Magazin Ballett international – Tanz aktuell

Erschienen
1994

Verlag
Friedrich Berlin Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
8/9 1995

Weltzivilisation versus Fiktion kultureller Identität

Die Fiktionalität der kulturellen Identität ist überall auf der Welt mit Händen zu greifen. Leider ist das Angebot, auf – wenn auch wahnhafte – kollektive Zugehörigkeit zurückzugreifen, für die meisten Menschen sehr verlockend, weil sie nicht die Kraft aufbringen, sich als Individuen zu behaupten.
Das Individuum bringt sich erst mit dem Verlassen der kulturellen Bedingtheit zur Geltung. Es überwindet die kollektive Prägung durch eine Traditionswelt, aus der es nur zufällig stammt. Individualität definiert sich gerade durch ein reflexives Verhältnis zu den eigenen physiologischen, kulturellen und familiären Bedingtheiten, also durch die Fähigkeit, zwischen den eigenen Vorlieben und den Vorgaben durch den Druck der Gruppenzugehörigkeit zu unterscheiden. Erst solche Individualität zeichnet den Künstler aus.
Es muß Aufgabe der Kunst sein, die Selbstwahrnehmung entsprechend zu schulen, wenn sie einen aufklärerischen Wert haben soll. Die Werke eines Künstlers betrachtet man, weil seine Art, die Welt zu sehen und mit Lebens- und Kommunikationsbedingungen umzugehen, beispielhaft für die eigene Weltaneignung ist. Wenn Kunst eine Einheit des menschlichen Kommunizierens darstellt, richten sich alle Beteiligten nach den gleichen Standards künstlerischer Qualität. Folglich ist Vielheit nicht durchhaltbar. Wer aber auf multikultureller Vielheit besteht, erreicht keine Einheit.
Der Vorwand des Prinzips Multikultur, Traditionen von Minderheiten zu bewahren, ist insofern sinnlos, als Traditionen überhaupt nicht "bewahrt" werden können. Sie müssen jeweils aus der Gegenwart nach rückwärts neu aufgebaut werden. Es ist ein grundsätzliches Mißverständnis zu glauben, daß Traditionen aus der Vergangenheit wirken, denn sobald sie angeeignet werden, und das tun die Lebenden jeweils unterschiedlich, wandelt sich das, was tradiert wird.
Es kann folglich nur eine Kunst geben, so, wie es auch nur eine Wissenschaft (und nicht etwa eine deutsche und eine französische Physik) gibt. Jedermann gesteht dem Wissenschaftler zu, in erster Linie zur Gemeinschaft der Wissenschaftler und nicht mehr zur Gemeinschaft der Bantus oder Tutsis zu gehören. Da man davon ausgehen muß, daß jedes Individuum einem anderen fremd ist, muß man nicht erst kulturelle Identität als Begründung von Fremdheit anführen, sondern simple Kommunikationsprozesse. Es gehört zu den Erkenntnissen der Moderne, daß die Fremdheit der Menschen in dieser Welt grundsätzlich unüberbrückbar ist. Wie oft nutzen wir willentlich die Verfremdung zur Steigerung des Aufmerksamkeitswertes?!