Magazin Ballett international – Tanz aktuell

Erschienen
1994

Verlag
Friedrich Berlin Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
8/9 1995

Hominisierung statt Humanisierung

Eine gewisse begründete Hoffnung liegt darin, daß die verschiedensten Kultur- und Naturwissenschaften mit einem Arbeitsprogramm Kulturgenetik uns allen langsam zu zeigen vermögen, welchen Logiken wir folgen. Denn was wir uns als kulturelle Leistung zuschreiben, ist nichts anderes als die Logik unserer sozialen Natur. Was wir im besten Sinne und beim besten Willen bisher als humanistische Überwindung der Naturlogik – also unserer tierischen Natur – verstehen möchten, haben wir in den bisherigen Kulturen nicht einmal andeutungsweise erreicht. Bevor wir uns jedoch wieder gut gemeinten, aber bisher haltlosen Humanisierungskonzepten zuwenden, sollten wir uns dazu überwinden, uns zu hominisieren, d. h. zu erkennen, daß wir ein evolutionäres Produkt der Natur sind und das unter Bedingungen, die wir nicht uns selber verdanken und die wir nicht durch eigene Setzungen aufgeben können.

Hominisierung statt Humanisierung, das heißt anzuer kennen, daß sich z. B. unsere Kulturkämpfe in nichts von den Auseinandersetzungen tierischer Lebensgemeinschaften unterscheiden. In diesem Sinne müßten wir anzuerkennen lernen, daß auch Tiere eine Natur des Sozialen, also eine Kultur haben. Hominisierung statt Humanisierung heißt, endlich zur Kenntnis zu nehmen, was uns seit den großen Aufklärern des 18. Jahrhunderts schon zu erkennen möglich ist, aber im 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung der homogenen Kulturnation und ihres politischen Ausdrucks wieder verloren ging. Und das heißt zu erkennen, wie ungeheuer gering der Grad unserer Freiheit genetisch und funktionslogisch ist.
Zivilisierung basiert auf der Hoffnung, daß wir zu akzeptieren lernen, auch nur Menschen wie alle anderen Menschen zu sein.

Jetzt gilt es, die Anerkennung unseres Selbst als Produkt der Naturevolution anzuerkennen. Hoffen wir, daß wir zu dieser realistischen Einschätzung nicht erst kommen, wenn im Namen höchster kultureller Werte die Natur der Menschen im Tode vernichtet ist.