Buch Mauern der Freiheit

Lissabons vergessene Bilder und der Aufschrei heute

Mauern der Freiheit., Bild: Hrsg. von Karl-Eckhard Carius und Virato Soromenho-Marques. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2014..
Mauern der Freiheit., Bild: Hrsg. von Karl-Eckhard Carius und Virato Soromenho-Marques. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2014..

Erschienen
01.01.2014

Herausgeber
Carius, Karl-Eckhard | Soromenho-Marques, Virato

Verlag
Westfälisches Dampfboot

Erscheinungsort
Münster, Deutschland

ISBN
978-3-89691-957-1

Umfang
172 S.

Seite 161 im Original

Zur Arbeit an unlösbaren Problemen

Allgemeines Kopfschütteln von selbstgewissen Fortschrittsgläubigen erntete Bazon Brock 1990, als er prognostizierte, dass die Menschen in den Ballungszentren der Welt zukünftig nicht mehr ihre kulturelle Identität (religiöse Überzeugungen, Sprachgemeinschaft, Verhaltenskodex und Wertevorstellungen) behaupten könnten, um durch sie ihre Gemeinschaft zu festigen. Das einzige, was Menschen in Zukunft gemeinsam haben würden, sei die Konfrontation mit prinzipiell unlösbaren Problemen.

Zum einen, so Brock, machen etwa Weltklimaveränderungen nicht an den Grenzen kulturell definierter Lebensräume halt; zum anderen führen die Bemühungen um Problemlösungen – etwa in der Forschung – zu immer neuen Problemen, sodass sich durch Erweiterung des Wissens vor allem die enorme Vergrößerung des Nichtwissens ergibt. Wissenschaften oder generell Expertentätigkeiten erzeugen gerade dort Probleme, wo sie die Bürger nicht einmal vermuten können.

Wären Probleme lösbar, müsste man sie nicht ernst nehmen. Probleme sind Zumutungen der Wirklichkeit, wenn sie nicht lösbar sind.

Immer noch rühmen sich Politiker ihrer „Problemlösungskompetenz“, die sich auch gerne Banker, Unternehmer und Professoren zugute halten. Dabei sollte seit Fukushima und den gescheiterten Versuchen, die Retter der Euro-Retter zu retten, jedermann klar sein, dass von Menschen auf Erden Probleme nur durch das Schaffen neuer Probleme „gelöst“ werden können.

Die pragmatische Sanktion, Problemlösungen durch Problemschaffen nur dann anzuerkennen, wenn die Nachfolgeprobleme kleiner sind als das Ausgangsproblem (Brock 1986), wurde mit der Behauptung außer Kraft gesetzt, die Weltverhältnisse seien so wahnsinnig komplex geworden, d.h. die Wechselwirkungen der Handlungsfolgen seien nicht mehr erfassbar.

Wer auf Vernunft und Verantwortung besteht, wird zu dem Schluss kommen, dass wir schleunigst umzustellen haben vom Pathos der allmächtigen Moderne, vermeintlich alle Probleme der Menschheitsentwicklung lösen zu können, auf die Fähigkeit, mit prinzipiell unlösbaren Problemen sinnvoll umgehen zu lernen. Beispiele dafür boten immer schon Medizin, Theologie, Psychologie, Technikfolgenabschätzung sowie die bildenden und darstellenden Künste:

Der Mediziner weiß, dass nicht er heilt, sondern die Natur. Er verpflichtet sich vielmehr der kuratorischen Anstrengung, den Kranken optimal beim Umgang mit seinem Leiden anzuleiten.
Die Theologen versuchten, den natürlichen Glaubensfundamentalismus zu bändigen, indem sie zeigten, dass Glauben eben nicht heißt, mit Gott ein Tauschgeschäft zu vereinbaren: Brandopfer gegen Gnade oder bedingungslose Unterwerfung für Auserwähltheit. Glauben heißt gerade, die Kraft zu haben, dem Zweifel und der permanenten Versuchung zur dogmatischen Gewissheit standzuhalten.

Psychologen erkannten den Verlust des Wirklichkeitssinns durch Allmachtsphantasien von Tätertypen aller Handlungsfelder. Zur heilenden Selbsterkenntnis führt das Einverständnis mit der je eigenen Beschränktheit in Wissen, Können und Haben.

