüre gleichen Titels, Hamburg 1978, aus der die folgenden Texte – teilweise überarbeitet – entnommen sind. Vgl. zur Thematik weiter: ›Ästhetik als Vermittlung‹, besonders Bd. IV, Teil 4: ›Biographie als Lernenvironment‹)
Was ist eine Persönlichkeit?
Wie wird der Begriff »Persönlichkeit« alltäglich verwendet?
Die Fußballweltmeisterschaft 1978 war eine Katastrophe, und zudem noch eine langweilige, was sich nur über wenige Katastrophen sagen läßt. Indes: Haben nicht alle diese Katastrophe vorhergesehen? Und warum ließ sie sich nicht vermeiden, wenn sie vorhersehbar war?
Vorher sahen alle, die sich für den Fußball interessieren und entsprechend äußerten, daß man Fußball nicht allein mit guten und sehr guten Fußballern spielen könne. Zum interessanten und erfolgreichen Fußballspielen bedarf es vielmehr der Spielerpersönlichkeiten.
Lange vor der Weltmeisterschaft stellten die Kommentatoren fest, daß die deutsche Mannschaft und viele ihrer Konkurrenten nicht mehr über Spielerpersönlichkeiten verfügten. Entsprechend eindringlich war der Ruf nach den Spielerpersönlichkeiten, wobei bemerkenswert ist, daß die hochmögenden Herren Journalisten der ›Frankfurter Allgemeinen‹ wie die der ›Bild-Zeitung‹, die des Höferschen Frühschoppens wie die der Sportschau und deren österreichische und Schweizer Kollegen im gleichen Wortlaut und im gleichen Sinn von der Spielerpersönlichkeit sprachen. Sie alle haben offensichtlich angenommen, daß ihre noch so unterschiedlichen Leser und Zuschauer wußten, was eine Spielerpersönlichkeit ist.
Ja, was ist denn nun eine Spielerpersönlichkeit im allgemein vorausgesetzten Verständnis bei Journalisten und ihrem Publikum, bei den Spielern und den Stammtischstrategen? Warum werden Beckenbauer, Breitner, Netzer allgemein als Spielerpersönlichkeiten bezeichnet, Kaltz und Rüßmann, ja Berti Vogts und Bonhof hingegen nur als erstklassige Fußballspieler? Es kann nicht gemeint gewesen sein, daß eine Spielerpersönlichkeit sich von dem erstklassigen Fußballspieler nur durch ein noch größeres fußballerisches Können unterscheidet. Vielmehr müssen, so hört man, die Spielerpersönlichkeiten in der Lage sein, dem Spiel Impulse und Richtungen zu geben, den Überblick übers Ganze zu haben, die Mitspieler zum Durchhalten zu motivieren, selbst wenn die Lage aussichtslos zu sein scheint. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man sagt, daß der Ruf nach einer Spielerpersönlichkeit mit solchen Fähigkeiten dem Ruf nach einer Führungspersönlichkeit gleichkommt. Impuls und Richtung geben, Überblick übers Ganze haben, zum Durchhalten motivieren, das sind ganz offensichtlich Führungsqualitäten, und wohl nicht nur eines Fußballspielers, sondern einer jeden Führungspersönlichkeit.
Andererseits können ja ein oder zwei Führungspersönlichkeiten ein Spiel nicht allein gewinnen, sie müssen vielmehr Mitspieler haben, die auf Impulse reagieren, angezeigte Richtungen verfolgen, dem sich aus dem Überblick übers Ganze ergebenden taktischen Plan zu folgen vermögen. Sind diese Fähigkeiten nicht auch Ausdruck einer Persönlichkeit? Wäre es demzufolge nicht sinnvoller, davon auszugehen, daß jeder Spieler und im erweiterten Sinn also jeder Mensch eine Persönlichkeit ist? Unsere Alltagssprache und alltäglichen Argumentationen scheinen von einer solchen Annahme auszugehen, wobei wir allerdings im Alltag davon sprechen, daß es starke und schwache Persönlichkeiten, unheimliche, originelle und blasse Persönlichkeiten gibt.
Was kann damit gemeint sein? Doch wohl nicht, daß jede originelle, unheimliche und starke Persönlichkeit eine Führungspersönlichkeit sei, und schon gar nicht dürfte im Alltag gemeint sein, daß jede originelle Persönlichkeit auch eine Führungsrolle innehat. Und umgekehrt wird Berti Vogts offensichtlich nicht schon dann zu einer Führungspersönlichkeit, wenn er mit der Armbinde ›Spielführer‹ herumläuft.
Das Kennzeichen Originalität scheint vielmehr so etwas wie Selbständigkeit im Urteil, Eigeninitiative, Andersartigkeit zu meinen. Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit sind dann gegeben, wenn jemand nicht immer nur ausgetretene Pfade geht, sondern es wagt, etwas anders zu machen, als es üblich und naheliegend ist. Wer etwas anders macht als die anderen, weicht von eingespielten Verfahrensweisen, Gedanken und Vorstellungen ab. So kann man wohl sagen, daß für das Alltagsverständnis eine starke oder unheimliche oder originelle Persönlichkeit ist, wer die Kraft zur Abweichung von Normen und Erwartungen hat.
Wir haben bisher, vom Alltagsverständnis ausgehend, zwei Persönlichkeitstypen voneinander unterschieden, die Führungspersönlichkeit und die originelle Persönlichkeit. Letztere wird im Alltagsmund, wenn sie extrem ausgebildet ist, auch als »Original« bezeichnet beziehungsweise belächelt, bespöttelt, beargwöhnt. Künstler und Wissenschaftler werden allgemein als die Prototypen solcher Abweichungspersönlichkeiten angesehen beziehungsweise ebenfalls belächelt, bespöttelt und beargwöhnt. Wenigstens solange, als sie nicht wiederum zu Vorbildern werden, also als neue Normsetzer anerkannt sind.
Den Prototyp der Führungspersönlichkeit sieht man wohl allgemein in besagten Spielerpersönlichkeiten oder Lehrern, in Unternehmern und Offizieren, in Managern und Regisseuren aller Art. Auch sie werden wie die originelle Persönlichkeit beargwöhnt, aber nicht belächelt, sondern gefürchtet, nicht bespöttelt, sondern umwedelt.
Aber unser Alltagsverständnis scheint noch einen dritten Persönlichkeitstyp vorauszusetzen, wenn man von einer integren Persönlichkeit spricht, von einer selbstlosen oder von einer in sich ruhenden Persönlichkeit. Deren Prototyp möchten die meisten Menschen in einem Arzt oder Guru, einem Pfarrer oder Richter, einem Heiligen oder weisen Alten sehen.
Im allgemeinen scheint das Alltagsverständnis zu wissen, was es mit der Unterscheidung solcher Persönlichkeitstypen auf sich hat. Die meisten Menschen wissen, daß jeder Persönlichkeit Aspekte der Führungs- wie der Abweichungspersönlichkeit und auch solche der in sich geschlossenen Persönlichkeit zukommen. Man will eben nur sagen, daß in den einzelnen Persönlichkeiten die drei Typenmerkmale unterschiedlich stark ausgeprägt sind und daß je nach Anlaß, je nach Opportunität und Fähigkeiten jemand, wenn er denn schon Persönlichkeitsanspruch erhebt, entweder seine Führungsqualitäten oder seine Originalität oder Integrität einsetzt.
Es ist gar nicht selbstverständlich, daß alle Menschen einen Persönlichkeitsanspruch erheben, selbst wenn man sie – und sie sich – als Persönlichkeiten versteht. Sehr viele Menschen verzichten darauf, einen Persönlichkeitsanspruch zu erheben. Sie sagen, daß sie sich gar nicht erst hervortun oder exponieren wollen. Denn sich zu exponieren ist immer ein Risiko. Wenn man von Anpassern, Trittbrettfahrern, Konformisten, von grauen Mäusen und Strategen der Unauffälligkeit hört, dann bedeutet das, daß solche Menschen ganz bewußt auf jede Exponierung verzichten.
Freilich damit auch auf die Möglichkeit, überhaupt erst einen Persönlichkeitsanspruch zu stellen, auszudrücken und durchzusetzen. Solche Menschen wissen nämlich, daß eine Gesellschaft diesen Verzicht honoriert. Es gibt vorgezeichnete Berufs- und Lebensbahnen, die auf dem Verzicht von Exponierung und Persönlichkeitsausdruck beruhen.
Exponiert Euch
Häufig wird so getan, als ob die Fähigkeit, sich zu exponieren, schon der entscheidende Persönlichkeitsausdruck sei. Ja, daß Persönlichkeiten sich eben mühelos zu exponieren verstünden. Das ist ein Irrtum, denn auch die routinierteste Schauspielerpersönlichkeit wie etwa Heinrich George kennt noch Exponierungsangst, die wir normalerweise als Lampenfieber bezeichnen, auch die erfolgreichste Schriftstellerpersönlichkeit wie zum Beispiel Georges Simenon hat immer erneut Exponierungsangst, die sich regelmäßig und regelrecht in Krampfzuständen und Erbrechen äußert.
Ohne sich zu exponieren, hat man keine Chance, seinen Persönlichkeitsanspruch auszudrücken, gar durchzusetzen. Aber die Exponierung ist nicht gleichbedeutend mit dem Persönlichkeitsausdruck, auch wenn Redner- und Tanzschulen oder Benimminstitute das verlockende Angebot machen, man könne bei ihnen lernen, eine Persönlichkeit zu werden. Was diese Institute tatsächlich lehren können, ist, wie man sich exponiert. Aber das lernt man vor allem außerhalb solcher Institute, von frühesten Kindesbeinen an.
Freilich lernt man eben auch, daß sich nicht exponieren der bequemere, ja erfolgreichere Weg sein kann. Wer sich exponiert, weiß instinktiv und sollte vielleicht ausdrücklich wissen, was er da tut. So exponiert man sich instinktiv durch die Art seiner Bekleidung oder seines Verhaltens, obwohl nur die wenigsten Menschen bisher sich klargemacht haben, wie im einzelnen Mode und Körpersprache als bloße Techniken des Sichexponierens auf den Ausdruck und die Durchsetzung eines Persönlichkeitsanspruches wirken. Immerhin scheinen alle zu spüren, daß es unmöglich ist, von der Exponierung durch Kleidung und Verhalten direkt auf die Persönlichkeit zu schließen. Niemand nimmt ernsthaft an, daß wir mit dem Wechsel der Kleidung und des Verhaltens auch unsere Persönlichkeit unmittelbar verändern. Zwar weiß man, daß sich jede Persönlichkeit im Laufe des Lebens entwickelt und verändert, aber diese Veränderungen sind nicht die gleichen wie die Veränderungen der Moden und Verhaltensweisen, mit deren Hilfe wir uns exponieren. Um die Beziehungen zwischen Persönlichkeit und bloßem Sichexponieren mit Hilfe von Moden und Verhaltensweisen näher zu bestimmen, müssen wir uns fragen, wie sich denn eine Persönlichkeit ausdrückt, jenseits und über das bloße Exponieren hinaus. Auch dafür können wir auf unsere Alltagserfahrungen zurückgreifen. So spricht man davon, daß Persönlichkeiten eine Ausstrahlung haben. Die Führungspersönlichkeit strahle zum Beispiel Wirkungskraft aus; man sagt, eine Führungspersönlichkeit habe »Charisma«. Auf die Ausstrahlungen oder originellen Persönlichkeit soll der Begriff »Aura« verweisen. Bei der geschlossenen Persönlichkeit glaubt man, ihr »Fluidum« oder ihre »vibrations« zu spüren, sie strahlt Lebenskraft aus. Diese Ausstrahlung wird auch gespürt, ohne daß die Persönlichkeit sich durch Handeln direkt zu manifestieren versuchte. Dabei bleibt es umstritten, ob man Charisma oder Aura oder Fluidum durch bewußte Entfaltung seiner Persönlichkeit in die eine oder andere Richtung überhaupt erwerben kann oder ob nicht diese Ausstrahlung auf unerklärliche oder bisher ungeklärte Weise einigen Menschen durch ihr bloßes Lebendigsein schon zukommt.
Wir hatten uns von den Kommentatoren und Beschwörern der Spielerpersönlichkeit sagen lassen, daß Führungsqualitäten darin bestünden, Überblick übers Ganze zu haben, Richtung und Impuls zu geben und Durchhaltevermögen zu demonstrieren.
Verallgemeinernd könnte man sagen, daß die Führungspersönlichkeit sich über das bloße Exponieren hinaus und im Geruch des Charismas dadurch ausdrückt, daß sie ein Weltbild zu repräsentieren weiß, das die Geführten als das ihre akzeptieren könnten. Auch wenn es nicht um das große Ganze geht, sondern um ein kleines Ganzes wie ein Fußballspiel oder eine Inszenierung oder einen Produktionsabschnitt, dann muß die Führungspersönlichkeit in der Lage sein, innerhalb solcher ausgegrenzter Handlungssysteme einen Zusammenhang auszuweisen, durch den den Geführten ihre Tätigkeit als sinnvoll verstehbar werden kann.
Das Vermögen zum Impuls- und Richtunggeben dürfte bei der Führungspersönlichkeit darin sich ausdrücken, da sie im Hinblick auf fest vorgegebene Ziele Entscheidungen zu treffen weiß und die Geführten zu motivieren versteht. Eine Führungspersönlichkeit, die auch eine Führungsrolle innehat, kann durch entsprechende Maßnahmen zumindest versuchen, ihren Persönlichkeitsanspruch nicht nur auszudrücken, sondern auch durchzusetzen, etwa indem sie Belohnungen und Bestrafungen verhängt. Solche Durchsetzungsmittel hat zum Beispiel ein Künstler als Prototyp der originellen Persönlichkeit nicht. Wenn sich niemand für die Arbeiten des Künstlers interessiert, so kann er nicht mit Verlockung und Drohung durchsetzen, daß wir ihn akzeptieren. Er kann aber seine Werke, mit denen und in denen er sich exponiert, zum Beispiel so hermetisch abschotten, daß wir es als uns anstachelndes Versagen empfinden, die Werke nicht verstehen zu können. Solcher Hermetismus der Werke wird seit Jahrhunderten von Künstlern als Maßnahme der Durchsetzung ihres Persönlichkeitsanspruchs praktiziert.
Im Unterschied zur Führungspersönlichkeit ist eine originelle Persönlichkeit auch nicht gehalten, ein Weltbild zu repräsentieren und einen Systemzusammenhang auszuweisen, sondern man verlangt eher von ihr, einen Zusammenhang auf neue Weise herzustellen und ein Weltbild zu entwerfen. Entscheidungen, die die originelle Persönlichkeit trifft, richten sich nicht auf ein von außen vorgegebenes Ziel aus, sondern sind Selbstfestlegungen des Künstlers, wie er sie zum Beispiel in jedem Augenblick seines Werkschaffens mit jedem weiteren Pinselstrich oder Satz oder Takt tatsächlich vornimmt. Impulse gibt die originelle Persönlichkeit dadurch, daß sie andere dazu animiert, sie nachzuahmen.
Die geschlossene, integre oder in sich ruhende Persönlichkeit schließlich wirkt ohne Ausrichtung auf vorgegebene Ziele oder definitive Selbstfestlegungen; sie wirkt wie ein Katalysator oder Medium (Mediator) im Entscheidungsprozeß, wobei alle Beteiligten spüren, daß die geschlossene Persönlichkeit nicht ihre eigenen oder vorgegebene Entscheidungen durchsetzen, sondern den Beteiligten helfen will, ihre eigenen Entscheidungen zu finden. Sokrates, eine der frühesten uns dokumentierten geschlossenen Persönlichkeiten, gab zu verstehen, daß er wie eine Hebamme wirken wolle, die nichts anderes tue, als dafür zu sorgen, daß ein natürlicher Prozeß möglichst störungs- und risikolos ablaufen könne. Auch entwirft eine derartig wirkende Persönlichkeit nicht Weltbilder selbst oder repräsentiert die Weltbilder anderer, sie scheint ohne die ausdrückliche Deklaration eines solchen Zusammenhangs des Ganzen auszukommen.
Wahrscheinlich, weil sie selbst durch ihre bloße Existenz als ein solcher Zusammenhang des Ganzen verstanden werden kann.
Warum wird gegenwärtig so eindeutig nach der Führungspersönlichkeit gerufen? So eindeutig, wie zum Beispiel die Fußballinteressierten nach der Spielerpersönlichkeit und die politisch Interessierten nach der politischen Persönlichkeit rufen? Etwa deswegen, weil der Führer als das Persönlichkeitsideal gilt? Hört man sich hinreichend unter seinen Mitmenschen um, vor allem unter den jungen, dann bekommt man schnell heraus, daß nicht der Führer, nicht das Original, sondern die in sich ruhende Persönlichkeit, Sokrates und der weise Alte, oder moderner gesagt, der Therapeut und der Guru, das Persönlichkeitsideal ist. Man möchte sich am liebsten, wenn's denn möglich wäre, zu einer geschlossenen Persönlichkeit entwickeln.
Wenn der Führer demzufolge gar nicht als das Persönlichkeitsideal in Frage kommt, warum wünscht man ihn dann herbei? Offensichtlich hat sich der Zustand unseres gesellschaftlichen Lebens wieder in einer Richtung entwickelt, in der Persönlichkeitsanspruch zu erheben, auszudrücken und durchzusetzen unerwünscht und entsprechend risikoreich ist. Wer's trotzdem versucht, bezieht Prügel oder muß sich zumindest einer mehr oder minder deutlichen Kontrolle nicht nur seiner Handlungen, sondern auch seiner Vorstellungen und Gedanken aussetzen.
Man sagt, das Klima des gesellschaftlichen Lebens habe sich verändert, wir näherten uns auffällig einer Funktionärsmentalität, die sich vor allem darin ausdrückt, daß kaum noch jemand bereit ist, persönliche Verantwortung für Entscheidungen auf sich zu nehmen. Wer nach den Urhebern von Entscheidungen sucht, wird erfolglos im Kreise herumgeführt, man sagt ihm, daß man nicht personifizieren dürfe, sondern ›das System‹ oder ›die Gesellschaft‹ für Entscheidungen verantwortlich machen müsse; zumindest sagt man das, wenn es um die Urheber von zweifelhaften Entscheidungen geht. Das System selbst oder die Gesellschaft in toto entscheiden aber nicht, Entscheidungen werden immer und überall nur in konkreten Situationen von einzelnen gefällt, auch wenn diese einzelnen Mitglieder von Gruppen oder Gremien sind.
Eines gilt immer und überall: Es muß entschieden werden, um das gesellschaftliche Leben sich entfalten zu lassen. Stagniert unser Leben, weil bei dem gegebenen Risiko nicht mehr entschieden wird beziehungsweise man nur so tut, als ob man entscheide, in Wahrheit aber nur den bürokratischen Leerlauf aufrechterhält? Weil man diese Veränderung spürt, erschallt der Ruf nach den Persönlichkeiten, zumindest der Ruf nach den Führungspersönlichkeiten. Haben Franz Josef Strauß und Alfred Dregger deswegen Erfolg, weil sie sich offen als Führer anbieten für alle Kümmerlinge, Autoritätsgläubigen und schwachen Charaktere, die eben einen Führer brauchen? Es wäre gefährlich, bei dieser Auffassung weiterhin zu verharren, denn nicht nur die Schwachen und Haltlosen rufen nach den Führungspersönlichkeiten auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und privaten Lebens. Sie wollen nicht geführt werden wie ein Kind an der Hand des Vaters, sondern sie wollen, daß die Führungspersönlichkeit ihnen gegenüber die Tatsache und das Wesen der Entscheidung repräsentiert, das heißt sichtbar und jedermann erkennbar werden läßt, daß Entscheiden immer bedeutet, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, daß demzufolge immer die Vorschläge und Ansprüche einer Gruppe oder einzelner Menschen durch die Entscheidung ausgeschlossen werden. Die Führungspersönlichkeit soll also vor allem sichtbar machen, wie Entscheidungen zustande kommen, wer warum obsiegt und daß Entscheidungen umgestoßen werden können. Was konkret bedeutet, daß die Führungspersönlichkeit absetzbar ist.
Es spricht für sich, daß diejenigen, die bei uns in Politik und Wirtschaft, in Familie, Verein und Institution Führungsrollen innehaben, nur noch bereit sind, die materiellen und immateriellen Belohnungen zu kassieren, aber nicht bereit sind, notwendige Kritik auf sich zu lenken und auszuhalten. Die Reichen zeigen ihren Reichtum nicht mehr, die Mächtigen verstecken ihre Macht hinter Sach- und Systemzwängen. Deshalb ergeht der Ruf nach den Führungspersönlichkeiten.
Wir reden hier nicht dem Persönlichkeitskult das Wort. Stalinkult und Theo-Kojak-Kult wollen ja gerade davon ablenken, daß ihre Idole auch nur konkrete Menschen sind, was übrigens der Alltagsmensch sehr genau spürt, weshalb er sich so stark für das Privatleben der Stars interessiert. Die Kultpriester und Starmacher haben für dieses Interesse kein Verständnis, sie möchten so tun, als ob ihre Objekte auch noch auf dem Klosett die Starrolle durchhielten. Sie konstruieren den Geschäftsinteressen entsprechend eine künstliche Persönlichkeit und setzen alles daran, die Frage zu verhindern, ob denn die Stars von sich aus überhaupt in der Lage sind, einen Persönlichkeitsanspruch zu erheben.
Kleines Fazit zur Lage: Exponieren Sie sich, wo immer Sie können, denn nur so werden Sie eine Chance haben, Persönlichkeitsanspruch anzumelden, also urteils- und entscheidungsfähig zu werden, Kritik herauszufordern und auszuhalten.
