Buch Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert

Convoco! Edition

Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert, Bild: Hrsg. von Corinne Michaela Flick. Göttingen: Wallstein, 2018. (Convoco! Edition).
Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert, Bild: Hrsg. von Corinne Michaela Flick. Göttingen: Wallstein, 2018. (Convoco! Edition).

Zur Debatte: Wie steht es um das Gemeinwohl?

In letzter Zeit scheint es, als verschwinde das Gemeinwohl als Leitprinzip unserer Gesellschaft. In einer Welt, in der Nationalismus stärker wird und auch die Gesellschaft in immer mehr Teile zerfällt, wird »Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert« zu einem brisanten Thema. Nicht nur sollte es wieder mehr in das Zentrum unserer Überlegungen rücken, wir sollten es auch neu überdenken. Gemeinwohl ist nicht einfach die Summe der Einzelinteressen, es ist ein Mehr und eine Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung. Nur so können wir all die Entwicklungen aufhalten, die aus einem »Wir« zunehmend ein »Ich« machen.
Die Beiträge des Bandes beleuchten das Gemeinwohl auf globaler und nationaler Ebene in seinen verschiedenen Facetten: die Beziehung von Gemeinwohl und Staat und die Rolle von Unternehmen bei der Schaffung von Gemeinwohl.

Mit Beiträgen u.a. von Udo Di Fabio, Clemens Fuest, Kai A. Konrad, Rudolf Mellinghoff, Timo Meynhardt, Stefan Oschmann, Christoph Paulus und Jörg Rocholl.

Die Stiftung Convoco
Eine Maxime von Convoco ist, heute Verantwortung für morgen zu übernehmen. Convoco will ein Bewusstsein schaffen für die sich ständig verändernde moderne Welt und die Herausforderungen, die sich dadurch für die Gesellschaft ergeben. Convoco bietet Plattformen, auf denen Fragen des künftigen Miteinanders in einer immer stärker vernetzten Welt diskutiert werden.

Erschienen
01.01.2018

Herausgeber
Flick, Corinne Michaela

Verlag
Wallstein

Erscheinungsort
Göttingen, Deutschland

ISBN
978-3-8353-3231-7

Umfang
226 Seiten

Einband
Festeinband

Seite 43 im Original

Eine schöne Bescherung

Die Orientierung auf das Gemeinwohl verlangt die Kennzeichnung der Gemeinschaften, deren Wohl zu befördern sei: Gemeinschaftsbildungen, wie sie die Anthropologen den tribes zusprechen oder den Gemeinden im Sinne des Paulus oder dem Bürgertum in der europäischen Stadtentwicklung oder den Modellen des Staats und der Staaten, wie sie Hegel als absoluten Geist, als sterblichen Gott auffasste. (Dass die Götter der Ägypter, der Assyrer, der Perser, der Hethiter, der Griechen und Römer starben, ist bedeutsamer als ihr In-die-Welt-Treten.)

Das Gemeinwohl der Gläubigen, nicht nur der paulinischen Gemeinde, zielt auf den Geltungsanspruch der eigenen Religion, den durchzusetzen und zu bestärken jeder zum Opfer des eigenen Lebens aufgefordert ist, denn das Leben ist der Güter höchstes nicht, sondern das Nachleben.

Das Gemeinwohl der Burger, die im Schutzschatten eines Burgherrn lebten, ist der Erhalt dieses Schutzraums, Schutz vor der Willkür des wegelagernden Privatfeudalismus (heute Kapitalismus), denn das Gemeinwohl gilt der Durchsetzung eines Rechts, dem sich alle Bürger in ihrer Lebenssphäre zu unterwerfen haben. Das schafft Freiheit für alle in der Anerkennung und Durchsetzung des Rechts gegen und für alle. So machte Stadtluft frei – heute ist dieses Verständnis von Freiheit noch in der allgemeinen Anerkennung von Verkehrsregeln vermittelt, denn die Einhaltung dieser Regeln ermöglicht erst die freie Nutzung der Straßen.

