Vortrag / Rede De-konstruktiv : Bilder aus dem wirklichen Leben

Anna & Bernhard Blume

(Auszüge* eines Vortrags anlässlich der Ausstellung „de-konstruktiv“ im Haus Konstruktiv, Zürich, 22. November 2007 - 17. Februar 2008)

Termin
2007

Veranstaltungsort
Zürich, Schweiz

Giganten in der Rehabilitation - Dekonstruktivismus als Manierismus unserer Tage

Auszüge

Ja, meine Damen und Herren, wir befinden uns hier im unteren großen Saal des Züricher Museums ‚Haus Konstruktiv’ inmitten einer neuen und, wie ich erfahren habe, eigens für dieses Museum zwischen 2004 und 2006 konzipierten und realisierten Installation der Künstler Anna & Bernhard Blume. An den zwei Längswänden dieses Saales, jeweils zweigeteilt durch diese beiden Türen, haben wir also einen insgesamt 18-teiligen, eindrücklich monumentalen Bilderzyklus, je Einzelbild ca. in den Maßen 2,60 m x 1,70 m, welcher Zyklus, wie ich gleich ausführen möchte, uns heute Abend erstaunliche Assoziationen ermöglichen wird. Um aber zunächst beim Konstatieren des hier Vorfindlichen zu bleiben: Den vier Teil-Sequenzen dieses Bilderzyklus an den Wänden korrespondieren am Boden liegend noch diese beiden langen, minimalistischen Konstrukte dialog in den Raum gestellt. „Quasi-SoLewitts aus billigem Material“ (SoLewitt für arme Schulen), wie die Künstler die beiden großen Konstrukte aus Pappe und Schaumeinlage kennzeichnen. Dem Insgesamt ihrer Ausstellung in diesem Museum Haus Konstruktiv verpassten sie den offenbar didaktisch gemünzten Titel „de-konstruktiv“, um auf die Sammlung und Bestimmung des Museums vielleicht schon im Titel zu antworten. Nun, auf unserem Streifzug durch das ‚Geisterreich der Ikonographie’, des kollektiven Bildbesitz als Vorstellung, befinden wir uns mit diesem Bilderzyklus von Anna & Bernhard Blume im Kontext der erstaunlichen Neufassung eines frühbarocken Freskenzyklus. Gemeint ist das Fresco „Sturz der Giganten“ (1525-35) von Giulio Romano in seiner Mantuaner Meisterarchitektur Palazzo del Té ausgeführt. Sie sehen bei Blumes gewissermaßen einen Reflex auf dieses Motiv, nicht allerdings, weil Anna & Bernhard Blume sich bemüht hätten, historistisch etwas aufzunehmen, was in Vergessenheit geraten wäre oder nur noch als touristische Attraktion gefeiert würde, sondern weil sich in dieser Arbeit die Logik einer Entwicklung als Umsturz auftut.

Bei Giulio Romano war es nach 1520 der Tod von Raffael und natürlich die manieristische Revolution, die sich mit Pontormo und anderen Raffael-Schülern dann noch weit über Romanos Einfluss hinaus entwickelt hat. Damals ging es um die Frage, auf welche Weise man eigentlich Epochenumbrüche darstellen kann. Wie reagiert der Künstler, dem man so viel Antizipationskraft zuspricht, dass er schon im Voraus wisse, was sich in der Zeit bewegen wird. Wie bringt er dieses Sensorium zur Geltung, und wie erhält man die Möglichkeit, so etwas Generelles wie den Übergang aus dem raffaelesken in den manieristischen Stil erfahrbar zu machen?

Vasari weist in seiner Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen Darstellung der Einheit von Künstlerleben und Künstlerwerk auf die Kraft zu solchen Brüchen, Umbrüchen, zu solchen Gigantentaten hin, die den Ruhm der Künstler ausmachen. Der führende deutsche Kunsthistoriker Martin Warnke hat diese Permanenz der Umbrüche entsprechend dem Goethischen Vorbild, die einzige Dauer sei der Wechsel, zu der raffinierten Konzeption geführt: erst die Brüche begründen ein Bewusstsein von Kontinuität, dass sich ohne die Umbrüche gar nicht herausbilden würde. Manierismus ist der Name für eine solche Kontinuität durch programmierten Umbruch. Mit einer derartigen Konstellation beschäftigen sich die Blumes, also mit dem Problem des Manierismus wie mehr oder weniger alle Performer, Environementalisten, Popmusiker, Lebensreformer, Kunstpädagogen und -therapeuten. Als gültigen Zusammenhang (Kontinuität) setzt man die Beziehung zwischen Soma und Psyche, zwischen Leib und Geist, zwischen Hirn und seinem physischen Trägermedium.

