Buch Kunst und Demokratie

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„Kunst und Demokratie – dieser Kontext scheint auf den ersten Blick kein Thema zu sein. Der Rechtsstaat, ohne den Demokratie nicht denkbar ist, schützt die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Kunst und Diktatur ist hingegen als Thema oft abgehandelt und in Ausstellungen präsentiert worden – als Außenansicht, aus der Sicht von uns Demokraten. Das hier gestellte Thema bedeutet Innenansicht jener Situation, in der wir leben. Was aber ist Demokratie - und wie selbstverständlich können wir sie für uns reklamieren?“ (Aus dem Vorwort von Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler)

Aus dem Inhalt: Angepasste Empörung - Über avantgardistische Kunst und politische Verantwortung in demokratischen Gesellschaften von Konrad Paul Liessmann, Die Demokratie der Künste von Gunter Damisch, Demokratie als Sache der Vielen, Kunst als Sache der Wenigen von Anton Pelinka, Gibt es eine politisch korrekte Kunst? von Thomas Zaunschirm, Menschenschwärze – Versuch über die Verachtung der Massen von Peter Sloterdijk, Das Sehen formen: Mondrians Lebens-Kunst-Utopie von Raimer Jochims, Zurückbiegen (Reflexion) und Umwerfen (Subversion) … von Elisabeth von Samsonow, Kunst und Krieg - Der verbotene Ernstfall von Bazon Brock.

Erschienen
1998

Herausgeber
Bohunovsky-Bärnthaler, Irmgard

Verlag
Ritter

Erscheinungsort
Klagenfurt, Deutschland

ISBN
3-85415-263-9

Umfang
192 Seiten

Einband
Taschenbuch

Orientierung auf Scheitern als Strategie

Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts mußten militärische Operationen generell am verbotenen Ernstfall geeicht werden, d.h. bei jeder strategischen Entscheidung mußte der Feldherr von vornherein das Scheitern seiner Mission einkalkulieren, um die ungewollten Folgen abschätzen zu können. Wer sich hingegen vermessen am vorgesehenen Erfolg orientiert, rechnet gerade nicht mit dem Gegner, der die gleichen Absichten wie man selbst verfolgt. Die eigentliche Leistung der Strategen besteht darin, das Nichtaufgehen des eigenen Kalküls und vor allem den Erfolg des Gegners in Rechnung zu stellen. Nichts ist für den militärischen Führer gefährlicher als eine Reihe gewonnener Schlachten, durch die, als Pyrrhus- Siege, das Gespür für die Gefahr des Scheiterns verloren geht. Militärisch strategisches Denken mußte sich daher stets darin bewähren, gerade beim Verlust einzelner Schlachten die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern (das wußten z.B. die preußischen Generalstäbler, die Hitler durch die Etablierung des Oberkommandos der Wehrmacht ausschaltete. Nicht zuletzt scheiterten Hitler und seine Paladine von Halder bis Keitel an der Risikoblindheit aufgrund der Serie von gigantischen Schlachterfolgen im Rußland der Jahre 1941/42).

Ebenfalls seit Anfang des 19. Jahrhunderts orientierten sich die kritikfähigen Künstler am neuen Paradigma des Verbotenen Ernstfalls. Deshalb führte Schiller die Kategorien des ästhetischen Scheins oder des Spiels in die Kunsttheorie ein, um konkretes Handeln in der Sphäre der Bühne oder der Öffentlichkeit zu legitimieren. Das Spielen kennzeichnet gerade die Vermeidung des irreversiblen Ernstfalls. Kunstpraxis wurde so generell als ein Handeln bestimmt, das sich durch Vermeidung von unwiderrufbaren Folgen auszeichnet. Pointiert heißt das: der Grad der Folgenlosigkeit bestimmt den Rang eines Werkes.

Auf die Spitze trieb diese Bestimmung René Magritte mit seinem berühmten Hinweis, die gemalte Pfeife sei eben keine reale Pfeife. Das Gemälde leiste gerade die Thematisierung der Differenz von Gegebenheit eines Faktums und seiner jederzeit revidierbaren Geltung.

Das ist auch der Kernpunkt der gesamten Diskussion zu Kunst und Demokratie: Es geht nicht mehr um die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, oder zwischen moralisch und unmoralisch etc., also nicht um das Ergebnis einer Entscheidung, sondern um die Begründung eines Anspruchs. Wer etwas durchzusetzen hat, braucht Sanktionsgewalt, d.h., derjenige, der einen Anspruch erhebt, muß sich in der Demokratie durch Wahl, durch Approbation, Promotion, Delegation, Verkaufszahlen oder Einschaltquoten legitimieren. Im Unterschied zu den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft, Militär und Medizin definieren sich aber Dichter und Künstler in ihrem Aussagenanspruch gerade nicht durch Zustimmung Dritter, im Gegenteil: sie bestehen darauf, "von keinem Volk getragen" zu werden, d.h. nicht durch Einschaltquoten, Verkaufserfolge oder Diplomierung ihren außerordentlichen Aussagen Geltung zu verschaffen. Damit verzichten sie ausdrücklich auf Anrufung einer Sanktionsgewalt. Jeder darf und kann den Besuch von Museen und Galerien straflos vermeiden (strittige Ausnahme sind Architekturen und Skulpturen im öffentlichen Raum, soweit die Konfrontation mit ihnen jedermann aufgezwungen wird).

Aber auch Künstler fallen immer wieder in die Legitimation ihres Tuns durch Anrufung des existenziellen Ernstfalls zurück.
Der Poète maudit, der radikale Dichter, schüttete sich mit Kannen von Kaffee und Litern von Wein pro Tag zu, stopfte sich mit Rauschgift voll oder holte sich absichtlich Syphilis, Aids als heutige Entsprechung, um am existentiellen Ernstfall seiner Person die Glaubwürdigkeit seines Werkes zu demonstrieren. Dramatische Beispiele bieten dafür in der jüngsten Vergangenheit etwa Janis Joplin, Sid Vicious oder Kurt Cobain.

Wenn KünstlerInnen heute chirurgische Eingriffe an sich vornehmen lassen - ob zum Vorteil des Äußeren oder nicht - und dies als Carnal Art ausweisen, ist das eine letzte Zuckung im Aufbegehren gegen das Ernstfallverbot, allerdings schon mit den Einschränkungen der modernen Versicherungsgesellschaft: denn die Fleisch- und Blutkünstler verlassen sich darauf, aus der Narkose wieder aufzuwachen und darauf, daß die ihren Körper plastisch gestaltenden Chirurgen über Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, wie sie vor Gericht als state of the art einklagbar sind.

Immer wieder glauben minore Begabungen, ihre literarischen Basteleien durch offensives Zurschaustellen existenzieller Betroffenheit überhöhen zu können: Beim Wettbewerb um den Bachmann-Preis in Klagenfurt entblödete sich jemand nicht, während der Lesung seiner Texte seine Stirn mit einer Rasierklinge zu ritzen, um durch das fließende Blut die Blutleere seines Wortspiels zu kompensieren. Immerhin ist das Gros der Zuschauer solcher unzivilisierten Manifestationen kultureller Größe in der Lage, diesen Rückfall in die Eichung am existenziellen Ernstfall als bestenfalls unterhaltsam einzuschätzen.