Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 376 im Original

Band IX.1.1 Unternehmen und Zeitgeist

Auszüge eines Vortrages zur Hutschenreuther-Orientierungsveranstaltung ›Arzberg und Zeitgeist‹, im Februar 1984

Falsch heißt im Geschäftsleben normalerweise alles, was nicht zu kommerziellem Erfolg führt. Aber, und das ist immer wieder überraschend, es ist gar nicht so leicht festzustellen, was ein kommerzieller Erfolg ist und was nicht. Jeder hat die Erfahrung, daß etwas kurzfristig ein Mißerfolg war, sich dann aber doch auf lange Zeit zumindest als kein Verlust herausgestellt hat. Daraus läßt sich aber auch nicht die Empfehlung ableiten, einfach darauf zu vertrauen, daß die Ladenhüter sich doch noch als Hit herausstellen werden, wenn man nur lange genug wartet.

In der Designgeschichte hat sich das bisher immer wieder bewiesen. Nach dreißig Jahren spätestens werden alle Produkte museumsreif, und das heißt, die Preise verzehn-, verzwanzig-, verhundertfachen sich. Aber wer kann schon so lange warten.

Gegenwärtig verhundertfachen sich gerade die Preise für Design der 50er Jahre. Bis 1975 konnte man die tollsten Markendesigns aller Produktklassen dieser Zeit noch auf dem Sperrmüll finden.

Um unseren Erfolg zu messen, beziehungsweise um festzustellen, ob wir überhaupt Erfolg hatten oder ob wir nicht vielmehr vergeblich gearbeitet haben, bedarf es eines vernünftigen Maßstabs. Manche sehen den Erfolg darin, ob das für den Einkauf investierte Kapital sich mindestens so verzinst, wie wenn man es zur Bank getragen hätte. Die Einwände gegen dieses Erfolgskriterium stellen sich indes sehr schnell ein.

Zwar weiß jeder, daß es ein Unterschied ums Ganze ist, ob ich am Rande des Erträglichen für mein eigenes Geschäft und das meiner Familie arbeite oder ob ich in einem mir letztlich doch fremden Unternehmen arbeite, auch wenn das Unternehmen sich anstrengt, mich wie in eine große Familie, wie in ein Familienunternehmen zu integrieren.

Der Unterschied wird zumeist als ideeller bezeichnet. Denn es ginge eben, so sagt man, nicht nur um finanziellen Erfolg, sondern auch um ideellen. Was aber sind diese ideellen Werte?

Eine halbwegs friedfertige Gesellschaft zum Beispiel, sozialer innerer Friede, Konsens mit den Gewerkschaften, ein Staat, in dem es sich leben läßt? Das könnte sich ja alles sehr schnell, gleichsam über Nacht, ändern.

Beginnen sich die ideellen Werte also nicht erst zu realisieren, wenn man nicht nur auf die Gegenwart- auf den gegenwärtigen Staat -, sondern auch auf die Zukunft - auf den zukünftigen Staat, auf das zukünftige Verhalten der Sozialpartner, auf die Politik von morgen Einfluß nehmen kann? Sehen wir unsere ideellen Werte schon wirksam, wenn wir möglichst wenig gestört werden? Dieser Zustand kann sich schneller, als uns lieb ist, ändern. Und diese Perspektive, dieses Wissen stört erheblich. Also sehen wir unsere ideellen Werte wohl doch erst wirksam werden, wenn wir in höchstmöglicher Weise auf die Zukunft Einfluß nehmen können.

Und hier liegt in der Tat das allein sinnvolle Erfolgskriterium. Es lautet als Frage: Habe ich mit meiner Arbeit hinreichend Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft? Hängt es von mir und jedem einzelnen ab, wie meine Zukunft aussieht? Oder bin ich gezwungen, mehr oder weniger fatalistisch zu erwarten, was nun einmal kommt und was nicht zu ändern ist? Wenn meine Zukunft von Faktoren bestimmt wird, auf die ich unter keinen Umständen, mit keinen Anstrengungen, mit keiner Parteinahme Einfluß habe oder auf die mir kein Einfluß zugestanden wird, dann wird Handeln erfolglos, wie auch immer meine momentanen Bilanzen aussehen mögen.

