Novalis läßt seinen Heinrich von Ofterdingen in der sich öffnenden Blauen Blume ein Gesicht sehen — sein eigenes von der Sehnsucht verklärtes Gesicht. So wird ein anderer Motivkreis geöffnet: Narcissos beugte sich über die Spiegelfläche des Wassers und entdeckte sich selbst als die Erscheinung eines Menschen, die ihn am stärksten fesselte. Die Suche nach der Blauen Blume endet mit der Entdeckung, daß dieser Kelch des Lebens nur im Suchenden selbst zu finden ist. Die abenteuernde höhere Tochter zähmt den Barbaren, weil sie es versteht, ihn auf sein Spiegelbild zu orientieren. So lernt er, sich und seine Nächsten wie sich selbst zu lieben. Barbarisch ist man nur solange, wie man rückhaltlos das Glück, die Erfüllung außerhalb seiner selbst sucht. Denn an irgendeinem Ziel angekommen, bemerken die Ritter des Glücks, die Gralssucher und Liebessüchtlinge immer erneut, daß das Objekt der Sehnsucht, die saftigen Auen und die Gefilde der Erfüllung immer dort zu sein scheinen, wo man gerade nicht ist. Die Heimat ist immer anderswo. Novalis meinte, alle Philosophie sei eigentlich Heimweh; es zu stillen sei nicht möglich, indem man in die Heimat zurückfindet, sondern indem man sich befähigt, überall zu Hause zu sein - also bei sich selbst. Dafür steht das Motiv der Blauen Blume. In seinen „Fragmenten zur Physiologie und Psychologie" eröffnet Novalis das Geheimnis der Romantiker: „Schmerz und Angst bezeichnen die träumenden Glieder der Seele. Körperliche Lust und Unlust sind Traumprodukte." Das heißt, jede psychische Regung ist eine Selbstwahrnehmung; man kann nur den eigenen Schmerz, die eigene Lust, die eigene Sehnsucht wahrnehmen, nicht aber die der anderen. Dadurch wird die Innerlichkeit der Romantiker erzwungen; die Wahrnehmung des Fremdpsychischen, also der seelischen Regungen von anderen Menschen läßt sich nur aus der Selbstwahrnehmung erschließen. „Die Blaue Blume" ist der Name für diese in den eigenen Körper eingeschlossene Seele. In Novalis' Bild von der „doppelten Umarmung" wird anschaulich, daß jede Umarmung eines Anderen eine Selbstumarmung ist. Die Neigung der Romantiker zur „schwarzen Verstörung“, zu Trauer und Melancholie entsteht durch die schmerzliche und peinigende Erkenntnis, daß man sein Leben lang aus dem Gehege der eigenen Innerlichkeit nicht entrinnen kann. Romantischer Narzißmus ist foglich keine Deformation, sondern Ausdruck der Seelenverwandtschaft: jedes Du ist ein Ich.
Abbildung:
S.160: Still aus "The Barbarian", Ramon Navarro und Myrna Loy, 1933.
Die Wunderkraft der Blauen Blume läßt auch harmlos-naive Bürgertöchter, Touristinnen und Sekretärinnen zu Apothekerinnen der Liebe werden, die pubertierende Jünglinge und wilde Barbaren erlösen.
S.162/63: Flower Edition [Vorwerk], Philip Taaffe, 1998.
Zitat:
S.163: Unter seinen Füßen war es wie ein schöner Saphir und wie die Gestalt des Himmels, wenn's klar ist. (Moses 24,10)