Buch Moderne und Historizität

Moderne und Historizität, Bild: Titelblatt.
Moderne und Historizität, Bild: Titelblatt.

Schriften aus dem Kolleg Friedrich Nietzsche. Herausgeber der Reihe: Rüdiger Schmidt-Grépály

Die Tagung "Moderne und Historizität" des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar fragte nach den Beziehungen gesellschaftlicher und ästhetischer Modernisierungsprozesse und ihren Folgen für eine historische Epistemologie. Die Beiträge spannen den Bogen von systemtheoretischen Konzepten der Moderne über die Reflexion der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und ihren Geschichtstheorien bis hin zu Modellen des Historismus von den Vertretern der neapolitanischen Schule.

Mit Beiträgen von: Stefan Wilke, Lorenz Engell, Oliver Baron, Harry Lehmann, Bazon Brock, Peter Wächtler, Achim Preiß, Norbert M. Schmitz, Jörg H. Gleiter, Guiseppe Cacciatore, Michael Walter Hebeisen, Guiseppe D'Anna

Erschienen
01.01.2011

Herausgeber
Stefan Wilke

Verlag
Verlag der Bauhaus-Universität Weimar

Erscheinungsort
Weimar, Deutschland

ISBN
978-3-86068-440-5

Einband
Broschiert

Seite 54 im Original

Krise heißt Entscheidungsnot und damit Kritik an der Entscheidungsschwäche. Krise begründet Kritik, wenn Ja und Nein gleichgültig werden und alles Unterscheiden folgenlos bleibt!

Seit die ollen Griechen uns mit dem Begriff „Krise“ die Wunderwirkung von Kritik eröffneten, faszinieren Erzählungen über kritische Situationen, wie sie etwa Herakles am Scheideweg erlebte. Die Weggabelung zwingt zur Unterscheidung der Richtungswahlen: in Hinblick auf die Himmelsrichtungen, die Wahl der schönsten, vertrauensvollsten oder klügsten Frau (oder Partner) oder mit Bezug auf Entscheidungsalternativen, die aber erst qualifiziert werden können, wenn man eine Möglichkeit wählte und von ihr aus die nicht gewählten Alternativen beschwört: „Ach, hätte ich mich doch anders entschieden.“

Fasziniert vergegenwärtigt man sich historische Sternstunden in krisenhafter Unbestimmtheit, wie die Stunde im Jahre 69 n. Chr., in der vier machtvolle Generäle der römischen Imperialarmeen vor den Toren Roms die versammelten Truppen davon zu überzeugen versuchten, ihnen die Nachfolge des kaiserlichen Tyrannen Nero anzuvertrauen. Warum wählten die doch ziemlich abgebrühten, gemütsarmen Soldaten schließlich Vespasian, obwohl dessen Konkurrenten Otho, Vitellius und Galba die gleichen Bestechungsangebote, Aufstiegsversprechen und Entfaltung von Machtbewusstsein den Armeen unterbreiteten?

Vespasian gewann, weil er die schlagendste Kritik an dem Gebaren der julisch-claudischen Dynastie vortrug – ein Vorgriff auf die ab 96 n. Chr. Praktizierte Wahl der Optimaten, der Fähigsten jenseits dynastischer Verflechtungen; von den Vespasiansöhnen Titus und Domitian wurde umso nachdrücklicher bewiesen, dass Blutsbande doch nicht stärker sind als Vertrauen durch Kritik.

In neubürgerlichen Zeiten Deutschlands (zwischen 1871 und 1968) wurden die Jünglinge von ihren Vätern oder Onkeln krisenfest gemacht mit der sprichwörtlichen Auskunft nach ersten Bordellbesuchen: „Heirate und Du wirst es bereuen, heirate nicht und Du wirst es bereuen…“. Das stammte aus fundierter Erfahrung der Börsenhasardeure, Aktienspekulanten und gescheiterten Anwärtern auf Weltgeltung in allen Disziplinen der Politik: „Für was und wie Du Dich entscheidest, mein Sohn, es kann sich Deine Entscheidung sehr bald als falsch erweisen. Leider ist es nicht möglich, sich deshalb vor der Entscheidung zu drücken, denn andere werden Dich durch die Tatsachen, die sich aus deren Entscheidungen für Dich ergeben, zwingen, doch zu reagieren. Also entscheide Dich besser gleich, weil entschieden werden muss – egal wie, Hauptsache konsequent.“

