Vortrag / Rede Symposium: Inszenierung und Vergegenwärtigung

Ästhetische und religiöse Erfahrung heute

Termin
25.07.1997

Veranstaltungsort
München, Deutschland

Theologen als Künstler

Folge ist, daß heute Theologen selbst als die peinlichsten Gestalten auftreten, die mit Tschingderassassa und ein paar Lichteffekten vor der Kanzel Modernität simulieren, indem sie die Disco in die Kirche holen. Diese Leute haben offenbar nie etwas gelernt – weder aus der Geschichte, noch aus der Kunst. Sie erweisen sich als völlig verfallen an die Hoffnung auf Wirksamkeit – mit dem Ergebnis, daß heute jeder Theologe glaubt, er sei ein Künstler, er erzeuge mit Licht, Gedudel und Gesang eine Wirkung bei seinen Klienten, wenn diese auf die Bänke springen, sich farbenfroh anziehen und als fröhliche Christen lustig spenden. Das ist das "Prinzip Wagner" in der Kirche, und dann sind wir wieder da, wo wir im 15. Jahrhundert angefangen haben, nur daß jetzt die Theologie die Kunst nachahmt, nachdem die Kunst sich mühsam aus den Fängen der Theologie befreit hat. Jetzt nämlich merken die Theologen: Donnerwetter, die Künstler haben’s: Licht, Kulisse, nacktes Fleisch, Swing, Rhythmus und schon gibt es Stimmung und Wirkung – da lebt die Bude, da sitzen nicht Leichen im Betstuhl, sondern vitale Menschen, mit denen man auf die Straße gehen und Multikultur und Sozialismus fordern kann: "Hier herrscht jetzt Friede, und wer nicht pariert, wird erschossen!"
Jetzt fangen die Theologen an, künstlerisch zu planen, ebenso die Ökonomen – aber wie gefährlich zu glauben, man müsse ein Produkt nur "inszenieren", damit sich seine Eigenschaften den Leuten auf eine Weise mitteilen, die Wirkung, nämlich den Kauf, erzielt. Auch politischer Wahlkampf ist nichts anderes, als mit künstlerischen Mitteln Wirkung zu erzeugen: die Bevölkerung so zu vitalisieren, daß alle denken: "Die haben aber jetzt einen einheitlichen Geist in ihrer Partei, auf die kann man sich wirklich verlassen und die Merkel zur Bundeskanzlerin wählen!"
Solche Vorstellungen hinken noch weit hinter mittelalterlichem Animismus her, sie sind weitaus primitiver als im Bereich der Kunst, denn die Künstler – wie am Beispiel von Delacroix, Wagner oder Thomas Mann demonstriert wurde – wußten immerhin selbst, was sie trieben, weil sie reflexiv arbeiteten.
Die Künstler haben nämlich gemerkt, daß man die Widerstandskraft der Utopie benutzen kann, um Wahrheit zu kritisieren, die Wahrheit unserer rein tierischen Existenz, unserer Kläglichkeiten, unserer Dämlichkeiten, unserer Beschränktheit im Leben, d.h. daß man Sozialismus als Konzept benutzen kann, um den Wahrheitsanspruch der Verwirklichung von Sozialismus zu kritisieren. Wer behauptet, er realisiere Sozialismus und gestalte die Welt nach Plan, als sei er der liebe Gott, der komplexe Organisationsprobleme spielend bewältigt, wird als Vollidiot kenntlich gemacht. Künstler können die Wahnhaftigkeit des Anspruchs kritisieren, in Sozialismus oder Humanismus mehr als nur eine Onaniervorlage von Intellektuellen zu sehen.