Radiobeitrag Deutschlandfunk Kultur

Erschienen
05.05.2018, 07:40 Uhr

Station
Deutschlandfunk Kultur

Sendung
Interview

Length
9 min

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Die 68er-Bewegung – „Die erfolgreichste Generation aller Zeiten“

Bazon Brock im Gespräch mit Ute Welty

Alles, was die 68er-Generation forderte, sei mittlerweile in Erfüllung gegangen, sagt Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik. Es habe sich aber tatsächlich ohne deren eigenes Zutun verwirklicht. "Das ist in der Weltgeschichte noch nie vorgekommen."

Ute Welty: Die documenta 4, die 1968 stattfand, hatte es in sich. Die Eröffnungspressekonferenz wurde von Künstlern wie Jörg Immendorff oder Wolf Vostell massiv gestört, zu viel Popart, zu wenig aktuelle Kunst, das war ihre Botschaft. Auf der documenta 4 richtete Bazon Brock eine Besucherschule ein, die sollte das Verständnis für Kunstbetrachtung nahebringen und Aneigungstechniken für zeitgenössische Kunst vermitteln. Später wurde Brock Professor für Ästhetik an der Bergischen Universität in Wuppertal. Ich wollte von ihm wissen, wie er die Ästhetik beschreiben möchte, die typisch ist für 1968.

Bazon Brock: Zum ersten Mal übernimmt die Werbung die ästhetische Avantgarde-Funktion. Denken Sie nur an die Pop Art, die ist immer noch die wesentliche Darstellungsweise der 60er-Jahre, die in den 68ern eine große Rolle spielt.
Auch bei den politisch Orientierten kann ich mich genau erinnern, dass etwa Wolf Vostell, der großartige Wuppertaler und Berliner Künstler auf der Schnittstelle zwischen Grafikpropaganda – er hatte ja in Wuppertal Propagandagrafik studiert – und andererseits Malerei, wie Rauschenberg sie betrieb, dass dieser Wolf Vostell neben den Politdemonstrationen herging und laut rief: Das könnt ihr nicht machen, das ist urheberrechtlich geschützt, das ist von mir erfunden!

Die Studentenbewegung und das Happening-Theater

Gerade die Studentenbewegung hat sich ausschließlich in Formen des Aktionismus des Happening-Theaters bedient. Kunzelmann oder Teufel, der eine im Hinblick auf die Kommune eins und das, was sich dann mit Langhans und Uschi Obermaier et c. ergeben hat für die Allgemeine Bürgerei, und auf der anderen Seite eben die unglaublich zynische Aufklärungsdynamik, Entstellung bis zur Kenntlichkeit, was Fritz Teufel vor Gericht betrieben hat, seine sagenhafte Auslegung der Aufforderung des Gerichtspräsidenten: Stehen Sie bitte auf, und er sagt, wenn's der Wahrheit dient, dann tu ich das. Alles aus dem Happening, alles aus Aktionsstücken übernommen.

Welty: Was ist davon geblieben?

Brock: Alles ist davon geblieben, und zwar ohne das Zutun der 68er. Das ist ja das Fantastische. Die 68er haben selber nichts vermocht, aber alles, was sie gewollt haben, ist in Erfüllung gegangen.
Auf den höchsten Ebenen der Zielsetzung: Schwächung der Sowjetunion im Ost-West-Konflikt, ist umgeschlagen in Schwächung der USA, das war das Ziel der 68er. USA sollte im West-Ost-Konflikt gegenüber Russland verlieren. China sollte zur führenden Weltmacht des Kommunismus aufsteigen, das ist bereits gelungen.

Die Globalisierung sollte alle regionalen, nationalistischen Tendenzen korrigieren, ist gelungen. Und so fort. Mit anderen Worten: Alles, was die 68er auf der Ebene der Politpropaganda, der Politästhetik, der Warenästhetik, der Kostümästhetik, der Unterhaltungsästhetik durchgesetzt haben, hat sich tatsächlich ohne deren eigenes Zutun verwirklicht.

"Es wurde alles dem Warenwert untergeordnet"

Das ist doch wirklich in der Weltgeschichte noch nie vorgekommen, dass sich Ziele verwirklicht haben, ohne dass diejenigen, die sie formulierten, irgendetwas Produktives dazu beigetragen haben. Sie haben selber keine Produktion abgeliefert, es gibt ja keine übriggebliebene, in Museen gezeigte – außer lächerliche Beispiele –, es gibt keine großen Beispiele für gelungene Politdemonstrationen im Ästhetischen, in der Kommunikation et c., aber alles, was sie wollten, ist tatsächlich verwirklicht. Die 68er sind die erfolgreichste Generation aller Zeiten.

Welty: Inwieweit hat sich inzwischen die Einstellung aller Beteiligten zu Kunst und Kultur verändert, auch im Hinblick auf Alltag und Ästhetik?

Brock: Im Hinblick darauf, dass das alles keine Bedeutung mehr hat. Das heißt, es wurde alles dem Warenwert untergeordnet, damit verschlissen sich sämtliche Behauptungsformen. Es war sozusagen alles bedeutungslos geworden.
Das ist eine kontraproduktive Tendenz, denn wenn die Warenpropaganda mit den Begriffen "Glück" oder "Friede" oder "Freude" für Schokolade oder Potenzmittel oder Getränke aufwartet, werden alle Begriffe, mit denen wir menschheitlich, humanistisch kommunizieren, zu Schanden gemacht. Die Propaganda, die Politpropaganda, die Politik und die Kirche haben die allerletzten Reste der großen humanistischen Tradition der Begriffsführung zu Schanden gemacht. Es gibt nichts mehr, womit man irgendwas kennzeichnen kann.