Das Gemeinwohl der Stammesangehörigen und Gläubigen ist also das, wofür man sein Leben zu opfern bereit ist.

Das Gemeinwohl der Bürger bedeutet Freiheit aller Bürger.

Das Gemeinwohl der als Staat organisierten »Nation« (mittelalterlich »Landsmannschaft«), die ihrerseits alle Gemeinschaften auf ihrem Territorium umfasst, gilt dem vorbehaltlosen Einsatz im Dienst gegen die zerstörerische Kraft der Zeit, gegen die Furie des Verschwindens. Es galt und gilt, Ewigkeit, mindestens Tausendjährigkeit, zu erzwingen durch Größe, Macht und Herrlichkeit.

Das Gemeinwohl der vereinigten Nationen ist der Erhalt der Menschheit gegen den blinden Aktionismus der Evolution. Deren fehlgeschlagene Versuche steigern das Staunen über das gegenwärtig Erreichte, nämlich das Staunen über die Macht des Geistes, der Metaphysik im ziellosen Walten der Naturgesetze.

Gemeinwohl wird also beschrieben
1. als evolutionärer Fitness-Vorteil durch Todesbereitschaft, um dadurch erinnerungsfähig zu werden, und das heißt, zu einem Beispiel für die Anerkennung der Behauptung: Deine Gemeinschaft ist alles durch deine Bereitschaft, dein Leben dranzugeben;
2. als die Sicherung der Freiheit der Bürger unter der Herrschaft des gleichen Rechts für alle und gegen alle;
3. als Dienst an der transgenerationalen Garantie von Dauer, um der Logik der Sinnlosigkeit von Schöpfung als Zerstörung, der vermeintlich schöpferischen Zerstörung zu entgehen in der Erzwingung von Ewigkeit (Institutionen wie Museen, Archive, Hermeneutik des Konservatismus, Monumentpathetik und Garantie der Dauer am Beispiel der Friedhöfe und der Verfassung, GG Artikel 79,3 oder Übernahme von »Ewigkeitskosten« etc.).

In summa: Gemeinwohl ist also heute das, was den Angehörigen einer Gemeinschaft Freiheit zur Ausbildung von Individualität zuspricht oder rechtsstaatlich gerade ermöglicht, die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen ohne Auslöschungskonkurrenz zu leben. Das heißt, das Gemeinwohl gilt der Herausbildung, der Erziehung und Förderung von Individualität. Das ist weder dialektische Spielerei noch Paradoxenreiterei, denn Identität, also das den Mitgliedern einer Gemeinschaft Gemeinsame lässt sich nur gewinnen durch die Anerkennung derer, von denen man sich unterscheiden will. Identitätsbildung als Ziel der Bildung und Förderung bedeutet ganz gegen herkömmliche Bestimmung von Außerordentlichkeit oder Überlegenheit geradezu die permanente Verpflichtung und Würdigung des und der Anderen, denn nur dadurch ist die je Einmaligkeit der sich Unterscheidenden möglich.