Die Dramatiker vermittelten den Zuschauern (sie heißen im griechischen Theater „Theoretiker") die Fähigkeit, einzelne Sachverhalte und Handlungen in Zusammenhängen zu sehen, die als sinnvoll empfunden werden konnten. So entstand die Verpflichtung auf biografische Entwürfe, deren Befolgung ihre Leistungsfähigkeit für die Bewältigung der Komplementarität von Erfolg und Scheitern, Leben und Sterben, Rationalität und Irrationalität, Faktizität und Kontrafaktizität oder Kalkül und Liebe veranschaulicht.

Philosophen lehrten allerdings nur die Unlösbarkeit von Problemen des Denkens, indem sie Paradoxa beschrieben und Begriffstäuschungen analog zu den Sinnestäuschungen untersuchten. Auffällig ist, dass nur wenige von ihnen sich den Gewalten der Wahnbilder des Krieges oder denen der Mutwilligkeit im Trotz stellten – also dem Problem, dass Erkenntnis selten zur Einsicht führt.

In jüngster Zeit wird immerhin die Technikfolgenabschätzung weitestgehend für sinnvoll gehalten. Per Gesetz sind auch akademisch nicht vorgebildete Bürger seit 20 Jahren dazu verpflichtet, zu wissen, dass jedes Heilmittel Risiken und Nebenwirkungen birgt. Aber die Wechselwirkung der Nebenwirkungen gleichzeitig verordneter Heilmittel bleibt weitestgehend unbekannt und die Technikfolgenabschätzung zeigt, dass die ernsthaften Folgen gerade nicht abschätzbar sind.

Walten wir also unseres Amtes, indem wir von der Euro-Krise oder der Endlagerungskrise bis zu den Sinnkrisen der Lebensführung jeweils zeigen, wie man angemessen Probleme bemeistern kann, anstatt sie mit immer höherem Einsatz aus der Welt schaffen zu wollen.

Dafür ein Beispiel aus unserer bisherigen Arbeit: Seit Jahrzehnten bemühen sich alle an der atomaren Energieerzeugung Beteiligten, die Endlagerung für atomar strahlenden Müll an entlegenen Weltorten durchzusetzen. Das Abkippen des Mülls in die Unsichtbarkeit, um sich des Problems zu entledigen, verfehlt die Verpflichtung auf Verantwortung für die Folgen unserer Handlungen. Die Folgen der atomaren Energiewirtschaft orientieren uns auf Zeitdimensionen, die bisher selbst die ältesten Kulturen der Welt nicht annähernd erreichten. Was sind Behauptungen, die jüdische oder die chinesische Kultur hätten 4000 Jahre kontinuierliche Orientierung auf Dauer und Ewigkeit erreicht, im Vergleich zu den dreißigtausend oder vierzigtausend Jahren Strahlungskontinuum des radioaktiven Abfalls mittlerer Stärke, vor dem wir das Leben bewahren müssen? Alle Behauptungen von Werterelativismus oder praktikabler Beliebigkeit des „anything goes“ werden durch unsere Verpflichtung, für das Containment des strahlenden Mülls auf alle Ewigkeit Vorsorge treffen zu müssen, eindeutig widerlegt. Dem Dienst an der Ewigkeit kann sich niemand entziehen, denn die Wirkung der Strahlung ist keine Glaubensfrage wie sie die Kulturen in den Mittelpunkt ihrer Gottesdienste stellen. Wie keine Kultur zuvor sind wir heute auf Verbindlichkeit im Dienst an der Zukunft festgelegt. Also sollten wir der Kraft, die uns zur ausnahmslosen Orientierung auf Ewigkeit zwingt, in unseren Städten Kultstätten bauen wie sie die tradierten Kulturen mit ihren Tempeln, Synagogen, Kathedralen oder Moscheen realisierten.

Wenn in den Lebenszentren Kathedralen für den strahlenden Müll errichtet werden könnten, würde das Bewusstsein der Zeitgenossen für ihre Verpflichtung auf den Ewigkeitsdienst rapide ansteigen – mit der Konsequenz, dass das Gerede über Freiheit als demonstrierte Beliebigkeit verstummte.

siehe auch: