Daß heute Alltagsmenschen zumindest im gleichen Maße ihre Individualität betonen wie zuvor klassische Tätertypen (Feldherren, Staatenlenker, Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler), entspringt nicht anmaßlicher Refeudalisierung der Gesellschaft, also der Behauptung: was früher den Fürstlichkeiten vorbehalten gewesen, stehe jetzt als Recht persönlicher Willkür jedermann zu. Der Verzicht auf die Letztbegründung durch den existenziellen Ernstfall läßt den Anspruch der Auctoritas, der Führung durch normative Vorgaben, hinfällig werden. Spätestens seit der öffentlichen Erörterung des Tschernobyl-GAUs in den Medien wissen beispielsweise alle Bürger, daß ihnen die noch so gut begründeten Kenntnisse von Physikern nicht die eigene Entscheidung, wie sie sich verhalten sollen, abnehmen. Im Gegenteil: die präsentierten Experten gaben die jeweils neuesten Becquerel-Werte für die Atemluft, für Wildbret, Pilze, Gemüse und dgl. mit dem unmißverständlichen Hinweis bekannt, daß aber jeder Bürger selbst Konsequenzen aus diesen Mitteilungen ziehen müsse. Die Bürger waren natürlich ratlos vor dieser Zumutung, denn sie konnten ja nicht vor jedem Verzehr erst ins Labor laufen und die Meßwerte erfragen. Und andererseits war es ihnen auch nicht möglich, generell auf die Nahrungsaufnahme zu verzichten. Schlimmer noch: Experten trafen sich widersprechende Aussagen, die aber alle gleichwertig waren, weil ihre Verfasser gleichermaßen wissenschaftlich ausgewiesen und damit legitimiert zu sein schienen. Wer sich da vorläufig um die Entscheidung drückte, um sich bei anderen umzuschauen, bei gewichtigen Funktionsträgern, deren Entscheidungen große Auswirkungen haben, also z.B. bei Richtern, erfuhr, daß auch diese vor dem gleichen Problem standen wie die Bürger. Auch der Richter kann seine Entscheidung nicht durch Aussagen von Experten legitimieren, weil es eben im Wesen der wissenschaftlichen Expertisen liegt, daß zu jeder Expertise mindestens eine gleich gut begründete Alternative besteht.
Der vielbesprochene Trend zur Individualisierung hat eben in dieser Bodenlosigkeit, in diesem nackten Voluntarismus der Entscheidung, die jeder selbst verantwortlich zu treffen hat, seinen Grund - auch wenn diese Individualisierung häufig in Verhaltensweisen zutage tritt, die man als schiere Mutwilligkeit kennzeichnen möchte.
Soweit die Bürger objektiv nicht in der Lage sind, die Verpflichtung zur Selbstverantwortlichkeit einzulösen, hält die Gesellschaft, um existenzielle Vernichtung der Individuen zu vermeiden, etwa Einrichtungen des sozialen Netzes bereit. Diese Ausformung des verbotenen Ernstfalls kann zu Recht für sich in Anspruch nehmen, auch gegen den Willen der Individuen wirksam zu werden - etwa in der Verhinderung von Selbstmorden oder der Selbstverstümmelung. Risiken dieses Vorgehens liegen auf der Hand: Allzuviele werden dazu verführt, sich selbst zu existenzgefährdeten Opfern sozialer, politischer oder kultureller Gegebenheiten zu machen, um der Fürsorge, erzwungen durch das Gebot des zu vermeidenden Ernstfalls, teilhaftig zu werden.
Es kennzeichnet das Selbstverständnis von Demokratien daß jeder für seine Entscheidungen selbst einstehen muß und Verantwortlichkeit nicht delegieren kann, obwohl ihm kein verläßlicher Halt durch Normativität geboten wird. Gegen diese Haltlosigkeit, diese Bodenlosigkeit ohne Letztbegründung richten sich denn auch immer erneut die großen Vorbehalte gegen demokratische Verfaßtheit.