Magazin Ballett international – Tanz aktuell

Erschienen
1994

Verlag
Friedrich Berlin Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
8/9 1995

Kulturelle Identität ist Fiktion.

Auszug aus einem Interview mit Martina Leeker und Lambert Blum

Die Internationalität der Ballettgruppen in der Nachkriegsgeschichte entstand durch einen simplen ökonomischen Faktor. Schon ab 1960 stammte ein Großteil der Ballettänzer aus dem nichteuropäischen Ausland, weil die Europäer – vor allem die Deutschen und Schweizer – nicht mehr bereit waren, für den Hungerlohn zu arbeiten, zu dem Ballettänzer am Theater angestellt wurden. Die Internationalität der Programme und der dramaturgischen Konzepte ergab sich schlichtweg daraus, daß den Regisseuren einfach nichts mehr einfiel. Wir zehrten zwar noch von der Ausdruckstanztradition, dem klassischen Ballett und gewannen neue Formen hinzu, die in den Sechziger Jahren aus den Happenings oder aus dem Neo-Dada-Kontext, von Stockhausen und der Fluxusbewegung und in Amerika von Merce Cunningham und Martha Graham entwickelt wurden. Da die Dramaturgen aber keine neuen Ideen erarbeiteten, haben sie sich kurzerhand der ver schiedensten kulturellen Ausdrucksformen bedient. Es handelt sich schlicht um die Ausbeutung der Fremdheit als Attraktivität auf der Bühne. Die Regisseure müssen etwas Attraktives bieten, und das Fremde ist per se attraktiv. Also durchsetzte man die Programme mit Verweisen auf irgendwelche vermeintlich indischen, asiatischen, afrikanischen Traditionen. Das Publikum konnte diese Fremdheit nicht nur als Willkür des Regisseurs, sondern als "authentische" Andersartigkeit bestaunen. Doch Manifestationen fremder Kulturen waren gerade nicht auf bühnengemäße Vorführungen, sondern ursprünglich auf Demonstrationen in kultischen, rituellen und sozialen Kontexten angelegt. Sobald man diese aus den Lebensformen, in denen sie zunächst gestanden hatten, herausnahm und als Kunstveranstaltung auf die Bühne brachte, kam es zur Folklorisierung. Und das ist bis heute so geblieben.

Auch Pina Bauschs Wuppertaler Truppe setzt sich aus Angehörigen aller möglichen Nationen zusammen. Das erleichtert es den Bühnen-, Masken- und Kostümbildnern natürlich, eine auf der Bühne auftretende Figur mit einer gewissen Aura oder Attraktivität zu umgeben. Denn diese Tänzer brachten schon mit, was sonst den Leuten auf der Bühne erst angeschminkt oder ihrem schauspielerischen Können abverlangt werden mußte. Gleichzeitig hat das allerdings auch die Kunstfertigkeitsansprüche reduziert, denn wenn die Akteure auf ihre natürliche Attraktivität zurückgreifen, wird der Grad der Künstlichkeit reduziert. Alle vergleichbaren Truppen tendieren irgendwann zu einer bloßen Vorführung ihrer exotischen Diversität. Ihr Schicksal ist es, in der Folklore zu versanden. Ihr Tun wird so manieristisch und aufgesetzt wie jede Folklore, wie jede kulturelle Identität selbst.

Ein großes Problem besteht darin, daß in vielen Ländern ein "Kunst"-Begriff überhaupt nicht entwickelt wurde. Menschliche Ausdrucksformen waren vielmehr im rituellen Gebrauch oder in sozialen Kontexten angesiedelt. Das galt auch für Europa, wo es bis ins Hochmittelalter keine "Kunst"-Formen gab. Hans Belting hat in seinem Buch Bild und Kult den Gebrauch und den Aufbau von Gemälden im Bereich der Bildenden Künste in der Zeit "vor der Kunst" dargestellt.

Wenn man historische Traditionen plötzlich in einer dekorativen Art und als Kunst auf der Bühne vorführt, zerfällt der religiöse, weltanschauliche und soziale Zusammenhang, aus dem diese Figuren verständlich waren. Sie wurden vielmehr formalisiert und szenischer Dramaturgie unterworfen, um sie als Kunstanstrengung zu kennzeichnen. Als nicht-künstlerische Formen haben sie keine eigene Dramaturgie, sondern folgen einer inneren Logik der Erzählung, aus der sie hervorgingen oder den Funktionen, denen sie dienen. Solche Kunstproduktion kann daher nicht als Hinweis auf die kulturellen Traditionen, auf die kulturelle Identität ihrer Ursprungsgesellschaften gelten. Um so erstaunlicher, daß die Truppen ständig behaupten, sie würden der kulturellen Identität jener asiatischen, afrikanischen, indischen etc. Kultur, deren Bestandteile sie auf der Bühne beliebig verwursten, zum Ausdruck verhelfen. Das bedeutet allerdings, daß die kulturellen Identitäten gerade nicht sind, was alle gerne glauben möchten: ausgrenzbare Einheiten nicht miteinander vereinbarer Formen.

In der Kunst ist die Aufrechterhaltung kultureller Identität nicht haltbar. Denn Kunst stellt ja gerade eine Form der Überwindung von regionalen, religiösen, ethnischen, rassischen oder Sprachgemeinschaften zugeordneten kultischen Handlungen dar. Kunst war von vornherein eine universale Sprache. Im 19. Jahrhundert wurde sie allerdings weitgehend den nationalstaatlichen Ambitionen unterworfen, die Resultate sind uns hinlänglich bekannt.

Die Begriffe Nation, gar Kulturnation, Volk gehen samt und sonders auf Erfindungen der Künste und Geisteswissenschaften zurück.
Die Widerstandskraft gegen die radikale Ziviliserung der Minderheiten nach einheitlichen Standards und Regeln bezogen Preußen und Russen, Engländer und Spanier aus den von Künstlern entwickelten Vorstellungen, mit Bauten und Märchen, mit Heldengesängen und regionalen Lebenspraktiken kulturelle Identität beweisen zu können. Der kulturell legitimierte Nationalstaat war ein Postulat jenseits aller historischen Wahrheit, eine kontrafaktische Fiktion. Die Nibelungentreue und die Wagnersche Götterdämmerung, das Walten der Walküre und der heroische Kampf Siegfrieds gegen das blinde Schicksal, sprich gegen die universale Zivilisation, in der die Götter und Helden, die Rassen und Völker, die Kulturreligionen und ihre Traditionen schließlich untergehen müssen, waren bis in die Mitte unseres Jahrhunderts jederzeit aktualisierbare Beschwörungsformeln und Handlungsanleitungen in den Kulturkämpfen mit ihren Höhepunkten im Ersten und Zweiten Weltkrieg und ihren kaum minder greulichen Nachwehen der Konflikte in Jugoslawien, Rußland oder auf dem afrikanischen Kontinent.

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