Alles, was wir überhaupt mit Überlegung tun, gilt dem Versuch, auf unsere Zukunft einzuwirken - natürlich unserer Vorstellung gemäß auf sie einzuwirken. Jede Analyse eines geschäftlichen Mißgriffs wird angestellt, um diesen Mißgriff in Zukunft zu vermeiden. Jede Meinung, jedes Gerücht wird daraufhin untersucht, was sich aus ihnen für Schlüsse auf zukünftiges Verhalten anderer - zumeist der Konkurrenz - ziehen lassen. Aber selbst die instinktsichersten und erfahrensten Trendschnüffler, ja gerade die Leute mit den besten Nasen für die Zukunft, gerade sensible Charaktere, die das Gras wachsen hören, machen die merkwürdige Erfahrung, daß in dem Augenblick, in dem sie von möglichst vielen Konkurrenten mit ihren feinen Ahnungen akzeptiert werden, also den größten Einfluß auf andere und damit eigentlich die besten Voraussetzungen für ihren gigantischen Erfolg hätten, daß gerade dann ihre eigentlich richtigen Prognosen in sich zusammenbrechen, ja sich ins Gegenteil verkehren.

Wer mit großem Echo die Meinung vertritt, daß sehr bald Benzin knapp wird, wem viele glauben, daß man wegen der möglichen Benzinverknappung immer mit gefülltem Benzintank fahren sollte, der wird mit wachsendem Erfolg, also mit steigendem Einfluß auf die Zukunftserwartungen vieler anderer, eben die Benzinknappheit herbeiführen, vor der er sich ja eben noch durch die Warnung schützen wollte.

In diesen und anderen geläufigen Beispielen enthüllt sich der verbindliche Mechanismus, der einzig verbindliche, unter dem unser Erfolgsstreben, also unser Versuch, auf die Zukunft Einfluß zu nehmen, tatsächlich steht.

Es ist der Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophetie. Und es enthüllt sich darin auch ein Axiom, eine Grundtatsache, die nach ihrem Erfinder in der empirischen Sozialwissenschaft das Thomas-Axiom genannt wird. Wir alle unterliegen ihm jeden Tag in allen unseren Handlungen. Es heißt: »What people believe to be real is real in its consequences« - Was Menschen für wirklich und tatsächlich gegeben halten, wird durch die Konsequenz dieses Dafürhaltens auch dazu.

Ein Beispiel: Wer aus welchen Gründen auch immer glaubt, daß in Zukunft bestimmte Nahrungsmittel knapp werden, und wer sich als Konsequenz aus diesem Dafürhalten einen Keller voller Butterfässer, Kaffeesäcke und Müslikisten anschafft, für den ist sein Hirngespinst in Gestalt des real existierenden vollgestopften Kellers tatsächlich wirklich. Und zwar unabhängig davon, ob die Regale in Konsumpalästen nun eben voll oder leer sind. Das Thomas-Axiom sagt also, Hirngespinste, unter deren Fuchtel Menschen durch Angst oder Wunschdenken geraten, haben ganz reale Konsequenzen, die alles andere als bloße schwankende Ideen sind.

Die Konsequenzen aus diesen Überlegungen sind, daß wir niemals sicher sein können, ob wir es mit bloßen Hirngespinsten zu tun haben oder mit allgemein wirksamen Ideen - niemals, außer, wenn wir möglichst viele Menschen, möglichst alle, davon überzeugen, daß hinter unseren Annahmen mehr steckt als ein privates Hirngespinst. Der Beweis aber dafür besteht darin, daß möglichst viele andere unseren Auffassungen, Ängsten oder Wunschdenken beipflichten und damit im Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophetie den vorhergesagten Zustand erzeugen.

Wenn viele Leute dem Gemurmel der Börsenauguren glauben, daß der Dollar steigen wird, dann steigt er tatsächlich. Ganz gleich, wie gerade die Wirtschaftsdaten der USA aussehen.

