Bisher kam in Würdigungen unserer Kulturgeschichte die Wahrnehmung des Bodens zu kurz, obwohl alle unsere Weltverhältnisse buchstäblich auf den Boden gründen. – Warum küßt z.B. der Papst den Boden? Warum werden rote Teppiche ausgerollt, Blumen gestreut oder Palmwedel ausgebreitet? – Was sahen Sie, als Sie mit Ihrer Freundin im Gras lagen? – Hat Ihnen schon jemand die Welt zu Füßen gelegt und Sie gleichzeitig ermahnt, hübsch auf dem Teppich zu bleiben? – Haben Sie sich schon mal vorgestellt, wie Sie die Radieschen von unten betrachten? – Lauter Fragen, die sich nicht unter den Teppich kehren lassen. Die Sprachbilder und Redewendungen, mit denen wir unsere Bodenständigkeit zum Thema machen, sind vielfältig und tiefgründig. Wir machen uns nur selten klar, was es heißt, einen Standpunkt zu beziehen oder festen Boden unter den Füßen zu haben. Wer nie seine Kontaktlinsen auf dem Boden suchte, weiß nicht, wie verwirrend Teppichmuster sein können. Wer länger auf die WC-Fliesen starrt, sieht im Gesprenkel des Terrazzobodens bald jene Geister, die laut Kinderreim an diesem Ort hausen. – Daß bisher für unsere Orientierung im Alltag die Wahrnehmung des Bodens eine geringere Rolle spielte als der Blick auf die bilderbewehrten Fassaden, die Plakatwände, die Schriftbilder auf Straßenbahnen und Lastwagen, hat vor allem folgende drei Gründe:
1. Oben hui, unten pfui
Es gibt in vielen Kulturen einen Vorbehalt gegen den Kontakt mit Unrat, der herkömmlich den Boden bedeckt; was mit den Füßen berührt wird, gilt als unrein, weswegen man bis zum heutigen Tag einer höhergestellten Person nicht die Fußsohlen zuwenden darf.
2. Haftpflichtmentalität
Bemerkenswerterweise schwand die Aufmerksamkeit für den Boden gerade dadurch, daß man ihn in den modernen Zivilisationen von Unrat, Unebenheiten, Gefahrenquellen befreite. Auf den zubetonierten Plätzen, asphaltierten Straßen und eisgeräumten Bürgersteigen reicht es aus, mit den Füßen – sozusagen mit den Hühneraugen – zu sehen. Überraschungen sind nicht zu erwarten, selbst nachts darf man im städtischen Restlicht Trittsicherheit erwarten. Wer doch mal strauchelt, delegiert die Verantwortung für die geminderte Bodenwahrnehmung an die Haftpflichtversicherungen.
3. Der genormte Fuß
Zivilisatorische Komfortsteigerung erfüllte sich vor allem im Schuhwerk für jedermann, das Hühneraugen wachsen ließ. Rutschfeste Sohlen, stabilisierende Stoß und Druck dämpfende Einlagen neutralisierten das Gespür für den Boden. Dennoch: Gegenwärtig öffnet sich der Blick für den Boden wieder, – weil die Vermüllung der städtischen Räume die Hygiene- und Ästhetikstandards der Zivilisation in Frage stellt, – weil die flächendeckende Bodenversiegelung die Ökosysteme beeinträchtigt, – weil Mediziner erkannten, daß die Fußreflexe durch differenzierten Bodenkontakt nicht nur für die leibliche Gesundheit unverzichtbar sind, sondern auch für geistige Wachheit und Beweglichkeit. Generell ist zu beachten, daß zivilisatorische Bewegungen zur Vereinheitlichung und Uniformierung aus sich selbst heraus Gegenbewegungen erzeugen; in unserem Falle führt die Gegenbewegung zur Differenzierung der Wahrnehmung des Bodens durch Gestaltung. Diese Tendenz macht sich im Innenraumdesign bemerkbar. Nachdem die Raumproportionen, die Decken und Wände, wie auch die Klimaökonomie im Vordergrund im Vordergrund des Architekteninteresses standen, gilt die verstärkte Aufmerksamkeit jetzt wieder den Böden. Dafür sind offensichtlich Teppichdesigns besonders geeignet, wenn die Designkonzeptionen die kulturelle Würdigung menschlicher Bodenhaftung mit Komfortoptimierung und sinnlicher Stimulation verbinden. Wie scheinen uns Wahrnehmungen des Bodens wieder zu nähern, wie sie in der Antike und im Mittelalter bereits vorherrschten, als man kosmische Muster, Weltmodelle und die Ornamente der Schöpfung auf dem Boden abbildete. Jede Epoche favorisierte ein Wahrnehmungssegment von Wohnungen, Palästen, Kirchen in besonderer Weise: Die Gotik favorisierte das Lichtbild aus farbigem Fensterglas, wodurch die Wände der Kathedralen virtualisiert wurden; der Barock favorisierte die Raumdecken, der Klassizismus die Raumproportionen. Da wir offensichtlich mehr und mehr Lebenszeit in künstlichen Räumen verbringen, in Raumkokons, die wir zum Kontakt mit der Außenwelt nur noch selten verlassen müssen, weil wir mit ihr elektronisch kommunizieren können, wird nun auch die Wahrnehmung der sechsten Raumhülle, also die des Bodens, zur gestalterischen Aufgabe.
Zu den Vorreitern in diesem Bereich gehört Vorwerk, eine Produktionsgemeinschaft, die Teppiche wachsen hört wie unsereiner das Gras in Fußballstadien. Einen neuen Trend setzt die Firma gerade mit der Flower Edition. Blumen, ach Luise, meine schöne staubsaugende Gärtnerin im paradiesischen Heim, Blumen sind ein weites Feld – es gibt Sternblumen und Eisblumen, Marienblumen, Blumen am Wegesrand; seit den 60er Jahren rückte flower power bewaffneten Mächten in die Knopf- und Gewehrlöcher, und die Sprache der Blumen treibt nächtliche Cargojets um den Erdball. Wir wählen für unsere Kulturgeschichte der Bodenwahrnehmung je einen Entwurf aus der aus der Flower Edition, um die Welt zu unseren Füßen in zwölf Themenfeldern darzustellen. Wir wollen versuchen, damit wieder zu würdigen, was wir so unbedacht mit Füßen zu treten pflegen, nämlich die Welt zu unseren Füßen – sei sie nun Naturwerk oder Kunstwerk oder Vorwerk.
Den Boden im Blick: Naturwerk – Kunstwerk – Vorwerk
1. Im wörtlichen Sinne sind dem Boden die Bewegungsspuren der Menschen eingeschrieben, die im übertragenen Sinne als Lebenswege, als lines of grace and beauty, Gestalt gewinnen, wie z. B. in den Labyrinthen, die man in Kathedralböden schrieb oder als Lebensräume wie in der Kathedrale von Otranto. Ausgangsdesign aus der Flower Edition ist Paul Wunderlichs Motiv der floralen Ranke. (ab Seite 5)
2. Bei herbstlichen Wanderungen durchs Gelände wird den meisten Zeitgenossen das den Boden bedeckende abgefallene Laub zur unmittelbaren Erfahrung des Jahreszeitenwandels. Dieses Motiv des Zeitwandels in der Bodenwahrnehmung gibt uns der Künstler Philip Taafe mit seinem Design des Herbstlaubs vor. (ab Seite 27)
3. Marcello Morandinis Designs für die Flower Edition verweisen auf den Topos der Augentäuschung in der Bodengestaltung, d.h. der Veranlassung des intellektuellen Vergnügens, eine Täuschung zwar zu durchschauen, sie aber nicht außer Kraft setzen zu können. Solche Trompe l'œil-Effekte sind seit der römischen Antike (Bodenmosaike mit dem Motiv von Speiseabfällen) durch unsere gesamte Kulturgeschichte nachweisbar. (ab Seite 45)
4. Von den Augentäuschungen heben sich die Gestaltungsprogramme ab, die wir dem Topos unsicherer Boden zuordnen. Bei Ihnen geht es nicht um das Vergnügen des Spiels mit Täuschungen, sondern um die Identifizierung realer Erfahrungen, wie sie Wanderer im Moor, bäuerliche Kultivatoren oder Fallensteller machen. Das Design der Künstlerin April Greiman für die Flower Edition spielt mit dem Verhältnis von Realitätserfahrung und Bildvorstellung. (ab Seite 63)
5. Teppichdesigns sind durch ihr Strukturprinzip des Rapports hervorragende Beispiele für das Gestaltungsmuster pars pro toto. Einen Teil für das Ganze zu nehmen oder in einem kleinen Teil ein Ganzes repräsentiert zu sehen, lehrte uns als Kinder das märchenhafte Bild vom Wald als Welt. Zudem haben wir gelernt, zum Beispiel Joseph Beuys' Aktion „den Wald ausfegen“ als pars pro toto seiner Bemühung zu verstehen, den gesellschaftlichen Lebensraum zu reinigen, um den durch Gleichgültigkeit und Mutwillen verwüsteten sozialen Raum wieder in Ordnung zu bringen. Von Klaus Fußmanns Vorgaben lassen wir uns bei unserer Erinnerung an die Wahrnehmung von Bodensegmenten als Beispiel für eine ganze Landschaft leiten. (ab Seite 89)
