Vortrag / Rede Symposium: Inszenierung und Vergegenwärtigung

Ästhetische und religiöse Erfahrung heute

Termin
25.07.1997

Veranstaltungsort
München, Deutschland

Wagner: Werk als Wirkung

Hatte Delacroix bereits damit begonnen, die Selbstaufklärung des Künstlers im Gemälde Die Freiheit führt das Volk zu thematisieren, so begründete Richard Wagner ab etwa 1850/51 in seinen Regenerationsschriften sehr viel weitergehend, warum seine Tätigkeit nicht mehr als Werkschaffen ausgewiesen, sondern direkt in die Figur des Gesamtkunstwerks überführt wird. Was Helmholtz und andere mit dem Synästhesie-Begriff zu erläutern versuchten, demonstrierte er im Zusammenwirken von Musik und Malerei, Bühne und Tanz, Gesang und Literatur. In dieser stets gleichzeitigen Beanspruchung aller sinnlichen Aktionszentren der Menschen existiert das Werk gar nicht mehr als Werk im Sinne einer physisch materiellen Gestaltung, sondern nur noch als Summe der Kalküle der Wirkungen, die es erzielen soll. Das Prinzip Hollywood wird geboren, d.h. ein Werk ist nur noch insofern vorhanden, als es Wirkung erzielt. Schon Nietzsche hat diese Hollywood-Charakteristik an Wagner richtig eingeschätzt: schiere Oberflächlichkeit, schiere Banalität, die Unmöglichkeit, sich noch von der Oberfläche oder der Erscheinung her auf das Wesen oder in die Tiefe bewegen zu können – es gibt keine Tiefe, kein Wesen, sondern nur die Wirkung. Dahinter und darin steckt nichts anderes als die Mobilisierung des Publikums. Folgerichtig realisiert Wagner diesen modernen Typus des Werkschaffens in einem Ereignisort, an dem sich die Wirkungen entfalten: Bayreuth. Wie Nietzsche schon sagte: das Bedeutendste an Bayreuth sind die Teilnehmer der Festspiele, sie sind die Hauptakteure.
Wagner schafft damit etwas völlig Neues, und er richtet sich nicht etwa nur an einige wenige – hier ein paar Ungetröstete, und da ein paar Leute, die nur noch in der Oper weinen können – sondern er zielt auf den sozialen Körper im Ganzen, auf die Menschheit, auf die Gesellschaft. Mit einer Flut von Publikationen, den Bayreuther Blättern, beschickt er die von ihm selbst ins Leben gerufenen Wagner-Fanclubs. Die Wagner-Vereine sind die Begeisterungsgemeinschaften derer, die auf die gleiche Weise durch seine Musik zu höchsten Euphorien veranlaßt werden. Diese Öffentlichkeitsarbeit betrieb er mindestens so intensiv wie das Entwickeln von Dramen und Partituren.
Damit verschafft er sich einen Anspruch, als gesellschaftbewegende Kraft zu wirken – und zwar auf dieselbe Weise wie gleichzeitig die politischen Parteien, denn das, was Gesellschaft formiert, ist nichts anderes als eine bestimmte Art von Bewegung. Daher stammt denn auch dieser berühmte Ausdruck, der von den Nazis bis zu den Grünen solche Begeisterungsgemeinschaften trägt. Wagner erzeugt Bewegung in der Begeisterung, in der Begeisterungsgemeinschaft von Menschen, deren Beseeltheit eine objektive Kraft darstellt: Menschen, die von dieser Beseeltheit getragen sind, können Sie bei Langemarck ohne Waffen ins Feuer schicken und verheizen.
Alle Journalisten, Karikaturisten, gelehrten Musikkritiker, Minister und Kaiser wußten seit 1876: das gerade erst neu gegründete Deutsche Reich konnte es einfach nicht ohne Bayreuth geben, obwohl es sicher Bayreuth ohne das Reich gegeben hätte. Die eigentliche Reichsgründung fand in Bayreuth statt – selbst in finanzieller Hinsicht, denn das Festspielhaus wurde mit den Bestechungsmitteln aus dem Welfenfonds finanziert. Diese Gelder hatte Bismarck an Ludwig II. von Bayern zu zahlen, damit der König die Zustimmung zur Reichsgründung gab, die sonst nicht zustande gekommen wäre. Die Wechselbeziehung Bayreuth-Reich reicht bis in die jüngere Vergangenheit – Kaiser und Künstler, Fürsten und Führer, Parteivolk und Opernpublikum lassen sich zusammenfassen in den beiden wesentlichen tragenden Kräften der deutschen Reichsidee: Flottenvereine und Wagnervereine. Beide wurden getragen von der selben Art der Begeisterung und während die Flottenvereiniger bei Wagnermusik zur See fuhren, sah man den fliegenden Holländer in Bayreuth als Admiral Tirpitz mit seinem markanten Bart auftreten. Diese unheilige Allianz führt über Stalinismus, Hitlerismus, italienischen Faschismus und internationalen Totalitarismus bis in die Gegenwart, bis in die Symbiose von Mercedes Benz und den Künstlern, nur daß wir es nicht mehr mit solchen Kalibern zu tun haben, wie sie Wagner als Künstler oder Ludwig von Bayern als Mäzen darstellten. Die Fragestellung bleibt jedenfalls aktuell: Wie wird Kunst wirksam im Hinblick auf ein Publikum, das belebt, animiert, beseelt, bewegt, angetrieben, gemütsbestimmt, zu Tränen gerührt, zu Aggressionen auf dem Markplatz angestachelt werden soll?