Verrückte Ideen, Hirngespinste, werden zu allgemein wirksamen Ideen, wenn viele Leute an sie glauben. Hirngespinste unterscheiden sich von allgemein wirksamen Ideen und Prinzipien nur durch die Anzahl der Menschen, die ihnen folgen.

Gegen diese allzu nüchterne Konsequenz hilft nur die Einsicht, die bekannt wurde als das Peter-Prinzip, das besagt, dem Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophetie und dem Thomas-Axiom kann man nur gegensteuern, wenn man dafür sorgt, daß der Erfolg bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Wenn Erfolg, so sagt das Peter-Prinzip, bestimmte Grenzen überschreitet, dann gefährdet er sich selbst. 

Wir wissen, man kann sich sehr schnell zu Tode wachsen, zum Bankrott expandieren. Wer zu erfolgreich ist, kehrt den Trend gegen sich um, sobald er ihn nicht mehr willkürlich beeinflussen kann, weil die Masse der dem Trend Folgenden eine Realität für sich geworden ist. Im Privatbereich kennen wir diesen Sachverhalt, wo wir jemandem Bewunderung für einen Erfolg nur so lange zollen, als dieser Erfolg erklärt werden kann, etwa durch persönlichen Einsatz des Betreffenden. Jenseits dieser Grenzen werden wir, auch wenn wir wenig neidisch sind, starke Vorbehalte entwickeln.

Aus dieser eigentlich weit umfassender darzustellenden Tatsache ergibt sich auch die Sozialpflichtigkeit des Erfolges, also die Anerkennung von Grenzen des Erfolgsstrebens. Konkurrenz allein kann diese Grenzen unserer Anerkennung von Erfolg nicht setzen. Wer das nicht beachtet, wird nach dem Peter-Prinzip von dem eigenen Erfolg mattgesetzt.

Wir alle handeln jetzt, aber letztlich doch, um die erheblichen Befürchtungen oder die großen Erwartungen gegenüber der Zukunft realitätsgerecht und den Gegebenheiten entsprechend unter Kontrolle zu bringen. Der Ausdruck für die dabei im eben angedeuteten Sinne zu berücksichtigenden Axiome, Prinzipien und Mechanismen ist der Zeitgeist.

Zeitgeist wird also immer durch die Zukunftserwartungen von Menschen einer bestimmten Gegenwart geprägt. Ja, Zeitgeist ist nichts anderes als die in einer Gegenwart wirksamen Auffassungen, Erwartungen, Ängste gegenüber der Zukunft. Wohlgemerkt: Zeitgeist ist der gegenwärtige Ausdruck, die gegenwärtige Wirkung, die gegenwärtige Konsequenz von Auffassung für etwas, was erst weit voraus erwartet wird. Vorausgesetzt natürlich, daß wir anerkennen, menschliches Handeln ist im wesentlichen auf die Gestaltung der Zukunft ausgerichtet, wie wir das eben als Erfolgskriterium beschrieben haben.

Wir alle unterliegen dem Zeitgeist, obwohl wir ihn doch erst selbst mit unseren Ängsten, Erwartungen, Befürchtungen, durch unsere Hoffnungen, Phantasien und Pläne, durch unsere Theorien und Weltbilder hervorbringen.

Am Anfang jeder Erörterung von Design, Gestaltung, Formgebung muß deshalb die Entdeckung von etwas ganz Selbstverständlichem und deshalb so Verborgenem stehen: Alles um uns herum ist tatsächlich Gestalt. Nichts, aber auch gar nichts, was wir in unserer Lebensumgebung anzutreffen vermögen, ist noch natürlich, nicht einmal mehr die Landschaft. Aber selbst das Natürliche ist ja gestaltet, wenn auch vom lieben Gott, und der war ein unglaublich erfolgreicher Designer. Das war aber auch in der jüngsten Vergangenheit unserer Zivilisation schon so. Neu und anders ist der hohe Anspruch an das wechselseitige Zusammenspiel von unglaublich vielfältigen Formen, Farben und Materialien.

Früher hat man von Stil gesprochen, wenn man ein relativ begrenztes, kleines Zusammenspiel von Formen, Farben und Materialien charakterisieren wollte. Die Dinge paßten zusammen, wenn sie ein und demselben Stil unterlagen. Das ist inzwischen ganz anders. Einheitliche Stile lassen sich nicht einmal mehr in den großzügigsten Großbürgerwohnungen antreffen. Sie wären auch gar nicht wünschenswert, weil uns an Uniformität in unserer Lebensumgebung gar nicht gelegen sein kann. (Vgl. hierzu ›Der Stil der Stillosigkeit‹, Band VIII, S. 265-269)

Die Moderne im Design, also alles das, was in seinen Auswirkungen von durchgesetzten Werkbund- und Bauhauskonzepten sich etabliert hat, geht davon aus, daß gute Form, große Qualität des Materials und der Verarbeitung immer zueinander passen, ganz gleich, aus welchen Epochen, welchen Kulturlandschaften und aus welchen Stilvorstellungen die Produkte stammen.

Auch alle erstklassigen Materialien, abgesehen von bestimmten Verarbeitungsformen, passen zusammen. Stahl, Glas und Marmor war eine der erfolgreichsten Materialkonstellationen der Nach-Bauhaus-Ära. Gestalterische Qualität, nicht Stilreinheit also war und ist das erstrangige Kriterium. Denn der Zeitgeist, also die jetzt wirksame Konsequenz aus unserer Zukunftserwartung, ist durch kaum etwas so geprägt wie durch die Frage nach der Lebensqualität unserer zukünftigen Lebensumgebung.

Die Geschichte des Designs, die ja nun im engeren Sinne seit hundertfünfzig Jahren immer erneut und immer anders geschrieben werden sollte, hat einen erstaunlich reißfesten und kochfesten, waschmaschinenfesten roten Faden. Nämlich: Alle Designreformen waren immer auch Lebensreformen. Die großen Gestalterpersönlichkeiten waren immer auch hervorragende Reformatoren der Lebenspraxis oder wollten es zumindest sein.

Ich bin überzeugt, daß sich unter dem Programmstichwort »Wende« auch heute das Verlangen nach solchen Veränderungen unserer Lebensformen verbirgt. Ich bin aber auch überzeugt, daß man mit windigen Bewegungen an der Oberfläche keine leistungsfähigen Gestaltungen zustande bringt und zudem noch unter falscher Flagge segelt.

Der Zeitgeist fordert, angetrieben durch unsere Zukunftserwartungen, das Bekenntnis zur Form. Nicht zur Förmlichkeit. Es geht sicherlich nicht um die Durchsetzung dominanter Formen, nicht um einen verbindlichen Kanon der Formen, und schon gar nicht um die Vorschrift eines allein positiv bewertbaren Zusammenhangs der gestalteten Dinge. Es geht also nicht um einen allein verbindlichen Stil.

Vielmehr soll Bekenntnis zur Form bedeuten: Ich bin mir der Bedeutung der Gestaltung bewußt und drücke das durch die Wahl der Form, Farben und Materialien aus, mit denen ich meine Lebensumgebung gestalte. Bekenntnis zur Form soll heißen: Ich zeige, daß ich an der Diskussion um die Lebensqualität bewußt teilnehme und aus ihr auch Konsequenzen ziehe, im Hinblick nämlich auf das Material, seine Gewinnung und Verarbeitung - im Hinblick auf die Einflüsse, die Formen und Farben auch dann auf jedermann haben, wenn er sich vermeintlich unbeeindruckbar durch ästhetische Qualitäten zeigt.

Gestaltungen können krank machen, das ist erwiesen. Also kann man mit ihnen auch das Gegenteil erreichen. Bekenntnis zur Form heißt dann eben: Ich beteilige mich an der Erneuerung unserer Lebensumgebung, indem ich mich bewußt auf die Wirkungen von Formen und Farben einlasse. Indem ich meine bisherigen Reaktionsschemata, meinen Geschmack in Frage zu stellen bereit bin, um mich durch Formen und Farben zu anderen Haltungen und Verhaltensweisen anregen zu lassen.

Daß wir alle als Gestalter und Vermittler, Produzenten, Handel und Publikum dabei eben auch den angedeuteten Axiomen, Mechanismen und Prinzipien unterliegen, soll nur noch einmal vorsichtshalber in Erinnerung gerufen werden.