"Die Grundlage für die Ästhetik ist immer eine Ethik"

Die Reaktion darauf ist nicht nur reaktionär, die Rechtsbewegung, die neue nationalistische Bewegung etc. versuchen krampfhaft, die alten Begriffe aus der Kiste wieder rauszuholen und zu beleben. Das wird aber keinen Erfolg haben, weil die Konfrontation aus dem rückwärts gerichteten Durchsetzungsappell selbstzerstörerisch ist. Wenn sie Erfolg hat, ist sie am selbstzerstörerischsten. Hitler hatte so großen Erfolg, dass er sich selbst zerstört hat, Stalin hatte einen so totalen Erfolg, dass er sich selbst zerstört hat, die USA hatten einen so totalen Erfolg, dass sie sich selbst zerstörten. Das wird überall das Gleiche sein in der Weltgeschichte.
Jetzt gilt es – und zwar nicht nur im Hinblick auf das neue Medium der IT-Technologien –, neue Verbindlichkeiten in der Kommunikation von Menschen aufzubauen. Alle sagen, die Grundlage für die Ästhetik sei immer eine Ethik. Die Grundlage für jedes Geschäft ist das Vertrauen. Wir müssen also Ethiken, die Vertrauen stiften, wieder einführen. Das ist der Tenor überall, wo Sie hinhören. Und die Frage ist: Wer geht voran?

Der wahre Kapitalismus als Utopie

Welty: Wer geht denn da voran?

Brock: Das kann ich Ihnen genau sagen. Die einzige Utopie im eigentlichen Sinne eines Vorhabens ist der wahre Kapitalismus. Denn bisher ist Kapitalismus nur als Ideologie durchgesetzt. So wie der Sozialismus im Ostblock nur als Ideologie bestand, so gilt bei uns Kapitalismus nur als Ideologie. Wir haben noch nie einen Kapitalisten gesehen.
Die Kapitalisten leben der Konstruktion, der Idee nach von dem Marktmechanismus. Der liebe Gott des Kapitalismus ist der Markt. Aber haben Sie schon einmal einen Markt in Funktion gesehen? Nein! Er ist durch Subvention, durch Machteinfluss der Lobbys vollkommen deformiert. Die Agrarwirtschaft wird subventioniert, der Airbus wird subventioniert, die Kampfmaschinerien auf allen Ebenen der Lobbyisten für die industrielle Sektion, alles ist durch Lobbyismus, durch Protektionismus, durch Subventionismus zerstört.
Es gibt keinen Markt. Und ich setze darauf, dass diese Installation der neuen göttlichen Autorität des Marktes tatsächlich auch eine entsprechend andere Ästhetik durchsetzen wird.

"Diese Ästhetik ist die der Askese"

Welty: Die dann wie aussieht?

Brock: Diese Ästhetik ist die der Askese. Wir hatten in der Moderne schon einmal den Spruch "Less is more", also "Weniger ist mehr". Reductio, also Reduktion ist wahrer Luxus. Warum? Wenn Sie heute luxurieren, indem Sie nur das Teuerste kaufen, sind Sie eben nicht, wie man früher dachte, ein Asozialer, der sich gegenüber den Billigprodukten der anderen Leute in die Ewigkeit einkauft, sondern er zeigt tatsächlich, was Ewigkeit wert ist.

Vom wahren Kapitalismus und goldenen Essstäbchen

Ich habe das vor 30 Jahren für die japanische Regierung mal durchgerechnet: Wenn man jedem Japaner zum dritten Lebensjahr ein Paar goldene Essstäbchen schenken würde, dann wäre das ökonomisch, ökologisch, in vielen Hinsichten, auch der Hygiene beispielsweise, der modernen Formgebung, extrem sinnvoll. Denn wenn jeder Japaner goldene Essstäbchen hätte, würde er die nicht wegwerfen, weil sie ja wertvoll sind. Jetzt nutzt er hölzerne Essstäbchen, die er nach jeder Mahlzeit, morgens, mittags und abends, wegwirft. Warum? Weil die Temperaturen der Außenwelt so viele Bakterien auf den Hölzern züchten, dass er sie nicht zweimal benutzen kann, er würde sich selbst schädigen. Also werfen die Leute die Stäbchen weg. Deswegen müssen unzählige Urwaldriesen in Südamerika abgeholzt werden, die bloß zu Essstäbchen verarbeitet werden.
Die Ästhetik des wahren Kapitalismus ist die Ästhetik der Dauerhaftigkeit, der Nachhaltigkeit, der Durchsetzungsfähigkeit, der tatsächlich auf Dauer angelegten Wertigkeiten in der Formgebung, in der Materialwahl. Das ist klar erkennbar.

Welty: Glauben Sie, dass die 68er damit einverstanden gewesen wären?

Brock: Ja, sie waren nur zu blöde, um unsere Argumente zu hören. Es ist ja gar nichts dagegen zu sagen, dass goldene Essstäbchen ökologisch das beste Mittel sind. Niemandem ist bisher eingefallen, die Abholzung der südamerikanischen Urwaldriesen zu verhindern. Der Verzicht auf die Verarbeitung zu Holzessstäbchen würde das ändern. Nur was kostbar ist, wird nicht weggeworfen. Wenn wir aber weiter Plastik produzieren, weiter Abfall produzieren, die Weltmeere und die Territorialbereiche vermüllen, dann leben wir bald nur noch auf der Müllhalde und sind selbst Müll.

Welty: Ästhetikprofessor Bazon Brock über die Ästhetik von 1968. Das Interview haben wir aus Termingründen aufgezeichnet.