Seit alters wird allgemein angenommen, dass eine geistige, seelische Bewegung zu einem körperlichern Ausdruck führt. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, d.h. was jemand innerlich bewegt, findet mehr oder weniger spontanen Ausdruck in seinen körperlichen Verhalten. So meinte man etwa auch, dass psychische Störungen zu Erkrankungen des Körpers führen können, die so genannte Psychosomatische Erkrankung.

Seit des manieristischen Umsturzes entwickelte sich eine Gegenbewegung: die somato-psychische Erkrankung – soll heißen körperliche Befindlichkeiten haben einen unmittelbaren Einfluss auf seelisch-geistige Leistungsfähigkeit und Stabilität. Sprichwörtlich hieß es, Müßiggang ist aller Laster Anfang, körperliche Trägheit durch Genusssucht, erzeugte Fettleibigkeit führen zu ähnlichen psychischen Zuständen; diese Beschädigung des seelisch-geistigen Vermögens durch Schädigung des Körpers galt gar als eine Erzsünde.

Seit der Entstehung der antiken Gymnasialerziehung war das Bestreben zur gleichmäßigen Entwicklung von geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten eine Garantie für die Balance zwischen seelischen und leiblichen Dynamiken. Diese Balance kann verloren gehen, wenn man wie Luther den Körper einen wertlosen, stinkenden Madensack nennt, auf den die strahlende glaubensenergetisch angetriebene Seele und ihr Geist keinerlei Rücksicht nehmen dürfen. Umgekehrt kann das stumpfsinnige Bodybuilding die seelischen und geistigen Entwicklungen weitgehend hemmen, weswegen man gegen Muskelprotze immer schon die Verdächtigung aussprach, so jemand habe wohl wenig Hirn.
Die manieristische Position innerhalb dieser Spannung von Leib und Seele wie von Geist und Körper entwickelt sich aus dem Gedanken, dass man durch ganz eigentümliche, vom natürlichen Schema abweichende Attitüden, Passepartout, die seelisch geistige Energie in spezifischer Weise ausrichten könne; also phantastische Positionierung und Ausführung körperlicher Bewegungsprogramme müssten auch zu phantastischen, bisher so nicht gekannte, innerpsychische Erlebnisse oder Gedankenproduktionen führen.

Im Kern bezeichnet der Manierismus den Entwurf von Körperschemata und ihre Entfaltung in der Bewegung, um unerwartete Ausprägung seelisch-geistiger Energien zu provozieren. Das wird als erreichbar vorausgesetzt, weil man Bewegung als Vermittlung der Beziehung zwischen Geist und Körper, Seele und Leib verstand. Leben ist Bewegung als immer erneut zu erreichende Einheit von Leib und Seele.

Inzwischen lässt sich auch im Detail nachweisen, wie es zu dieser Vermittlung von Psyche und Soma durch Bewegung kommt; im Wesentlichen als Belohnung des Gehirns für die Entwicklung körperlicher Bewegungsanstrengung durch Entwicklung von opiatartigen Stoffen, die ins Blut ausgeschüttet werden. Die Anstrengungslust ist gleichsam eine Prämie der Natur auf das Absolvieren Schmerz- und Angstbereitender Anstrengungen, um die überlebensdienlichen Schwerstarbeiten zu verrichten – sowie orgiastische Lust eine Prämie der Natur für arterhaltende Betätigung darstellt. Das Profil der historischen Entwicklungsschritte von Gesellschaften lässt sich durch den Abgleich der Belohnungsaktivitäten durch Pflichterfüllung und durch Zeugungsbereitschaft ablesen. Wir nennen seit rund 40 Jahren, die durch Pflichterfüllung, durch Arbeitsanstrengung erzielte Lustprämie „Augiasmus“, verweisend auf den mythischen Großgrundbesitzer Augias. Dessen Viehstelle waren durch exzessiv ausbeuterische Viehwirtschaft so verdreckt, wie heute die Großbanken durch exzessive Geldwirtschaft. Da bedurfte es eines halbgöttlichen Kulturheldens wie Herkules, um diesen von Habgier erzeugten Ruin der Lebenswelt wieder zu reinigen. Nach vollbrachter Tat genoss Herkules einen veritablen Augiasmus durch Körpereigenes Opiat ungefähr so wie heute Marathonläufer sich augiastisch belohnen. Auf den Herkules für die UBS und andere Augiasstelle unserer euroamerikanischen Zerstörung von Lebenswelt durch Geldscheißerei auf allen Kanälen warten wir noch.

