Buch Kunst und Demokratie

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„Kunst und Demokratie – dieser Kontext scheint auf den ersten Blick kein Thema zu sein. Der Rechtsstaat, ohne den Demokratie nicht denkbar ist, schützt die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Kunst und Diktatur ist hingegen als Thema oft abgehandelt und in Ausstellungen präsentiert worden – als Außenansicht, aus der Sicht von uns Demokraten. Das hier gestellte Thema bedeutet Innenansicht jener Situation, in der wir leben. Was aber ist Demokratie - und wie selbstverständlich können wir sie für uns reklamieren?“ (Aus dem Vorwort von Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler)

Aus dem Inhalt: Angepasste Empörung - Über avantgardistische Kunst und politische Verantwortung in demokratischen Gesellschaften von Konrad Paul Liessmann, Die Demokratie der Künste von Gunter Damisch, Demokratie als Sache der Vielen, Kunst als Sache der Wenigen von Anton Pelinka, Gibt es eine politisch korrekte Kunst? von Thomas Zaunschirm, Menschenschwärze – Versuch über die Verachtung der Massen von Peter Sloterdijk, Das Sehen formen: Mondrians Lebens-Kunst-Utopie von Raimer Jochims, Zurückbiegen (Reflexion) und Umwerfen (Subversion) … von Elisabeth von Samsonow, Kunst und Krieg - Der verbotene Ernstfall von Bazon Brock.

Erschienen
1998

Herausgeber
Bohunovsky-Bärnthaler, Irmgard

Verlag
Ritter

Erscheinungsort
Klagenfurt, Deutschland

ISBN
3-85415-263-9

Umfang
192 Seiten

Einband
Taschenbuch

Vom säuischen Behagen in der Kultur

Dagegen gibt es natürlich Einwände. Zum einen meint man, diese Bodenlosigkeit führe zum reinen Egoismus in der Durchsetzung des eigenen Mutwillens, zum anderen zu einer Art Selbstadelung des Bürgers als heroischer Nihilist, der seine ganze Würde und Selbstachtung daraus bezieht, an nichts mehr zu glauben und keiner Zielsetzung mehr bedürftig zu sein. Zum dritten verweisen die Einwände darauf, daß die von Gott, Kaiser, Papst und Vater verlassenen Demokraten zu der falschen Schlußfolgerung kämen, daß alles gehe! Alles geht ja nur, wenn es geht. Wenn man aber erst ohne stützende Erfahrungen und Vorgaben anderer herausfinden will, was geht, könnte es schon zu spät sein. Und viertens schließlich behaupten die Kritiker, die bodenlosen Demokraten retteten sich in die psychologisch verständliche Auffassung credo quia absurdum: ich unterwerfe mich dem objektiv Unsinnigen, das ja gerade Sinn machen muß als nicht erfaßbarer Sinn. Demokraten würden zu spiritualistischen Irrlichtern, gefährlich durch ihren Zusammenschluß in Sekten, also mit Leuten, die sich gleichermaßen auf das Unvorstellbare, das Unsagbare, das Absurde verpflichten wollen.

Ich mache den Vorschlag, diese vom Individualisierungsdruck erzwungene Haltung als Mihilismus zu kennzeichnen, weder egoistisch aus bloßer Vorteilsnahme, noch mutwillig aus heroischem Nihilismus, sondern eigenverantwortlich ohne Legitimation durch das Beispiel anderer oder durch die Norm der Kollektive - Mihilismus des Ich-Menschen, der sich auf kein Du mehr verlassen kann.Als solche gelten die Künstler.