Kein Wunder, dass im 19. Jahrhundert das buddhistische Angebot von Handeln durch Nichthandeln, von Tun als Nichtstun, von Gebotsbefolgung durch Unterlassen gerade bei den Funktionseliten zunehmender Aufmerksamkeit gewiss sein konnte. Von Schopenhauer über Wagner zu Nietzsche waren die Lebensratgeber der bürgerlichen Newcomer, der bodenlosen Imitatoren aristokratischer Selbstgewissheiten, fasziniert von der Weisheit des Ostens (Nietzsches Zarathustra ist einer von ihnen als turnväterlich hochgetrimmter, athletischer Buddha). Die Adepten der Philosophen und Kunstreligionsstifter übersahen zumeist, dass Nichttun etwas völlig anderes ist als Nichsttun, vulgo Faulheit, es sei denn, man versteht Nichtstun als subversive Aktion gegen die Ausbeutung – so etwa begründete ja der Marxschwiegersohn Paul Lafarge das von ihm publizierte „Recht auf Faulheit“, das die Tunixe unserer Tage für sich reklamieren. Nichttun heißt Unterlassen – und das Unterlassen verlangt Anstrengungen des Geistes und der Moral, die denen der Setzungskraft durch rücksichtsloses Handeln nicht nachstehen.

Als individuelles Erlebnis ist Nichttun, das Unterlassen, weit anspruchsvoller als das Tun im Genuss, seinen Willen Dritten aufzwingen zu können. Jeder Raucher weiß, wie viel höhere Einsicht das Unterlassen des Rauchens, das Nichtrauchen also, gegenüber dem genussvollen Rauchen verlangt. Denn es ist viel anstrengender, bei sich selbst den eigenen Willen durchzusetzen als bei Dritten. Für die Politik hat Bundeskanzler Kohl im „Aussitzen“ einen Modus des Handels als Unterlassen gefunden, der den Erfahrungen besagter Gründerväter des Deutschen Aufstiegs nach der Gründung des Zweiten Reiches in Versailles am 18. Januar 1871 und nach der französischen Zahlung von Reparationen entsprach. An den Bösen galt es, die schicksalhaften Zyklen der Wirtschaftsdynamik stoisch durchzustehen, ohne sich zu blinden Angstreaktionen verführen zu lassen, die – egal wie man sich entscheidet – immer zu gewaltigen Verlusten führten. Aussitzen auf dem breiten Hintern buddhistischer Unerschütterlichkeit hieß die Strategie, um dem ohnehin Ablaufenden einen Sinn unterschieben zu können, als habe man die Fatalität selbst so gewollt oder wenigstens so wollen können. Diese Strategie hatte sich nämlich in der entscheidenden Machtsphäre, der militärischen, längst als richtig erwiesen: Wenn Du einen grassierenden Fehler durch unsachgemäße Entscheidungen begangen hast, versuche niemals, ihn zu korrigieren, lernen Offiziersanwärter bis heute; vielmehr musst Du die falsche Entscheidung solange konsequent durchhalten, bis sie sich so wirksam erweist, wie diejenige richtige Entscheidung, die Du von vornherein eigentlich hättest treffen wollen!

Im politischen Feld vor allem hat man folgerichtig darauf geachtet, sich möglichst selten zu Entscheidungen zwingen zu lassen, da die ja, wie immer sie ausfallen, in irgendeiner Hinsicht falsch sein müssen! Lavieren ist also eine Strategie der Politiker, sich zu behaupten und nicht ein Hinweis auf die Belastungsschwäche der Regierenden. Denn in der Sphäre der Öffentlichkeit, in der Entscheidungen begründet und verantwortet werden müssen, herrscht permanent Entscheidungsnot, weil behauptete Richtig- und Notwendigkeit von Entscheidungen kraft institutioneller Etablierung von Opposition prinzipiell bestritten werden. Nur in totalitär-fundamentalistischen Regimes der Machtausübung lassen sich Entscheidungen eindeutig als falsch oder richtig ausweisen; in Demokratien jedenfalls ist die Krise als Erscheinungsform der Entscheidungsnot permanent.

Warum dann das hektisch reaktive Veitstanzen aller Branchen angesichts des Zusammenbruchs allmachtsphantastischer Kindereien von Bankern, Professoren, Politikern und Firmenchefs nebst deren Klientel, wie es seit dem Bankrott der Lehman Brothers, vollführt wird? Ganz offensichtlich kommt es zur Kennzeichnung solcher Bankrotte als Krisen, ja als die Jahrhundertkrise, gar größte Krise historischer Zeiten, weil mit dem Begriff Krise nichts anderes gemeint wird als schicksalergebene Entlastung von individueller Verantwortung: Wo höhere Mächte walten, gibt es kein Halten (des Diebes). Dass dieses Verständnis von Krise nur kindlicher Abwehr von Strafe für Vergehen entstammt, wird allein deshalb klar und deutlich, weil die Krisenbeschwörer sich fragen lassen müssen, warum sie denn den überindividuell waltenden Mächten nicht von vornherein gefolgt seien, um die „Krise“ zu vermeiden. Mit der Antwort, man habe den Gesetzen des Marktes, der Natur der Menschen, der Evolution von Systemen eben nicht folgen können, weil man sie nicht kenne, kann sich selbst das schlichteste Gemüt (vom Verstand ganz abgesehen) nicht zufrieden geben. Denn wenn man die objektiven, das heißt unbeeinflusst von individuellen Entscheidungen ablaufenden Prozesse gar nicht kennt, kann man doch sie gerade nicht als „Krise“ erkennen.

Wie kommt man aus dieser hamletschen Mausefalle heraus? Bekanntlich stellt sich Hamlet selbst einen Stolperstein, weil er die Mörder seines Vaters zwar raffiniert entlarvt, aber mit dieser vermeintlich evidenzgesicherten Kenntnis nichts anfangen kann, weil ihm die objektive Entwicklung des Rechtsbewusstseins verbietet, Blutrache zu üben. Hamlet folgt dem Befehl der Geisteserscheinung seines Vaters, seiner Väter (also der ihm tragenden Tradition sozialer Verbindlichkeit), den Mord am König und Vater zu rächen. Hamlet wird aber zugleich von Einsicht in den Geist seiner eigenen Zeit daran gehindert, der Logik der urväterlichen Blutrache noch zu folgen. Das begründet nicht nur einen einmaligen tragischen Konflikt eines Individuums (so demonstriert Shakespeare), sondern ist die permanent gegebene Krise der Menschen in der Entscheidungsnot zwischen Verbindlichkeit garantierendem Gehorsam gegenüber den Traditionen, Sitten, Gesetzen der Väter einerseits und andererseits den Freiheitsforderungen der sachgemäßen Vernunftarbeit.

Wer diese permanente Krise nicht zu akzeptieren vermag, weil er ein Gefangener der Traditionen und Systemlogiken ist oder in seinem bodenlosen Individualismus an der Wirklichkeit der sozialen wie den Kräften der Natur oder des Marktes irre wird, redet sich auf den Mythos Hamlet hinaus. Er reklamiert für sich, dass ihm gerade das durchgreifende Nachdenken angekränkelt, nämlich in Entscheidungsnot gebracht habe, sodass er das Opfer der schicksalhaften Mächte des systemischen Selbstlaufs geworden sei. Das aber ist ein wohlbekanntes Muster der nachträglichen Rationalisierung, nämlich Gründe für das Scheitern zu finden, die von Verantwortung für das eigene Tun und Lassen freisprechen: am Besten mit der grundsätzlichen Infragestellung des Lebens schlechthin aus philosophischem Tiefgang. Deutschland ist Hamlet! Jawohl!

Ein besonders absurdes Muster nachträglicher Rationalisierung bot und bietet die deutsche Regierungschefin. Allen Ernstes verbreitet sie im Brustton Bayreuther Überzeugungen, „wir werden dafür sorgen, dass wir stärker aus der Krise herauskommen, als wir in sie hineingingen“. Da übt ein DDR-Erziehungsprodukt nicht etwa Grundkurse in Dialektik, sondern betet die Autosuggestionsformeln der Mafiabosse nach: „Was uns nicht umbringt, das macht uns stark.“ Was heißt, entwicklungsförderndes Handeln besteht darin, stets die Kräfte der Zerstörung herauszufordern, um so das Schwache und die Schwachen loszuwerden und selbst – wie Investmentbanker aus dem Bankrott – umso strahlender, gleichsam mit Erwähltheitsbeweis hervorzugehen. In der Tat müssen sich regierende Mächte für göttlich oder wenigstens wie Wagner-Auserwählte halten, die den Staatsbankrott durch abwegige Verschuldung bewusst heraufbeschwören und trotzdem nicht umstandslos entmachtet zu werden durch das Volk, in dessen Namen sie angeblich die Rosskur der schmerzlichsten Risiken eben diesem Volke verordnen mit der grandiosen Zusicherung, dass, wer dergleichen übersteht, nichts mehr zu fürchten habe, als geordnete Verhältnisse. In diesen Kreisen, die jährlich in Bayreuth mit allen Anzeichen des seelischen Erregungsschwitzens der Götterdämmerungslogik von Auferstehung durch Untergang huldigen, sieht man es damit suggeriert werden kann, dass ihre Entscheidungen auf Leben und Tod gehen. Also denkbar höchste Wirkung für das Überleben aller Starken haben.