Die manieristische Position definiert den Entwurf von neuen körperlichen Zuständen und Ausprägungen, in die sich dann seelisch-geistigen Energien ergießen würden, um entsprechende Gefühle, innere Vorstellung, Gedanken oder Willensäußerungen zu formen. Das war von Pontormo oder Gulio Romano ungefähr so gemeint wie es heute junge Leute nutzen, wenn sie in der Disco zur Bewegung angetrieben von unwiderstehlicher Musikdynamik solange die körperliche Extase aufrecht zu erhalten versuchen, bis sich ganz eigentümliche Gefühle, Wahrnehmungen etc. einstellen. Wem das nicht so ohne weiteres gelingt, hat immer noch den augiastischen Hochgenuss nach 8 oder 10 Stunden exstatischer Selbstüberhöhung die Erschöpfungslust im Chillout-Raum zu genießen.

Der Erfolg des Manierismus bestand also darin, gemäß der Auffassung corpus quasi vas den Körper als jeweils neu gestaltetes Gefäß für die Eingießungen von gemütshaften Sensationen bereit zu stellen. Für die beiden Blumes geht es nicht um den Diskobesuch, sondern um die Arbeit im Atelier. Ebenso wenig wie die Jugendlichen ihre Disko ihre Begeisterung für eine neue Liebe oder ein neue Linke im Ausdruck von Lebensfreude kundtun, turnen die beiden Blumes im Atelier herum, um begeistert eine neue künstlerische Offenbarung werkwirksam werden zu lassen. Die Jugendlichen malträtieren ihre Körper in der Disko, um durch die Bewegung des Körpers Geist und Seele zu verlebendigen. Die Blumes quälen sich in extrem herausfordernder Weise im Atelier, um der formalistischen Routine, der Verführung zur Geläufigkeit und Könnerschaft entgegenzuwirken.

Aber wie gesagt, ich will nicht auf die Analogie von Diskomanierismus und Blume’schen Attitüdentheater hinaus, sondern auf die Analogie zu einem Gründungsmanifest des Manierismus, eben zu dem „Sturz der Giganten“ von Gulio Romano.

Das Thema des Freskos ist der griechischen Sagenwelt entnommen, derzurfolge die olympische Götterordnung sich erst nach generationenlangem Kampf von vorolympischen Urkräften etablieren konnte. Die Götter kämpften mit den Giganten um die Vorherrschaft mit dem Risiko, dass die Welt als der Preis der Auseinandersetzung zerstört wurde. Eben das ist das Thema von Romanos Fresko. Es ging um radikale Umbrüche ohne die Zerstörung der Welt, um deren Beherrschung von Giganten und Götter gerungen wurde. Die Blumes zeigen uns ausschließlich aus ihrer Fähigkeit Gestaltungslogiken und –dynamiken zu folgen, also ohne Romanos Freskenfolge auch nur gesehen zu haben, um ihn möglicherweise modern zu illustrieren, wie unser Ordnungsverständnis durch die Grundmuster von Horizontal-, Vertikal- und Diagonalverläufen geprägt ist, wobei sich das Gefüge zur Welt als Raum entfaltet, sobald mehrere Ebenen dieses Gefügegeschiebes hintereinander gelegt werden. Ihr Olymp wird durch die göttliche Ordnung platonischer Ideen, will sagen der Geometrie geprägt.
Konstruktivismus ist Beschreibung und Gestaltung der Welt nach den geometrischen Ordnungsmustern und der Dekonstruktivismus der Blumes wäre dann ein Aufstand der Künstlergiganten gegen die endgültige Herrschaft der geometrischen Ordnung.

Die Götter unserer Gegenwart wären dann die Konstruktivisten, die großen Pathetiker: Kandinsky, Mondrian, Malewitsch in der Generation der 10er-Jahre, und in der Folge alles, was es üblicherweise an heiligen Gütern des Konstruktiv-Konkreten auch in diesem Hause zu sehen gab und immer noch gibt, bis hin zu den Kunst-Titanen des so genannten Minimalismus, hier beispielsweise zu SoLewitt, zu schweigen von gewissen, noch lebenden ‚Sakraldesignern’, wie A & B Blume gewisse Apologeten der ‚reinen Konstruktion’ zu disqualifizieren pflegen. ... Das also ist vorbei und zwar im Hinblick auf die unglaubliche Wirkung, die es hatte. (Zwischenfrage: Warum vorbei?) Ja, warum? Weil jeder sich dieser Art von formalistischen, konstruktivistischen Tätigkeit hingeben kann, ohne irgendeine Weltmission oder Verantwortlichkeit für sein individuelles Tun, weil sich das ja immer nur in der vorgegebenen Ordnung der himmlischen Geometrie bewegt. Das ist gerade der Vorteil des Konstruktivismus gegenüber Gedankenerfindungen, wie Sozialismus (National- wie Universalsozialismus) oder Futurismus oder Expressionismus und Dergel.

Nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur war es eine Erlösung, etwas tun zu können, was sich nicht herleitet aus einer quasitheologischen Festlegung, aus einem Erlösungs-Programm, sondern wieder in die Sphäre der Bricolage, des Bastelns der Formalschemata hinüberführte, in ein höheres Basteln sozusagen, etwa in das höhere operative Basteln von Mathematik, Physik und Geometrie. Damit konnte man sich abkoppeln von jeder Theologie, von jeder Religion, von jeder Ideologie. Abstraktion in jeder Beziehung also. Danach haben sich nach dem 2. Weltkrieg alle gesehnt, endlich mal einen nicht mit irgend einer Ideologie belasteten Federstrich aufs Papier bringen zu können, sondern rein formal zu operieren. Das war tatsächlich zunächst eine unglaubliche, eine großartige Vorgabe für einen unbelasteten Blick in die Zukunft: Also weg vom Universal-Sozialismus à la Lenin, Stalin und einem National-Sozialismus à la Hitler etc. hin zu einer Offenheit, zu einer entideologisierten pluralistischen Ambiguität, hin zu einer Auffassung, die vieldeutige Ambivalenzen zuließ und nicht schon präformiert war durch schicksalhaft tiefe Gedanken, von einem fundamentalen Urbeginn und gnadenlosen Ende, also einem apokalyptischen Denken verfallen war, dass am Ende alles zu Müll wird ... .auch die 9. Sinfonie, auch Einstein, alles in Sternenstaub versunken. Nun aber erleben wir längst, eigentlich schon seit den 70er Jahren, dass eine solche, zunächst befreiende Praxis der Abstraktion von all dem ideologischen Ballast, dass die Praxis einer diesbezüglich reinen und inhaltsfreien Abstraktion und Konkretion ihrerseits nicht davor schützt, einem Kultus zu verfallen, einem ästhetischen Kultus, einer neuen Kunstreligion sozusagen, die inzwischen ihre eigenen Waren-Fetische, Markt-Götter und Kunst-Giganten hervorbringt und hervorgebracht hat. Wer heute versucht, ein schwarzes Quadrat auf die Leinwand zu bringen, ist geschlagen mit der Erfahrung, das lässt sich gegenüber einem Malewitsch oder im gegenwärtigen Blick auf die Schweizer Konkretisten, etwa auf Max Bill nicht mehr toppen. Wir kommen damit nicht mehr weiter. Es hat also keinen Sinn, sich als Künstler und als Kenner und Sammler zu beruhigen, sich in einer mit leichter und freudiger Geistigkeit betriebenen Beschäftigung als Künstler zu beruhigen, sozusagen im Dienste der heiligen Geometrie, also in platonischer Absicherung. Das alles ist nicht mehr möglich. Wie also weitermachen? Wie also anfangen? Nun, eine Antwort wird hier von A & B Blume gegeben, wie sie schon bei Giulio Romano gegeben wurde und die überall gegeben wird, wenn eine Sensation, die Weltenwende ausgerufen wird. Dann muss man nur radikal genug den Konstruktivismus, die Beruhigungskonstrukte von Sinn überhaupt durchschauen, und die Apokalypse hinter sich bringen: durch simples Uminterpretieren des Chaos der Verwandlung in einen Formenspiel, dass den Ordnungssinn hervorruft. Das ist das Thema des Zyklus.

Was Sie also hier sehen in diesen Re-Konstrukten, das ist in vielfacher Hinsicht und im Blick auf die Resultate jener herzerfrischenden Naivität des Formalen und vermeintlich ewig Gültigen entwickelt worden. Etwa die eines Carl Andre oder eines SoLewitt: Man konnte und kann das hinnehmen wie ein Möbelstück oder auch wie ein Stück Natur draußen, man muss sich nichts dabei denken. D. h., jene Kunstentwicklung der letzten 50 Jahre nach dem 2. Weltkrieg, die es einem erlaubte, beim Sehen nichts denken zu müssen, das war wirklich grandios, das war Erholung. Hier konnte man sich reinigen von all dem Bedeutungs- und Verweisungsschrott: ‚Reine Wahrnehmung’, ‚Reine Empfindung’, völlige Abkoppelung der Wahrnehmung vom Kognitiven und natürlich vom Repräsentativen: Mit anderen Worten, es hatte gar keinen Inhalt und war somit ohne Aufforderung, etwas hinzu zu denken, hatte also eine hohe Nähe zu den buddhistischen Entleerungspraktiken, eine wunderbare Reinheit der Bedeutungslosigkeit, der Intentionslosigkeit. Die Gruppe Zero etwa. Und natürlich die ‚Konstruktiv-Konkreten’. Die Schweizer waren ja Großmeister in dieser Haltung. Fast saßen sie ewig auf der Bank an der Sennenhütte und triumphierten mit ihrem Lächeln über jeden, der noch etwas wollte in der Welt. Ja? Da konnte man vielleicht sagen hören „Du armer Naivling! Du bist noch nicht reif für das Nichts, das wir hier in der Alpenwelt erfahren. Zappele nur weiter, am Ende kommst Du doch hierher und sitzt in Sils Maria auf der Milchbank.“ Das ist jetzt zu Ende, denn Sie sehen, hier in diesem Bilderzyklus bricht jetzt der Weltenbau dieses Konstruktivismus, dieser naiven Freude an der leeren formalistischen Selbstbestätigung exemplarisch zusammen. Es bricht jener Formalismus zusammen, der dem spielenden Kind, das die Passformel entdeckt hat, zu sagen erlaubt, ich habe etwas geleistet. Denn in Wahrheit natürlich sind die Passepartouts vorgegeben durch die Formen selbst, ihre plausible Einheit ist ja ein Einpass-System, etwa wie bei der Tapete. Man hat also nur den Nahtanschluss gefunden, das ist aber keine Leistung. Die liegt ja bereits in der Form selber, im Ornament selber. Kurz und gut, mit der Moderne ist es vorbei. Der Sturz der Giganten heißt hier: Zwei Menschen inszenieren einen Bilderfries in manieristischer Selbstüberformung, sozusagen bis hin zum Exzess. Sie sehen, das geht bis hin zur fratzenhaften, puppenhaften Starre des Blickes, natürlich immer in der Haltung: „ich sehe mir selbst dabei zu“. Das ist eine artistische Attitüde, das ist eben nicht naiv. – Es ist ein Erleben des Zusammenbruchs, vielleicht sogar auch ihres Willens, ihrer Vermögen, die Welt noch anzusehen als eine Konstruktion. … Ist das nun ‚De-konstruktion’? Ich unterstelle mal, dass A & B Blume den Titel „de-konstruktiv“ für diesen Bilderzyklus erst im Nachhinein eingesetzt haben, aus didaktischen Gründen sozusagen, um über diese eingesetzte Wort-Geste die Bestimmung des Museums Haus Konstruktiv schon ein wenig zu konterkarieren. Aber um darauf einzugehen: Was mit dem berühmten Begriff der Dekonstruktion von de Man und später von Derrida in die Welt gesetzt wurde, das war eigentlich nichts anderes, als dass diese Herren den Johannes von Patmos noch einmal darstellten. Sie setzten sich hin und imaginierten die großen Katastrophen, die apokalyptischen Visionen des Johannes noch einmal. Es war demnach nichts anderes als alles, was da ist, im Hinblick auf das Ende auseinander zu nehmen. Und es ist klar, dass sie das vornehmlich tun, indem sie auf die elementaren Voraussetzungen eingehen, mit denen sie operieren. Der Kern der Sache ist also lediglich die Indienstnahme der Dekonstruktion anstelle des alten apokalyptischen Systems. Das