Zu den von allen Kurgästen besonders geschätzten Vergnügen des Sommeraufenthalts an der See gehören das Burgenbauen, das Sandzeichnen und die immer erneute Betrachtung der ornamentalen Wellenlinien, die Ebbe und Flut im Strandsand erzeugen und wieder auslöschen. Obwohl die von Wasser und Wind geschaffenen Figurationen flüchtig sind, erscheinen sie doch immer wieder. Ihre Löschung ist bedeutungslos. Man verpaßt nichts, wenn man die Beobachtung des kontinuierlichen Wirkens der Naturkräfte für Stunden oder Jahre unterbricht – das Flüchtige ist in der Wiederholung bewahrt. Und daß sich das natürliche Kräftespiel stets wiederholen wird, ist verläßliche Erfahrung. Anders die Faszination, wenn man selber in den Sand zeichnet oder aus ihm Gebilde formt. Schon während man sie ausführt, steht man unter dem Eindruck ihres unumgänglichen Verschwindens nach kurzer Zeit. Hier fasziniert das Auslöschen, weil jede Zeichnung und jede Form einmalig sind – alle Wiederholungsversuche zeigen auch bei Geübten unvermeidliche Abweichungen. Dennoch erlebt man das Spiel als beruhigend und beglückend. Selten sah oder hörte man jemanden am Meer darüber in die Klage verfallen, wie eitel und flüchtig doch unser Dasein und all seine Lebensspuren seien. Einen ähnlichen Effekt beim Betrachter erzeugten Mariella Moslers Ornamente aus Sandschüttungen auf der Documenta X. Niemand verstand sie als Hinweis darauf, daß all unser Streben eitel und vergänglich ist – im Gegenteil: man spürte die heitere Gewißheit, dergleichen ließe sich jederzeit und an jedem Ort wiederholen, ohne durch die Aufhebung der konkreten Form etwas zu verlieren. Der Vorteil der ornamentalen gegenüber der figürlichen Form liegt darin, daß Ornamente ohne Verlust immer erneut wieder hergestellt werden können. Auch das Schema ihrer Anordnungen läßt sich auf Dauer bewahren. So stellte sich für den Documenta-Besucher gerade gegenüber einem Gestaltangebot, das naturgemäß zum Ende der Ausstellung definitiv zerstört werden würde, jene Versicherung von Dauer und Verläßlichkeit ein, die man von Kunstwerken erwartet, aber offenbar zumindest in unserer Gegenwart nur selten tatsächlich geboten erhält. „Die Sandfrau hat mich auf die Bahn des Wunderbaren gebracht“ – so hätte E.T.A. Hoffmann seine Erzählung vom schaurigen Sandmann umschreiben können, wenn er bereits Kurgast oder Documentabesucher gewesen wäre. Für Hoffmann war der Sandmann noch Furie des Verschwindens, deren Fratzen er in Kohle und Kreide auf jeden freien Flecken seiner Umgebung zu bannen versuchte. Die Sandfrau der Documenta wiegt uns in „des Meeres und der Liebe Wellen“, also in der Gewißheit steter Wiederkehr des Gleichen.
Abbildung:
S.120: Linien und Zeichen, Mariella Mosler, Documenta X, 1997.
Obwohl weder begehbar, noch umschreitbar, war die Installation allansichtig, weil jede Schauseite des Sandornaments alle Perspektiven enthielt.