Die Zukunft ist kein Phantom. Wir können uns entscheiden, wenn wir das nur hinreichend dringlich wollen. Wir sind selbst am Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophetie beteiligt, und es hängt doch eben erheblich von uns ab, ob die Zukunft so wird, wie wir sie erhoffen, oder so, wie wir sie befürchten. Der Zeitgeist fordert die Einsicht, daß rein kommerzieller Erfolg nicht das alleinige, ja vielleicht nicht einmal das entscheidende Kriterium eines sinnvollen Handels und auch Handelns ist.

Um welche ideellen Werte geht es speziell im Handel mit gestalteten Produkten, für die ihre Gestaltung eben das entscheidende Charakteristikum sein sollte? Eben um die Wirkung von Formen, Farben und Materialien. Um ästhetische Werte also, um kulturelle Werte. Alle Objekte, auch die kommerziell vermittelten Produkte, sind nicht um ihrer selbst willen hervorgebracht worden. Sie haben vielmehr eine Rolle im Aufbau und in der Ausformung von Beziehungen der Menschen untereinander zu übernehmen. Nicht nur erhalten kleine Geschenke die freundschaftlichen Beziehungen; über Objekte aller Art werden diese Beziehungen in jedem Fall erst einmal aufgebaut werden müssen. Und was sind diese Beziehungen? Nichts als das, worüber man gemeinsam sprechen kann. Jawohl.

Jeder weiß das! Wenn er etwas als interessant empfindet, dann meint er, daß dieses interessante Objekt Gesprächsstoff liefert. Wir Ästhetiker nennen das Thematisierungen. Diese spezifischen Gestaltungen von Produkten wie Materialien, Farben und Formen, von Objekten allgemein, favorisieren gewisse Themen. Legen uns bestimmte Anknüpfungspunkte für unsere Kommunikation mit anderen nahe.

Spülmaschinenfestes Hartporzellan mit Qualitätszertifikat ist eine solche Thematisierung. »Wissen Sie eigentlich, daß es inzwischen spülmaschinenfestes Hartporzellan gibt? Huch, das ist ja doll!«, das war einst eine der beliebtesten Thematisierungen des Materials. Hingegen spielte die Frage, ob das Porzellan spülmaschinenfest war oder nicht, keine so große Rolle, wenn sich die lieben Menschen darüber unterhielten, warum Herr X wohl seiner Frau ein paar Teller vor die Füße geknallt hat. Aber auch das war schließlich eine Thematisierung.

Und daß der Modemacher Lagerfeld auf einer Versteigerung in New York für Art-Deco-Geschirr der Endzwanziger Jahre $ 60000 zahlte, ist eine andere Thematisierung. Wir sollten aber viel besser lernen, etwa die Sprache der Formen zum Gegenstand unserer Kommunikation mit anderen zu machen - sollten dabei der psychologischen Dimension der Farben mehr Aufmerksamkeit schenken, indem wir über sie zu reden lernen. Es ist nämlich ein ganz oberflächlicher Vorwurf, eine ganz oberflächliche Kritik, elwa einem Gastgeber vorzuwerfen, er habe sich etwas Auffälliges, noch dazu ziemlich Teures nur zugelegt, damit seine Gäste darüber sprechen. Ganz recht, darum geht es!

Der Unterschied zwischen Partygewäsch und persönlicher Stellungnahme ist ohnehin allen bewußt. Aber zu Gestaltungsproblemen Stellung nehmen zu können, das verlangt Training der Sensibilität der Wahrnehmung, Unterscheidungsvermögen. Und diese Fähigkeit muß sich dann nur in den seltensten Fällen durch Verwendung von Fachvokabular ausweisen. Es gibt ein erstaunlich einfaches Kriterium für die Gestaltungsqualität von Produkten, nämlich die Frage, ob Ihnen zum Produkt viel einfällt oder eher weniger als nichts. Je mehr Ihnen einfällt, was am Produkt interessant auffällt, desto leistungsfähiger ist das Objekt als Medium der Kommunikation. Und daran bemißt sich sein ästhetischer Wert.

siehe auch: