Buch Visionen und Lösungen

Dokumentation der Wirus-Werkstatt-Gespräche 1993

Erschienen
01.01.1993

2. Der Künstler als Problemfindungsexperte

Lange galten Künstler als Kreative schlechthin. Es gelang ihnen immer wieder, neue Bildzeichen für bekannte, z.B. biblische Texte zu finden. Wie machten sie das? Indem sie die Zuordnung von Bild und Text, von Anschauung und Begriff generell zum Problem werden ließen, anstatt zu behaupten, sie könnten zu jedem Text die optimale, eindeutige Bildentsprechung liefern. Sie behaupteten nicht länger, für jeden Inhalt eine hundertprozentig übereinstimmende Form zu finden, sondern wurden schöpferisch durch die grundsätzliche Thematisierung des Verhältnisses von Inhalt und Form. Wo die Alltagsmenschen mit konventionell starren Beziehungen von Anschauung und Begriff, von Denken und Zeichengebung operierten und meinten, daß ein Problem der Kommunikation gelöst sei, wenn man sich nur richtig in Worten und Bildern ausdrücken könne, entdeckten die Künstler, daß mit jeder angeblichen Problemlösung nur wieder neue Probleme entstehen.

Heute ist diese Erkenntnis der Künstler in allen Handlungsbereichen verbreitet. Der Bau von Atomkraftwerken als Lösung des Energieproblems hat neue, sogar größere Probleme zur Folge; die Rationalisierung in der Produktion verstärkt das soziale Problem der Arbeitslosigkeit etc. In der europäischen Kunstgeschichte seit der Renaissance wurde dieser Sachverhalt immer schon gesehen, weshalb die Geschichte der Künste eine Geschichte der Problemfindung ist. Die einzelnen Künstler gelten als umso bedeutender, je weniger ihre Nachfolger behaupten konnten, die Problemstellungen ihrer Vorgänger tatsächlich gelöst zu haben. Einen Höhepunkt dieser Problemfindungen durch Künstler stellen die sogenannte monochrome Malerei oder die Konzeptkunst dar. Dem Alltsgsmenschen fällt es schwer, die künstlerische Leistung zu akzeptieren, die darin liegt, die Unterscheidung einer weiß-monochromen Papierfläche von der weißen Wand, auf der sie in einer Galerie hängt, zum Thema der künstlerischen Operation zu machen. Weil es den meisten Laien nicht gelingt, in dieser subtilen Unterscheidung monochromer Flächen ein Problem zu sehen, halten sie die monochrome Malerei für bedeutungslos. Generell ist uns alles bedeutungslos, was wir nicht zum Thema machen können, sei es, daß uns Probleme nicht interessieren, weil sie nicht die unseren sind, sei es, daß wir uns durch Konventionen davor schützen, etwas für selbstverständlich Gehaltenes problematisch werden zu lassen. Thematisieren, also problematisieren zu können, ist die Bedingung der Möglichkeit, sich etwas Neues einfallen zu lassen.