Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen führt mich auf den birkenumsäumten Sommerweg von Kamelow nach Vilkow zurück. Der Weg verlief durch leicht hügeliges Gelände in schwingenden Bewegungen, die sich auf den Wanderer übertrugen. Der Weg teilte sich in lauter einzelne Strecken, die vom jeweiligen Standpunkt bis zum nächsten Biegungshorizont verliefen. Der Wanderer beschleunigte seine Gangart mehr und mehr, weil er es immer weniger ertragen konnte, bei langsamer Annäherung an die Wegbiegung sich vorzustellen, wie der Weg jenseits der Biegung bis zur nächsten Biegung verlaufen würde. Jeder Weg verlief damals ins Ungewisse, obwohl man gesagt bekam, wohin ein Weg führe. Es war nicht zu begreifen, wie Menschen einstmals von einem Orte zum anderen gefunden hatten, bevor es Wege gab. Die Vorstellung, einen Weg irgendwohin, wo noch kein Ort war, zu bahnen, um dort einen Ort zu finden, blieb dem Kind verschlossen. Wege stellten nur Spuren von Tätigkeitsgewohnheiten dar. Diese Spuren galt es zu lesen und sich auf neue Spuren zu verpflichten. Ich erinnere mich, damals durch immer wiederholtes Begehen in einem Unterholzgelände Spuren gelegt zu haben, die allesamt die Begrenzungslinien geometrischer Figuren darstellten und stets zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrten. Das erste Gefühl der Befriedigung aus einer kulturellen Leistung genoß ich in dem Augenblicke, in dem ich am Ausgangspunkt einer Spurlegung wieder ankam. Später wiederholte sich dieser Genuß stets dann, wenn es gelang, in einem fremden Gelände eine vorher festgelegte Gestalt durch das Begehen über die Landschaft zu schreiben. Als Schulkinder haben wir uns einen Punkt am Horizont gewählt; denn in der Marsch steht nichts, es gibt nur Dinge, die in der Erde passieren, Wassergräben usw., aber darüber nichts; wir haben einen Punkt am Horizont gewählt und sind auf den losmarschiert. Es gab keine Notwendigkeit, sich von diesem Weg abbringen zu lassen; man ist schnurgerade auf das Ziel losgegangen und hat dann rückblickend das ungeheure Gefühl der Befriedigung genossen, am Ziel angekommen zu sein. Als ich zum ersten Mal nach Süddeutschland kam und sah, wie man da denkt: bergauf, oben stehen, gucken – wenn man oben ist, sieht man, daß man wieder bergrunter muß, um auf der anderen Seite wieder hoch zu müssen, daß man um Ecken gehen, Kurven und Umwege machen muß –, da habe ich mich entschlossen, bei dem norddeutschen System des Philosophierens zu bleiben, also geradeaus, und wenn man ankommt, ist man glücklich.
Der Ritter von der Naddel: "Jetzt will ich den Weg zwischen die Beine nehmen!" Doch bald klagte er, daß er sich Blasen unter die Füße gegangen, und die Welt viel zu weitläufig sei; und endlich, bei einem Baumstamme, ließ er sich sachte niedersinken, bewegte sein zartes Häuptlein wie ein betrübtes Lämmerschwänzchen, und wehmütig lächelnd rief er: "Da bin ich armes Schindluderchen schon wieder marode!" (Heine, Heinrich; aus: Reisebilder, Erster Teil, Harzreise, 1824)