Jüngst staunte die unkritische, weil nicht krisenfeste Öffentlichkeit über die Empfehlung eines Newcomers der Wirtschaftspolitik, es sei viel gesünder, Firmen wie Opel Bankrott gehen zu lassen, weil dann das Weiterleben gesichert sei, denn Insolvenz sei in Wahrheit die große Chance. Der Begriff müsse entstigmatisiert werden, behauptete zu Guttenberg, weil die Insolvenz gerade eine Chance auf Neubeginn sei – Neubeginn als Start eines neuen Zyklus von Insolvenz und Neubeginn. Das ist angesichts der konkreten Auswirkung von Insolvenzen nach der Insolvenzordnung von 1999 natürlich eine fromme Lüge, pia fraus für autoritätsgläubige Kleingeister – aber eben fromm, d. h. gerechtfertigt, weil wohltuend für Betroffene von 34.000 Insolvenzen, die verstehen sollen, dass die „Krise“ ganz und gar wünschenswert sei. In jedem Fall erweisen sich die Argumente der Wirtschaftspolitiker zur segensreichen Insolvenz als wirksam, weil sie mit der grundlegenden Begründungsstrategie für Katastrophenerwartungserwartungen übereinstimmen. Denn das von Johannes, dem Jünger Jesu, auf Patmos etwa 90 nach Christi Geburt ausgearbeitete Konzept des apokalyptischen Denkens empfiehlt ja, jeweils bei allen Unternehmungen mit dem Ende, vor allem auch als Zusammenbruch, als Insolvenz, als Vernichtung und Katastrophe zu beginnen. In unserem Ende liegt die Kraft des Beginnens: Zum einen muss man ja wissen, worauf alles hinsteuern soll, wenn man mit der Ausführung eines Plans beginnen will; zum anderen können allerlei Bedenken, Vorwände, Ängste vor dem Scheitern oder gar der Auslöschung dadurch überwunden werden, dass man sich immer schon, also von vornherein auf den Zusammenbruch der Unternehmung einrichtet. Das tun klugerweise alle Unternehmer, die von vornherein nicht für das Scheitern ihrer Vorhaben haften wollen (außer mit der lächerlich geringen Einlage bei der rechtlichen Gründung eines Unternehmens, dessen Erfolgsaussichten ganz wesentlich durch die jederzeitige Möglichkeit des Scheiterns begründet werden können). Apokalyptiker (oder im psychologischen Kleinstmaßstab Hypochonder) leben deshalb am längsten, weil sie mit allem zu rechnen gelernt haben. Sie sind derart gewitzt, also rational im Kalkül mit dem Einbruch der kalten Wirklichkeit ins Spiel der Erfolgsfantasien, weil sie die Grundkraft apokalyptischen Denkens reichlich ausbilden, nämlich die Kraft der Antizipation. Es ist nämlich höchst vernünftig, geplante Aktionen im Geiste vorauszunehmen, das heißt in der Vorstellung durchzuspielen, solange bis die Wahrscheinlichkeit erkennbar wird, mit den erwartbaren Gefahren und Katastrophen doch fertig werden zu können, weil die Arbeit der Vorstellungskraft hinreichend trainiert wurde, den Gefahren zu begegnen. Welch eine Chance bietet die geballte Macht von christlicher Fundamentaltheologie des apokalyptischen Denkens mit der anthropologischen Überlebensstrategie der Antizipation von Gefahren, um sich gegen sie zu wappnen und mit der Alltagserfahrung von jedermann, dass nur durch radikalen Pessimismus wir unseren Optimismus fundieren können, alles werde gut ausgehen, d. h. förderlich sein. Wer weiß, wozu das Unglück gut ist, heißt es; es ist gut, um sich zu wappnen gegen eine See von erwartbaren Plagen.
Damit wären wir wieder zurück beim einleitenden Konzept der Krise; denn die griechische Wortbedeutung deckt auf, wie der Krise als kritischer Situation der Entscheidungsnot begegnet werden muss, damit die Krise sinnvoll (das heißt handlungsstrategisch) genutzt werden kann. Don’t waste a crisis, lernten die englischen Sportsfreunde schon zu Beginn der Manchesterkapitalistischen Unternehmungen. Heute heißt das peak experience, also äußerste Belastungen bis an die Grenzen des Systemkollapses, um das Vertrauen in die Fähigkeit zu steigern, selbst mit der Vernichtungsdrohung fertig zu werden. Das Wunder bewirkt die Kritik, die bedeutendste Hervorbringung jeder Krise. Krisenfest zu werden heißt, der griechischen Wortbedeutung nach, kritikfähig zu werden.

Nur radikalisierte und schonungslose Kritik wandelt die Krise der Entscheidungsnot zur Freiheit der Entscheidung.