Verfahren ist das gleiche. Es ergeben sich daraus aber zwei Reaktionen: Neben der resignativen Passivität eines Oblomow, neben der Oblomowerei, neben Psychopathologie und Abdankung ins Irrenhaus oder in die Asozialität gibt es, ich will es mal pauschal sagen, auch noch die uns zugewachsene, ‚universal-jüdisch-christlich’ zu nennende Inanspruchnahme des Menschen für sein eigenes Vermögen, also für die Fähigkeit zu sagen: Du siehst in dir eine natürliche Reaktion auf das fürchterlich dräuende Ende, auf deine realistische Wahrnehmung und den letzten Richterspruch: ‚du bist verdammt’ usw. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, so, jetzt ab in die Klapsmühle oder in die Kriminalität oder „Spiel den großen Diktator“, sondern es ergibt sich daraus eben auch die Begründung eines Anfangens, das, wie mehrfach gesagt, sein Ziel im Anfang schon hinter sich hat. Dekonstruieren heißt dann: anfangen im Blick auf das immer schon hinter sich gebrachte Ende. Man beginnt jenseits der Katastrophe, jenseits des endgültigen Kaputtgehens, jenseits des Todes und damit auch jenseits der Todesangst. Und das ist ja das Christentum eigentlich. Das wurde demonstriert im Opfertod Christi: Von heute ab braucht ihr euch um das persönliche Abtreten, das Sterben nicht mehr zu kümmern, in meinem Anfangen habe ich mein Ende bereits hinter mir. Das ist die Botschaft der Kunst: anfangen nicht als bloß logische Vollzugsannahme, sondern als offener Prozess, als offene Initiative ... De-konstruieren ist dann nicht zu rufen: Alles ist eitel. ‚Vanitas vanitatum, et omnia vanitas’ ... jedem, der noch etwas will, zu sagen: „Halt die Klappe, kommt sowieso nichts raus“, oder: „Kennen wir schon, ist alles schon gewesen“. … Sondern: Kunst in diesem Gegensinn von De-Konstruktion erlaubt uns zu sagen, dass hier jemand die Kraft des Beginnens demonstriert im Hinblick auf einen offenen Prozess, eine offene Initiative, auf ein nicht gewusstes, auf ein nicht kalkulierbares Ende Alle Endgültigkeitskalkulation hört hier auf und an die Stelle wird die Liebe gesetzt. Denn Liebe heißt nichts anderes als ein ununterbrochenes Beginnen. Das heißt dann Kunst! Von Augustin wurde das schon definiert. Er formulierte schon, was sich da als große Kraft aus der jüdisch-christlichen Theologie entwickelte. Das Motiv der Liebe, die nichts anderes ist als die große energische Freiheit des Anfangens. Bildhaft geworden ist das aber erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts, ab 1315 etwa mit Giottos Arena-Fresken in Padua, 1320 auch mit dem Beenden der Göttlichen Komödie durch Dante und mit den Theorien der Humanisten und 1336 als furchtlose Tat mit der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca. Seitdem gilt: ‚homo creatus est ut initium sit’: Der Mensch wurde geschaffen, damit es in der Natur das Prinzip des Anfangens gibt, nicht also, um einer Sachzwanglogik zu folgen. Alle Natur ist ‚ante quem’ ... Kunst dagegen ist ‚initium sit’! Wer also in seinem Atelier sitzt und malt, um berühmt zu werden oder um Geld zu verdienen oder um die Weiber herumzukriegen, der hat schon verloren als Künstler. Hier dagegen spüren Sie, wie sich zwei Leute im ‚Sturz der Giganten’ behaupten, und zwar durch Erledigung der bisherigen Rettung durch Formalismus. Man spürt in ihrem Agieren eine bewusste Distanzierung gegenüber der Möglichkeit, dies wiederum als eine fromme Kunstübung zu sehen. … Zwar, auch unter allen formalen Aspekten ist ihre Arbeit professionell hochgradig gut gemacht … handwerklich fantastisch gemacht, … zählt aber gar nicht. Werk ist hier nur Werkzeug. Deshalb will ich sagen: Die Arbeit von Anna und Bernhard Blume ist in erster und letzter Linie eine Produktion von Erkenntnismitteln.