Aber auch sie kommen als Beispielgeber im Beispiellosen nicht mehr in Frage. Die wahren Helden der demokratischen Bodenlosigkeit sind die Bürger selbst. Zwar wird ihnen immer noch von Programm-Machern und Programm-Gestaltern, von Stars und Politprominenz, von Feuilletonintellektuellen angeboten, was in und out ist, was vermeintlich gilt, weil es viele bestätigen, und was Schnee von gestern sei, für den sich niemand mehr interessiert. Gerade diese röhrenden Hirsche, diese Kitschiers der Moderne als Refeudalisierung, als jedermann zugestandene fürstliche Willkür, buhlen vergeblich um Gefolgschaft. Sie suhlen sich im säuischen Behagen pathetisch deklarierter Egalité und Fraternité als Selbstverständlichkeit ihrer jeweiligen Stammeskultur: als Wagner-Gemeinde im Bayreuther Festspielhaus so gut wie als Hooligans in den Stadien, als parteilich organisierte Weltretter in politischen Korrektheitsbekenntnissen so gut wie als wettsaufende Ballermann-6-Klientel.

Aber dieser Terror der Selbstgewißheit, nicht einmal Gott, geschweige denn die Wirklichkeit zu fürchten, zeigt nur an, wieweit man den Anforderungen des Mihilismus bereits ausgesetzt ist, d.h., der Erfahrung von Ohnmacht der Macht in Demokratien, selbst wenn sie noch normative Handlungsanleitungen böten.

Der Demokrat lebt aus der Ohnmachtserfahrung und der Anerkennung der Wirklichkeit als das, worauf wir keinen Einfluß haben, auch wenn wir es noch Gott nennen und durch kultischen Umgang zu beschwören versuchen.

Wie ist eine solche Orientierung an der Ohnmachtserfahrung zu denken, Orientierung an der Erfahrung des Scheiterns?
Ich beschränke mich, weil ich sonst reihenweise in dieser Hinsicht nicht allzu bekannte künstlerische Beispiele vorführen müßte, auf ein Ihnen allen bekanntes Modell, das erst durch Karl Marx' Ausschreibung in seiner grundsätzlichen Bedeutung offenkundig geworden ist: "Proletarier, ihr habt nichts zu verlieren als eure Kette"; das vergegenwärtigt tatsächlich die frohe Botschaft des Neuen Testaments: für die Christen ist mit dem Kreuzestod Christi gesagt, daß das Ende als Drohung nicht vor uns liegt, also unsere Zukunftserwartung nominiert, sondern daß Christen immer schon den Untergang, die existenzielle Aufhebung im Tod ein für alle mal hinter sich haben. Das Ende ist nicht ein apokalyptisch bestimmter Endpunkt, sondern im Ende, im Scheitern erst liegt jeder Anfang.

Immerhin läßt sich in historischer Rückschau sagen, daß bisher vornehmlich Künstler, die ihre Sache auf die Erfahrung des Scheiterns gestellt haben, uns in dem Vertrauen, sich in der Bodenlosigkeit bewähren zu können, unter größtmöglicher Vermeidung von Risiken bestärkt haben.

Wenn ‚dies ist keine Pfeife‘ gilt, dann gilt: soweit auf normative Vorgaben nicht mehr legitimierend zurückgegriffen werden kann, verweist gerade das immer notwendig Fragmentarische, Häßliche, Bezweifelbare, Täuschende auf das anders nicht in Erscheinung tretende Ganze, die Schönheit, die Wahrheit. Gerade die als solche erkannte Lüge ist noch wahr, auch wenn man die Wahrheit nicht kennt. Das als solches empfundene Häßliche verweist noch auf die Schönheit, auch wenn ich mit Dürer nicht weiß, "was die Schönheit sei". Ein ausgezeichneter, weil mihilistisch kundiger Demokrat operiert also mit der Lüge als solcher, mit der Täuschbarkeit als unvermeidlicher, mit der Erfahrung der Bodenlosigkeit und Ohnmacht als verläßlichem Grund.

In diesem Sinne: lernt zu lügen mit den Dichtern, lernt zu täuschen mit den bildenden Künstlern, lernt zu balancieren mit den Akrobaten über dem Abgrund, die den hermeneutischen Zirkel spielend knacken: sie halten sich hoch oben auf dem schwankenden Seil fest an etwas, was sie selbst in Händen tragen.