Erfolgreiche Gemeinschaften sind entweder Zusammenschlüsse von Todesbereiten oder von hoch entwickelten Individuen, die sich kraft ihrer Autonomie gemeinsamen Aufgaben verpflichten fühlen. Natürliche Zwangsgemeinschaften sind instabil durch mangelnde Fähigkeit, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Jeder Mensch wird zunächst in solchen Zwangsgemeinschaften, genannt Kulturen, sozialisiert. Ab einem bestimmten Niveau seiner Entwicklung wird aber die Identität des Kollektivs das Individuum nicht mehr zu tragen vermögen, wenn es die Logik des Untergangs rigider Gemeinschaften zu erkennen vermag und dann aufgrund seiner durch Individualität erworbenen besseren Kenntnisse die Gemeinschaft zu Veränderungen im Namen der Sicherung des Gemeinwohls, nämlich des Überlebens der Gemeinschaft nötigt. Die entfalteten Individuen müssen also ihre Herkunftskulturen hintanstellen, wenn sie zum Beispiel als Wissenschaftler und Künstler jene Erkenntnisse zu erwerben versuchen, die zum Blick von außen auf die eigene Gemeinschaft/Kultur qualifizieren. Seit 1400 war es das Alleinstellungsmerkmal der Europäer, Naturphilosophie, heute also Naturwissenschaften, und die septem artes liberales, heute die Künste, nicht mehr als Stammesangehöriger oder Angehöriger einer bestimmten Kultur betreiben zu sollen und zu können, denn Chemie betrieb und betreibt man, sei es als Apotheker oder Goldmacher oder Chemieingenieur, nicht als Jude, Chinese oder Arier, sondern eben als Chemiker, das heißt also in neuen Gemeinschaften der universalen Zivilisation und nicht mehr der lokalen Kulturen. Das so verfolgte Gemeinwohl der Menschheit als eines zufälligen und deswegen höchst labilen Produkts der Evolution ist auf Wahrheit als Grundlage der Bewältigung der Lebensanstrengungen (Linderung des Schmerzes, Minderung der Arbeitslast, Verhinderung des natürlichen, auch tödlichen Kampfes um die knappen Ressourcen) ausgerichtet.

Die grundgesetzliche Vorgabe, alles, auch das Eigentum sei nur durch Verpflichtung auf das Gemeinwohl gerechtfertigt, besagt also, dass nur im Supremat des Gemeinwohls das Glücksstreben der Individuen erfolgreich sein kann: Das größte Glück der größten Zahl nannte das bereits Jeremy Bentham. Dabei bewirkt der allseitige Egoismus nicht bedingungslos die Entstehung des altruistischen Kollektivs, wie es die erste Generation der klassischen Nationalökonomen noch annahm. Es bedarf der Durchsetzung von Regeln, unter denen sich der Egoismus entfalten kann, ohne die Auslöschung der schwächeren durch die radikaleren Egoisten zu riskieren, denn das bedeutete das Ende des Strebens nach Glück für alle, wäre also kontraproduktive Zerstörung. Von alters her, sozusagen logischer- wie natürlicherweise, gilt Demokratie als Garant der Aufrechterhaltung des Strebens nach Glück, das heißt nach sinnhaftem Leben in der alltäglichen Erfüllung der Pflicht, dem Recht gegen alle und für alle zur Geltung zu verhelfen. Das bezeichnete die Pflicht, gerecht zu sein. In Demokratien und Rechtsstaaten ist demzufolge Gemeinwohl die alles umfassende Verpflichtung auf Gerechtigkeit.

Wie weit diese Ahnung aller Rechtdenkenden in unserer Gegenwart entschwunden ist, zeigen die banalsten Alltagsaffären: In beinahe jedem, selbst dem teuersten Speiselokal wird der Gast rücksichtsloser musikalischer Beschallung unterworfen. Auf entsprechende Bitten, dieses Übel abzustellen oder wenigstens zu mindern, erhält man die Antwort, die anderen Gäste wünschten diese musikalische Behübschung. So bald die anderen Gäste das verneinen, verweist das Personal auf Anordnung des Chefs, jeder Gast habe das hinzunehmen, auch wenn er glaubt, durch seinen Aufwand für das Essen die Existenz des Lokals überhaupt zu sichern. In Kaufhausetagen dröhnen gleichzeitig aus jeder Boutique eigene Musikprogramme, von denen die Musikpsychologie behauptet, sie mache die Kunden willenlos, das heißt verführbar zum Kauf. Der Direktor eines Chemiewerks rechtfertigt den Konsum des bedenklichen Uferfiltrats in der Nähe der Industriegelände als Trinkwasser durch Verweis auf seine eigene Familie, die auch dieses Wasser konsumieren müsse, wenn sie dort wohnte. Kurz, die kafkaeske Vision der Gerechtigkeit als Willkür der Macht, die alle trifft, scheint selbst für höchstrangige Rechtsprechung maßgeblich geworden zu sein. Eine schöne Bestätigung der menschheitlichen Hoffnung, dass das Gemeinwohl als Gerechtigkeit siegen wird.