Nachsatz für die Fortgeschrittenen, die Kritik an diesen Andeutungen über die Persönlichkeit anmelden: Auch wir wissen, daß Persönlichkeit definiert wird durch die empirischen Begriffe, die in einer Theorie von der Persönlichkeit verwendet werden, wie Murray so unheimlich stark für alle formuliert, die sich rein wissenschaftlich mit der Frage nach der Persönlichkeit beschäftigen. Na, denn man tau, wenn Ihnen jederzeit klar ist, daß auch diese wissenschaftliche Formulierung des Problems von einer Wissenschaftlerpersönlichkeit, nicht von der Wissenschaft stammt.
Sich exponieren in Bildern und Texten, ohne leibhaftig anwesend zu sein
Wenn wir auf die Bedeutung der Moden für die Exponierung hinweisen, so soll damit nicht nur gemeint sein, daß jedermann die Kleidung benutzt, um sich anderen zur Wahrnehmung anzubieten; um also zu sagen: »Seht her, hier ist jemand, der von euch bemerkt werden will, um mit euch in dieser gegebenen Situation in Beziehung zu treten.« Jede Bekleidung ist ›aufreizend‹, nämlich die Wahrnehmungen anderer reizend – ganz gleich, ob es sich um ein dekolletiertes Abendkleid mit Flitterglanz oder um eine asketische, schlichte Mönchskutte handelt.
In welchem Sinne aber der Reiz verstanden wird, hängt davon ab, ob (um in unserem Beispiel zu bleiben) in einer Gesellschaft der Anblick des nackten Busens etwas Alltägliches ist oder nicht. Und nur dort, wo man reichornamentierte, vielfältig geschnittene und kostbare Kleidung schätzt, wird die Kutte als auffällig schlicht verstanden. Alle von einer jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe vorgegebenen Kriterien der Interpretation von Reizen, die in einer Exponierung ausgesandt werden, sollen im Begriff »Mode« erfaßt werden. Sich der Moden zu bedienen, um sich zur Erscheinung zu bringen, soll also heißen, daß man sich mehr oder weniger bewußt jener Interpretationsmuster von Reizen bedient, die gesellschaftlich und kulturgeschichtlich bedingt sind und die sich deshalb im Laufe der Zeit verändern.
Es gibt aber viele Interpretationsmuster, die sich in geschichtlicher Zeit kaum verändert haben, weil sie aus der Stammesgeschichte der Menschheit herrühren; das Lächeln eines Menschen wird immer und überall als Zeichen der Freundlichkeit verstanden; die geballte Faust wird immer und überall als Zeichen der Drohung interpretiert. Solche uns zwingend vorgegebenen Interpretationsmuster von Reizen, die beim Exponieren ausgesandt werden, sollen im Begriff »Körpersprache« zusammengefaßt werden. Körpersprache war immer schon Gegenstand des Interesses von Künstlern (zum Beispiel für die Maskenformer des griechischen Theaters) oder von Wissenschaftlern (zum Beispiel für Lavater, der versuchte, eine Wissenschaft vom Ausdruck des menschlichen Gesichts zu entwickeln). Erst in jüngster Zeit gelang es, anhand weltweit geführter vergleichender Studien die Körpersprachen der vielen Menschen als die Körpersprache des Menschen herauszuarbeiten.
In der Exponierung sich durch Körpersprache und Mode zur Erscheinung zu bringen muß also heißen, sich der menschheitsgeschichtlich und gesellschaftsgeschichtlich entstandenen Interpretationsmuster zu bedienen – oder ihnen auch bloß ausgeliefert zu sein.
Das gilt für alle Akte der Exponierung, in denen jemand leibhaftig in Erscheinung tritt, also persönlich anwesend ist. Für jene Akte der Exponierung, in denen jemand nicht leibhaftig anwesend ist, sondern durch Bilder, Zeichen, Bücher, ein Schriftstück oder durch die Erinnerung der leibhaftig Beteiligten vergegenwärtigt wird, kommen noch weitere, entscheidende Interpretationsmuster hinzu: nämlich diejenigen Muster, nach denen wir Persönlichkeitsausdruck darzustellen und die Darstellung zu lesen gelernt haben. Auch beim Malen und Beschauen des Portraits eines Menschen sind wir natürlich an jene Interpretationsmuster gebunden, die wir als Körpersprache und Mode bezeichnet haben. Da aber Bilder und Texte herzustellen und zu gebrauchen keine selbstverständliche und auf gleiche Weise für alle Menschen aller Kulturen und Zeiten gegebene Fähigkeit ist, kommt den jeweils in den einzelnen Kulturen zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich entwickelten Herstellungs- und Gebrauchsformen von Bildern und Texten eine ausgezeichnete Bedeutung zu.
Man muß zum Beispiel erst lernen, daß die archaischen Griechen das Laufen als Bewegungszustand eines Menschen etwa so darstellten, wie wir das Aufstehen eines Knienden darstellen würden. Man muß erst lernen, daß der angewinkelte, mit der Handfläche nach vorn und bis in Ohrhöhe erhobene rechte Arm Christi auf einem Wandbild des 14. Jahrhunderts nicht als »Halt« zu verstehen ist, wie wenn ein Verkehrspolizist uns in gleicher Haltung entgegentritt, sondern als Verweis auf die Kreuzigung und deren Bedeutung für das Weltverständnis des Christen gelesen werden soll.
Wie entstehen solche bildlichen und textlichen Formen der Darstellung und ihres Gebrauchs? Für die meisten der heute bei uns gebräuchlichen läßt sich nachweisen, daß sie (zugleich mit vielen heute nicht mehr gebräuchlichen) von Künstlern und Wissenschaftlern zwischen 1400 und 1600 n. Chr. entwickelt worden sind. Unter den vielen Erfindungen sind nur einige über lange Zeit, bis heute, beibehalten worden; die anderen können wir heute, obwohl sie erst einige hundert Jahre alt sind, kaum noch verstehen; eben weil sie tatsächlich Erfindungen einzelner Künstler und Werkstätten waren.
Beschränken wir uns auf wenige Beispiele der bildlichen Darstellung von Persönlichkeitsausdruck, ohne dabei zu vergessen, daß auch für Texte Darstellungsprobleme wichtig sind (Stil, Aufbau, Verständlichkeit des Textes etc.). Vor allem darf nicht vergessen werden, daß Bilder selten oder nie ohne begleitende Texte gebraucht werden und daß Bilder und Texte nie außerhalb eines situativen Zusammenhangs gebraucht werden.
Vor allem: Es mußte erst einmal von Künstlern die Möglichkeit erfunden und erprobt werden, einen Menschen so zu portraitieren, daß aus dem Gemälde und nicht erst aus einem beigefügten Namen oder anderen Angaben der Portraitierte als eine konkrete Person gekennzeichnet ist. Natürlich konnten die europäischen Künstler zwischen 1400 und 1600 gelegentlich auf Darstellungstraditionen der Etrusker, Griechen und Römer zurückgreifen (von denen man allerdings damals wenig wußte); aber die künstlerischen Mittel, das Selbstverständnis der Künstler wie das der Portraitierten hatten sich seit der Antike erheblich verändert; die Lebensformen waren andere geworden wie auch die Lehensumgebungen, die Gebrauchsgegenstände, Moden etc. Das zwang die Künstler meistens zu völlig neuen Vorgehensweisen, Auffassungen und Mitteln. Sie mußten erst wieder herausfinden, wie und warum man Personen im Brustbild, als Halb- oder Ganzfigur darstellt: sitzend, stehend, kniend, liegend – und in welcher Haltung, welchem Gestus, welcher Mimik, welchem Lebensraum. Erst allmählich spielten sich in einzelnen Werkstätten, Regionen und Ländern feststehende bildliche Darstellungs- und Aussageformen ein: die formalen und konzeptuellen ikonographischen Topoi. So dominierte zum Beispiel kurz nach 1400 in den Niederlanden die Auffassung, man solle einen Portraitierten so mit allen seinen Runzeln, Warzen und Narben darstellen, daß seine Unverwechselbarkeit und besondere Einmaligkeit hervortrete. Dagegen stand zur gleichen Zeit in den oberitalienischen Städten die Auffassung im Vordergrund, den Portraitierten in erster Linie als einen Repräsentanten seiner Bezugsgruppen, seiner Gesellschaft und deren Selbstverständnis zu kennzeichnen; erst in zweiter Linie galt es, seine individuelle Besonderheit zur Geltung zu bringen.
So entwickelte sich die Unterscheidung zwischen repräsentativem und privatem Portrait, die Unterscheidung zwischen idealisierendem und individualisierendem Portrait. Diese Unterscheidungen sind heute noch wirksam, wie man aus einem Vergleich des offiziösen Fotos eines Staatsoberhauptes für die Amtsstuben und eines Fotos des gleichen Mannes für sein Familienalbum auf den ersten Blick entnehmen kann.
Wie ist das zu verstehen, zumal ja inzwischen Portraits kaum noch von Malern hergestellt werden, sondern von Fotografen. Wieso machen wir alle auch unbewußt diese Unterscheidung mit, wenn wir uns beim Fotografiertwerden zwangsläufig in Posen werfen? Das geschieht, weil eben auch die Interpretationsmuster der Alltagswahrnehmungen von Nichtkünstlern ganz entscheidend durch die beständige Konfrontation mit Bildern geprägt werden. Die Hersteller dieser Bilder, die Künstler, beziehen sich aber immer auf die Bilderzeugungen ihrer Vorgänger – auch dann, wenn sie sich deutlich von ihren Vorgängern unterscheiden wollen. So bilden sich Traditionsketten, an die unsere Wahrnehmungen gefesselt bleiben. Haben nicht aber die Bilderzeuger unserer Zeit Darstellungs- und Auffassungsformen hervorgebracht, die ihre Vorgänger nicht kannten: beispielsweise alle jene, die in den Medien Film und Fernsehen angewandt werden?
Als diese Medien noch jung waren, sprach man vom Film als Folge von Bildern, die sich bewegen. Bilderabfolgen aber kannten auch die Künstler in Vorfilmzeiten (sogar in der Antike schon als Bildstreifen). Und Bewegung konnte man damals auch darstellen, allerdings in und durch die Bilder und nicht bloß durch die Abfolge von Bildern. Heute greifen gerade anspruchsvolle Filmmacher auf diese alten Darstellungsformen wieder zurück, weil sie bemerkt haben, daß es um Darstellungs- und Aussageformen geht und nicht bloß um die Mittel der Darstellung.
Die Mittel haben sich in der Tat wesentlich verändert; die Darstellungs- und Aussageformen, soweit sie für den Persönlichkeitsausdruck in Bildern in Frage kommen, werden hingegen durch Traditionsbildungen bestimmt, die sich nur sehr langsam ändern. Was das bedeutet, erfährt man jeden Tag in den Medien, in denen dem Publikum Bilder von Personen geliefert werden, die einen Aussageanspruch erheben. Mit den tagesüblichen Schnappschüssen läßt sich aber kein Persönlichkeitsausdruck vermitteln, sie sagen über die Personen gar nichts aus, Ein solches nichtssagendes Bild wird jedoch vom Publikum so gelesen, als ließen sich aus ihm Hinweise auf die Persönlichkeit des Abgebildeten entnehmen. Fazit: Das nichtssagende Bild – oder das nur zufällig bedeutsame Bild, da ja stets von einem Text begleitet wird –zerstört auch die Aussage des Textes; es bleibt nicht aus, daß sich beim Publikum das Gefühl totaler Beliebigkeit der Aussagen einstellt. Desorientierung anstelle von Information.
Da jeder heute durch Verfügung über einen Fotoapparat zu einem Bilderzeuger geworden ist, gilt es auch für den eigenen Gebrauch, die Darstellungsformen von Persönlichkeitsausdruck zu kennen, damit man nicht immer bloß zu den Hunderten ungenutzt herumliegenden und wahrscheinlich auch kaum nutzbaren Familien- und Ferienfotos die gleichen hinzufügt. Sehen Sie sich einmal Ihre Fotoalben an. Wie häufig, wenn überhaupt, ist aus diesen Fotos etwas über Ihren Persönlichkeitsausdruck zu entnehmen? Gibt es Fotos, die einen Hinweis auf Ihr Weltbild geben: auf den Zusammenhang, in dem Sie Ihre Arbeit und Ihr Leben sehen; die das Wesen Ihrer Arbeit vergegenwärtigen? Ist den Fotos zu entnehmen, welche Bezugsgruppen und Orientierungsgeber Sie haben? Kann man in den Fotos sehen, wie Sie auf andere wirken und was Sie für andere bedeuten? Welche Gegenstände, die Ihnen etwas bedeuten, sind dargestellt, und erfährt man etwas darüber, wieso Sie diese Gegenstände anderen vorziehen? Nehmen Sie sich eine Reihe von Menschendarstellungen aus einer Epoche der Kunstgeschichte vor an Hand von Postkarten, die man in Buchhandlungen, Ausstellungen und Museen kaufen kann. Versuchen Sie, den Kunstpostkarten diejenigen Ihrer Fotos zuzuordnen, die Ähnlichkeit mit den Karten zu haben scheinen. Durch eine solche Analogiebildung Ihrer Fotos mit den jeweiligen Postkarten können Sie erkennen, in welcher Hinsicht sich Postkarten und Fotos unterscheiden – und darauf kommt es an.
Kleines Begriffsregister zur Persönlichkeit
Man ist immer schon mitten im Leben und soll es doch erst lernen!
Ich verstehe Begriffe als Namen von Sätzen, die miteinander einen Zusammenhang von Aussagen bilden und in einem Zusammenhang stehen. Hier folgen diejenigen Sätze, für die die entsprechenden Begriffe verwendet werden. Wenn man die Sätze aus den Augen verliert, deren Name der Begriff ist, dann verselbständigt sich der Begriff und wird noch mißverständlicher als ohnehin unumgänglich. Die Reihenfolge der Begriffe entspricht ihrer Stellung in der Argumentation die der Aussagestellung ›Persönlichkeit werden zum höchsten Glück auf Erden‹ 1978 im Haus Deutscher Ring in Hamburg, zugrundelag.
Selbstbild:
die Art und Weise, wie man sich selbst sieht.
Fremdbild:
die Art und Weise, wie man glaubt, daß einen die anderen sehen.
Idealbild:
die Art und Weise, wie man sich selbst in der Beziehung zu anderen gerne sehen würde.
Verhalten:
Jede Form von Gegenwärtigsein eines Menschen; es gibt kein Nicht-Verhalten.
Exponierung, sich exponieren:
jeder deutlich erhobene Anspruch, von anderen wahrgenommen zu werden. Exponierung ist demnach Voraussetzung – und nur Voraussetzung – jedes Persönlichkeitsausdrucks. Man kann sich exponieren oder auch darauf verzichten beziehungsweise zum Verzicht gezwungen werden. Aber auch sich nicht zu exponieren, ist ein Verhalten.
Repräsentative Exponierung:
sich exponieren, ohne leibhaftig anwesend zu sein.
Exponierposen: Attitüden
formelhafte, typisierte Formen des Verhaltens in der Exponierung.
Exponierpodeste:
Orte der Exponierung, die im Hinblick auf Exponierung gestaltet wurden. Prinzipiell kann man sich aber an jedem Ort exponieren.
Attitüdenpassepartout:
Übungsgeräte und Vorgang der Einübung von Analogiebildungen (zum Beispiel eigenes Nachstellen einer Pose, die auf einem Gemälde vorgegeben ist).
Exponierangst:
bekannt als Lampenfieber. Jeder, auch die Exponierprofis, hat Exponierangst, da niemand die Gewißheit haben kann, daß seine Erscheinung in der Exponierung nicht gründlich mißinterpretiert wird.
Interpretationsmuster:
Art und Weise, in der man bewußt oder unbewußt etwas zu deuten versucht.
Moden:
Mittel der Exponierung; alle kurzfristig veränderbaren Interpretationsmuster, die in einer Kultur zu bestimmter Zeit und in bestimmtem Zusammenhang angeboten werden. Sich mit Hilfe von Moden zu exponieren, heißt, die anderen zu Interpretationen seines eigenen Verhaltens zu veranlassen.
Traditionen:
alle nur langfristig sich verändernden Interpretationsmuster, die angewendet werden, um Exponierung in Text und Bild zu ermöglichen, und mit denen wir Texte und Bilder lesen bzw. die wir für die Deutung des Umfelds einer Exponierung verwenden.
Körpersprachen:
alle Interpretationsmuster, die im Laufe der Stammesgeschichte des Menschen entstanden und die deshalb unveränderbar allen Menschen vorgegeben sind. Kulturspezifische Körpersprachen fassen Formen der natürlichen Körpersprachen zu jeweils anderen Ausdrucksgefügen zusammen; dadurch entsteht der Eindruck, es hätte jede Kultur eine eigene Körpersprache. Die Individuen fügen ihrerseits wiederum neue Ausdruckseinheiten aus dem Grundangebot zusammen; sie erwerben individuelle Körpersprachen.
Persönlichkeitserscheinung:
Erscheinung, die eine Person mit Hilfe von Moden, Körpersprache, Handlungen, Texten und Bildern in der Exponierung bietet. Appellpotential der Person in der Exponierung.
Persönlichkeitsausdruck:
alle Vergegenständlichungen, vor allem auch wortsprachliche, die zumindest einen Hinweis auf das Weltbild einer Person geben; auf ihre Orientierungsgeber, ihre Bezugsgruppen, auf den Zusammenhang ihres Lebens und Arbeitens, auf ihre Bedeutung für andere.
esse est percepi:
philosophische Kernthese, die Schule gemacht hat. Heute wohl sinnvoll zu übersetzen als: »Ein menschliches Dasein zu führen, heißt, Bedeutung für andere zu haben.«
Rolle, eine Rolle spielen:
sich jeweils so zu verhalten, wie man glaubt, daß es andere von einem in einer Situation erwarten. Man lernt von früher Kindheit an, die Erwartungen der anderen im voraus zu kalkulieren. Nicht die anderen zwingen uns die Rolle auf, obwohl wir das so erleben. Sondern: Da wir als Menschen immer nur mit und durch die anderen leben können, müssen wir für unser Verhalten und Handeln stets berücksichtigen, was die anderen von uns zu erwarten scheinen. Um Sicherheit im Umgang mit anderen zu erreichen, verfestigen wir die Erwartungen, die andere uns gegenüber zu haben scheinen. So glauben wir allmählich, in den jeweiligen Situationen immer die gleichen Erwartungen der anderen vorzufinden. Rollen sind Schemata von Handlungen, für die wir immer die gleichen Erwartungen der anderen zugrunde legen.
Persönlichkeitsaufbau:
Das ES: der Triebhaushalt eines Menschen, vor allem alle »natürlichen« Triebe;
das ÜBER-ICH: die verinnerlichten (siehe unten) Normen und Werte der Gesellschaft, in der ein Mensch aufgewachsen ist;
das ICH: Es hat die zumeist miteinander in Widerstreit liegenden Ansprüche von ES und ÜBER-ICH auszugleichen. Beispiel: Jemand fühlt sich dauernd getrieben, zu naschen (ES-Anspruch). Seine Eltern haben ihm aber beigebracht, daß nur kleine Kinder und unmännliche Personen Bonbons essen; sie haben ihm beigebracht, keine Bonbons essen zu dürfen (ÜBER-ICH-Anspruch).
Die Vermittlung des ICH zwischen diesen widerstreitenden Ansprüchen von ES und ÜBER-ICH wird bei einem normalen Menschen dazu führen, daß er sich sagt, einerseits ist Bonbonessen eine wahnsinnige Lust für mich, andererseits ist es gesundheitsschädlich. Also erlaube ich mir, in Maßen Bonbons zu essen.
Ein schwaches ICH wird entweder den ÜBER-ICH-Ansprüchen oder den ES-Ansprüchen sich ganz unterwerfen: Dann wird der ICH-Träger (die Persönlichkeit) das Bild eines unsinnlichen trockenen und bornierten Prinzipienreiters bieten oder aber als haltloser und unbeherrschter Kindskopf erscheinen. Beides sind neurotische Erscheinungen. Unterwirft sich das ICH nicht, ohne andererseits aber den Widerstreit von ES und ÜBER-ICH unter Kontrolle zu bringen, dann bleiben ihm zwei Auswege: Es kann sich aus der Verantwortung stehlen.
Um das vor sich selbst zu rechtfertigen, zerstört das ICH die Beziehung von und zu ÜBER-ICH und ES. Die Persönlichkeit zerfällt, sie verliert ihre Identität (siehe unten).
Der zweite Weg aus der Klemme: Das ICH verlagert seine Vermittlungsleistungen zwischen dem Bonbon-essen-Wollen und dem Nichtessendürfen auf ein ›wichtigeres‹ Gebiet; wenn schon dauernder Widerstreit, dann wenigstens für etwas, das als kulturell wertvoll eingeschätzt wird. Eine solche Verlagerung der Vermittlungsanstrengungen des ICH nennt Freud »Sublimierung«.
ICH-IDEAL: Entwurf des Bildes, wie die Persönlichkeit sich gerne sehen würde; wie und mit welcher Bedeutung für sich und andere das ICH seine Vermittlungstätigkeit erfüllen möchte. Mit einem solchen Entwurf wird das ICH für sich selber zum Setzer neuer Normen und Werte. Die Persönlichkeit stellt unablässig Vergleiche zwischen Ideal und tatsächlicher Vermittlungsleistung an. Mit Hilfe des ICH-IDEALS kritisiert die Persönlichkeit sich selbst und begründet so die Notwendigkeit, die ICH-Leistungen beständig weiterzuentwickeln.
Verinnerlichung: Internalisierung
Wenn einem Kinde Vater, Mutter, Lehrer etc. hundertmal gesagt haben, was sich gehört und was nicht, was es tun dürfe und was es zu lassen habe; wie es und wie man etwas zu verstehen habe und wie man es nicht verstehen dürfe; und wenn das Kind hundertmal gehorcht hat, um bei Verstoß nicht bestraft zu werden, dann wird es allmählich die Gebote und Verbote auch berücksichtigen, wenn Vater, Mutter, Lehrer, Polizist etc. ihm nicht unmittelbar auf die Finger schauen. Das Kind hat begonnen, die Gebote und Verbote, die Normen und Werte seiner Bezugsgruppen zu verinnerlichen. Es glaubt dann, man könne die Welt notwendigerweise gar nicht anders sehen, als Vater, Mutter, Lehrer etc. und es selbst sie nun sahen.
Entäußerung: Externalisierung
Da die Beziehungen auf andere Menschen immer nur über die material gegebene Umwelt und ihre Beziehungen laufen können (selbst im Dunkeln von ferne gesprochene Worte sind solches Material), kann sich das, was verinnerlicht wurde, nur im Gebrauch oder im Gestalten von materialen Bestandteilen der Umwelt auswirken. Diesen Vorgang nennen wir Externalisierung; ohne ihn ist Internalisierung nicht sinnvoll vorzustellen.
Identität:
Kern der Persönlichkeit; Art und Weise, wie sie es schafft, in den unterschiedlichsten Situationen ihr ICH leistungsfähig zu halten (siehe oben – Persönlichkeitsaufbau); das heißt also, wie sie es in den vielen verschiedenen Lebenssituationen fertig bringt, den Ausgleich zwischen den eignen Solls, Ist und Möchte und denen der anderen zu bewerkstelligen. Deshalb kann Identität gerade nicht als ein immer auf gleiche Weise gegebener Kern der Persönlichkeit angesehen werden. Identität entwickelt sich und verändert sich sowohl für den, der zu sich ICH sagt, wie für die anderen, von denen ich weiß und die von sich wissen, daß sie jeweils zu sich auch ICH sagen. Von personaler Identität wird gesprochen, wenn die individuelle Lebensgeschichte, der Zusammenhang der vielen Situationsbewältigungen einer Persönlichkeit im Blickpunkt steht. Warum aber hat eine Persönlichkeit gerade ihre Lebensgeschichte und nicht eine andere; welche Möglichkeiten gibt es überhaupt für eine Persönlichkeit, in ihrer Gesellschaft und in ihrer Zeit Situationsbewältigungen zu einer Lebensgeschichte zu verknüpfen; welche Möglichkeiten also sind in ihrer Zeit den Mitgliedern einer Gesellschaft überhaupt geboten, um personale Identität aufzubauen? Wie eine Persönlichkeit das von der Gesellschaft vorgegebene Spektrum der Möglichkeiten nutzt, um personale Identität zu haben, das kennzeichnet ihre soziale Identität.
Persönlichkeitsrollen oder P-Typen:
Wir unterscheiden drei: die Rolle einer Führungspersönlichkeit, die einer Abweichungspersönlichkeit und die einer in sich ruhenden Persönlichkeit (autonome Persönlichkeit). Jeder Mensch sieht sich immer schon als eine Persönlichkeit, in der Aspekte aller drei Rollen angelegt sind. Welche jeweils hervorgehoben wird, entscheidet man nach seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Opportunität; die vorgegebenen Bedingungen einer Handlungssituation, zum Beispiel Arbeitsplatz und Art der Arbeit verhindern sehr häufig, daß jemand sich überhaupt exponiert, sie zwingen ihn, auf jeden Persönlichkeitsausdruck in der gegebenen Situation zu verzichten. In anderen Situationen, etwa in der Familie, im Hobbyclub wird er aber seinen Anspruch durch Exponierung anmelden und eine der P-Rollen hervorheben.
Nicht jeder, der auf Grund bestimmter Umstände die Rolle einer Führungspersönlichkeit etc. spielen kann oder spielen muß, wird auch als Führungspersönlichkeit anerkannt.
Von der Führungspersönlichkeit erwartet man, daß sie Überblick übers Ganze habe, das Weltbild (im einzelnen Führungsbereich: den Systemzusammenhang) derer zu repräsentieren weiß, von denen sie in der Rolle erlebt wird; man erwartet von ihr, daß sie Entscheidungen im Hinblick auf vorgegebene Ziele trifft, die nicht nur ihre eigenen Ziele sind; man glaubt, an ihr die Ausstrahlung von Handlungskraft (Charisma) wahrnehmen zu können.
Von der Abweichungspersönlichkeit, die auch als solche anerkannt wird, erwartet man ein eigenes Weltbild, die eigene Sicht auf die Dinge; man erwartet, daß sie eigene Wege geht im Verhalten, Handeln und Erleben; daß sie Entscheidungen im Hinblick auf selbst gesetzte Ziele trifft; man glaubt an ihr die Ausstrahlung von Schöpfungskraft (Aura) wahrnehmen zu können.
Von der autonomen, in sich ruhenden Persönlichkeit erwartet man, daß sie nicht alle Beziehungen zu anderen unter dem Aspekt von Führen oder Abweichen sieht; daß sie andere als gleichwertige Partner betrachtet, denen sie dazu verhelfen möchte, die eigene Autonomie zu entwickeln bzw. zu entfalten; man erwartet von ihr keine deklarierten eigenen oder fremden Weltbilder, sondern erlebt sie selbst als lebendiges Beispiel dafür, daß dem Menschen das Leben gelingen kann. Man glaubt an ihr die Ausstrahlung von Lebenskraft (Fluidum) wahrnehmen en können.
Aus folgendem Grund halten wir es für sinnvoll, in dieser Weise Persönlichkeitsrollen zu unterscheiden: Im Hinblick auf bestimmte Erwartungen, die in unsere vielen Rollen eingehen (siehe oben – Rolle spielen) stellt jeder mehr oder weniger deutlich die Fragen:
1. Folgt jemand anderen oder folgen sie ihm?
2. Weicht jemand willentlich von Erwartungen der anderen ab oder nicht; bemerkt er, daß andere von seinen Erwartungen abweichen?
3. Ist jemand autonom oder nicht, bemerkt er, daß andere autonom sind, das heißt, daß sie oder er relativ unbeeindruckbar sind von der Tatsache, ob seine oder ihre Erwartungen erfüllt werden beziehungsweise nicht erfüllt werden.
Diese drei Einstellungen zu dem Spiel der Erwartungen und dem Erwarten von Erwartungen entwickelt jeder. (Erwartungen von Erwartungen: Ein Mitarbeiter kennt die Erwartungen des Chefs; der Chef weiß, daß der Mitarbeiter die Cheferwartungen nicht nur kennt, sondern sie auch zu erfüllen bemüht ist. Wenn der Mitarbeiter aber die Cheferwartungen tatsächlich zu erfüllen in der Lage ist, dann könnte der Mitarbeiter ja selber der Chef sein. Also muß der Chef Erwartungen erheben, die der Mitarbeiter nicht vollständig kennen darf.)
Welche der drei Einstellungen zum Spiel der Erwartungen jemand in einer Situation oder für zusammenhängende Situationen zur Geltung kommen läßt, das hängt von den situativen Möglichkeiten, seinen Fähigkeiten und von seinen Erfahrungen ab.
Folgen ihm andere, dann haben offensichtlich seine Handlungen den anderen ermöglicht, ihre und seine Erwartungen als identische zu erleben. Da seine Handlungen ihnen das ermöglichen und nicht die ihren, akzeptieren sie ihn als Führungspersönlichkeit. Durch die Führungspersönlichkeit können die anderen ihre eigenen Erwartungen als die anderer, ja als die aller erleben. Ihre Erwartungen werden bestätigt und gerechtfertigt.
Weicht jemand willentlich von den Erwartungen anderer ab, dann akzeptiert man ihn als Abweichungspersönlichkeit, solange er gerade nicht darauf besteht, akzeptiert zu werden; würden nämlich andere das gleiche tun wie er, ließen sich seine Handlungen nicht mehr als abweichende rechtfertigen. Man akzeptiert jemanden als Abweichungspersönlichkeit, wenn der Betreffende es ertragen kann, ausdrücklich gesagt zu bekommen, daß er für andere keine Bedeutung hat, weil er deren Erwartungen nicht prägt. Deswegen ist es ganz verständlich, wenn das Publikum von Künstlern als klassischen Abweichungspersönlichkeiten nichts anderes erwartet als die bloße, beliebige Abweichung von Erwartungen, die gar nicht bestimmt werden können.
Der Fehler, den dies Publikum begeht, liegt darin, daß es nicht weiß oder nicht berücksichtigt, wie sehr Abweichung Bestandteil auch der als vollkommen erlebten Erfüllung von Erwartungen ist. Jedes ›Verstehen‹ zum Beispiel ist zu einem erheblichen Teil ein Mißverstehen, aber ein produktives. Wir können nämlich selber nie genau wissen, was wir erwarten, wie wir die Erwartungen anderer zu erwarten haben, bevor wir handeln. ›Das böse Erwachen‹ zwingt uns, die Erwartungen zu verändern.
Jemand wird als autonome Persönlichkeit akzeptiert, wenn man ihm glaubt, daß er weitgehend von der Erfüllung bzw. Nichterfüllung seiner wie der Erwartungen anderer unbeeindruckbar ist. Er scheint beides für gleichermaßen wünschbar oder selbstverständlich zu halten. Das scheint ihm zu gelingen, weil er all die vielen einzelnen Handlungen im Spiel der Erwartungen von Erwartungen von vornherein nicht für einmalige und endgültige hält.
Persönlichkeitsentfaltung:
Versuche einer Persönlichkeit, alle Persönlichkeitsrollen an sich zu entwickeln; vorausgesetzt, sie weiß sich stets in der Lage, Exponierung wagen zu können. Eine entfaltete, entwickelte Persönlichkeit vermag es weitgehend, in den verschiedensten Situationen und in den unterschiedlichen P-Rollen den gleichen Persönlichkeitsausdruck (siehe oben) zu vermitteln.
Persönlichkeitstests:
Verfahren zur Messung des Entfaltungsgrads einer Persönlichkeit. Diese Tests müssen – wie immer sie angelegt sind – als äußerst zweifelhaft angesehen werden, da die Entfaltung einer Persönlichkeit sich nur in konkreten Handlungen erfahren läßt. Wollte man solche Handlungen im Test simulieren, so wären sie genauso geld- und zeitaufwendig wie entsprechende ›reale‹ Handlungen. Also bedürfte man der Tests nicht.
Persönlichkeitstheorien:
Theorien werden gebildet aus Folgen von Aussagen, an deren Zusammenhang bestimmte formale Forderungen gestellt werden: zum Beispiel die nach Widerspruchsfreiheit oder die nach Verwendung von Begriffen, deren ›Bedeutung‹ sich im Laufe der Argumentation nicht verändern darf. Über die Gesamtheit solcher Forderungen besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit.
Es gibt eine Vielzahl von Persönlichkeitstheorien. Gordon W. Allport, dessen Arbeiten auf diesem Gebiet große Auswirkungen hatten, zählte etwa fünfzig Vorschläge seiner Kollegen, den Gegenstand der Persönlichkeitstheorien, die Persönlichkeit, zu definieren. Als Fazit aller dieser Versuche arbeiteten Calvin s. Hall und Gardner Lindzey in ihrem Vergleich der ihrer Meinung nach wichtigsten Persönlichkeitstheorien folgende Definition heraus, der jeder Wissenschaftler zustimmen kann: »Persönlichkeit wird definiert durch die besonderen empirischen, eine Beobachtung beschreibenden Begriffe, die Bestandteil der vom Beobachtenden benutzten Theorie der Persönlichkeit sind. Persönlichkeit ist ein Konstrukt aus einer Reihe von Maßzahlen oder beschreibenden Begriffe, die aus der Beobachtung des Individuums mit Hilfe der Annahmen hervorgehen, die eine zentrale Stellung in der jeweils angewandten Theorie haben.« Zur Verdeutlichung eine Umformulierung: Wenn jemand Menschen beobachtet, um herauszufinden, was eine Persönlichkeit ausmacht, dann braucht er Grundannahmen, anhand deren er seine Beobachtungen auswertet und bewertet. Diese Grundannahmen muß er als Aussagenzusammenhang – als Theorie – vorweg formulieren. Je nachdem, welche Theorie er voraussetzt, wird seine Antwort auf die Frage »Was ist eine Persönlichkeit?« ausfallen. Es kann also für die Wissenschaftler nie eine einzige verbindliche Definition von Persönlichkeit geben.
Für Ausstellung und Katalogbeiträge wurde nicht ausdrücklich eine wissenschaftliche Theorie der Persönlichkeit zugrunde gelegt. Die Beitragenden geben diejenigen Aussagen an, die für sie im Alltag brauchbar sind, um dem Problem »Persönlichkeitsausdruck« standzuhalten. Es hängt also von der Problembetroffenheit und dem Problembewußtsein der einzelnen ab, welche Aussagen für sie brauchbar sind, um für sich im Alltag die Frage nach der Persönlichkeit zu beantworten. Ob man diese Aussagen Theorien nennen will – Theorien von Nichtwissenschaftlern –, ist unwichtig. In jedem Falle dürften diese Aussagen nicht danach beurteilt werden, ob ihr Zusammenhang bestimmten formalen Anforderungen genügt; sie können nur danach beurteilt werden, ob sie den einzelnen tatsächlich dabei helfen, ihre Lebensanstrengungen zu bewältigen.
Literaturnachweise:
Peter L. Berger; Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Stuttgart 1969
A. w. Burckhardt; H. Binder: Mode im Unterricht, Stuttgart 1974
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1970
Hans Jürgen Eysenck; Glenn Wilson: Teste dich selbst, München 1977
Erving Goffman: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971
Ders.: Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1974
Ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt a. M. l974
Calvin s. Hall; Gardner Lindzey: Theorien der Persönlichkeit, (dt. Übers., 2 Bde.) München 1978
Peter R. Hofstätter: Persönlichkeitsforschung, Stuttgart ²1977
Siegmar Holsten: Das Bild des Künstlers – Selbstdarstellungen, Hamburg 1978
Lothar Krappmann: Soziologische Dimension der Identität. Stuttgart ³1973
Rudolf zur Lippe: Bürgerliche Subjektivität; Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt a. M. 1975
Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang, Frankfurt a. M. l970
Richard Pokorny: Über das Wesen des Ausdrucks, München 1974
Joachim Ritter: Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974
Alben E. Scheflen; Körpersprache und soziale Ordnung, Stuttgart 1976
Lucien Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt a. M. 1972
Anselm Strauß: Spiegel und Masken – Die Suche nach Identität, Frankfurt a. M. 1968
Das Porträt – vom Kaiserbild zum Wahlplakat, Schriften des Kunstpädagogischen Zentrums im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 1977
Hans Ebeling (Hrsg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a. M. 1976