6. Wir erinnern uns an Dürers „Rasenstück“ als eine Welt im Kleinen, die vor Dürer weder wahrgenommen, noch für bildwürdig gehalten wurde. Die Prinzipien „micro“ und „macro“ korrespondieren mit dem Prinzip „pars pro toto“, unterscheiden sich aber von ihm deutlich. Die Mikrowelt ist eine ganze komplexe Welt in Einheit, sie steht nicht nur für ein großes Ganzes. Einen solchen Mikrokosmos präsentiert Rosemarie Trockel mit ihrem Motiv der sich paarenden Schnecken, also von Lebewesen, die in sich selbst alle Merkmale des Lebens auf allen Entwicklungsstufen repräsentieren. (ab Seite 109)
7. und 8. Robert Wilson demonstriert in seinen Entwürfen für die Flower Edition zwei deutlich unterscheidbare Ikonographien der Rose: die Rose als Attribut der Venus in der säkularen Bilderwelt von Sinnlichkeit als zwischenmenschlichem Attraktor und die Rose als Attribut Marias im Kontext der christlichen Bildwelt. Die venusische Rosa deflorata verbreitet ihr sinnliches Odium noch in Darstellungen wie Manets „Frühstück im Freien“. Die historischen Beispiel für die marianische Rosa mystica lassen sich in der Bildtypik „Maria im Rosenhag“ gut identifizieren. (ab Seite 129 bzw. ab Seite 145)
9. Nicht erst die Romantiker begaben sich auf die Suche nach der Blauen Blume. Schon Kräuterfrauen und Schamanen folgten ihrer Phantasie der unüberbietbaren Schönheit und Vollkommenheit in der Natur. Jeff Koons geht mit seinen Flower-Motiven diesen Phantasien nach, um uns die Naivität zurückzugewinnen, in den Naturformen die unüberbietbare Vorgabe für die kulturelle Gestaltung des Schönen wiederzufinden. (ab Seite 157)
10. In der Kulturgeschichte spielt die Wahrnehmung des Bodens als Oberfläche der Erdtiefe eine besondere Rolle (z. B. für die Erdbestattung oder die Vorstellung einer höllischen Unterwelt, der Welt des feurigen Magmas). Seit die Kugelgestalt der Erde ins allgemeine Bewußtsein drang, wir die Welt jenseits der Gräber sogar ausgedehnt auf die Gestalt der Antipoden, unseren Wiedergängern auf der anderen Seite der Erdkugel. Dadurch gewannen Denkfiguren wie die Auferstehung der Toten einen neuen weltlichen Sinn. Kazue Yoshikawa-Miyates Motiv der Flower Edition bietet Gelegenheit, diese vielfältigen Vorstellungen des irdischen Jenseits in Erinnerung zu rufen. (ab Seite 177)
11. Von den höfischen Damengärten bis zu den Zaubergärten von Robert Wilson in der Orangerie zu Herrenhausen ist die Kette der Paradies-Darstellungen irdischen Daseins geknüpft. Immer galten diese Weltgärten als magische Beschwörung himmlischer Paradiese. Selbst in den Feriencamps des Club Mediterrané klingt das Bemühen nach, säuisches Wohlleben und himmlisches Wohlgefallen aufeinander zu beziehen. (ab Seite 199)
12. Wer je San Marco in Venedig betrat, bemerkte die Intarsierung des Kathedralenbodens durch die Gestalterdynastie der Kosmaten. Deren Programme versuchten, den Boden als Projektionsfläche sphärischer Ordnungen in kosmischen Räumen auszuweisen. In der Gestalt der Sterntaler kommt der Himmel auf die Erde herab. Die Erdoberfläche als Spiegel des Himmels bestimmt auch den Topos des nazißtischen Spiegels. Heute diskutiert man, ob nicht mit dem Einschlag kosmischen Gesteins auf der Erde die Keime allen Lebens in unser System eingebracht wurden. Rosemarie Trockels Flower-Design leitet uns an, den Boden als Sphärenprojektion zu erleben. (ab Seite 215)